Rot ist Romeos Lieblingsfarbe. Juliet mag lieber ein sattes Braun. Zuhause und bei Veranstaltungen tunken die beiden Pintos Pinsel in Farben und auf Leinwände. Ihre Werke heißen „Lilienfeld“ oder ein „Tag am See“ und verkaufen sich bestens. Doch aufs Geld kommt’s weder dem Pintopärchen noch ihrer Besitzerin Cheryl Ward an. Das Malen hilft den Pferden, ihre schlimme Vergangenheit zu verarbeiten.
Auf den folgenden Seiten lesen Sie, warum und wie Maltherapie wirkt und worauf es dabei ankommt.





Romeo: Wie ein verwirrter 8jähriger das Malen entdeckte
Da war Romeo acht und alles andere als ein zärtlicher Verehrer. „Alles, was ich in meinem langen Reiterleben über Pferde gelernt hatte, funktionierte bei ihm nicht“, erinnert sich Cheryl. „Bei sieben Vorbesitzern hatte er acht Jahre lang Zeit, allerlei Fertigkeiten zu entwickeln.“ Zum Beispiel durchzugehen, wenn er anhalten sollte.
Cheryl dokterte lange herum an ihrer Beziehung zu Romeo. Doch erst ein Treffen mit Vogeltrainerin Cassie Malina (siehe Interview) öffnete ihr die Augen: Sie musste Romeo Flügel wachsen lassen. Als Cheryl das erkannte, sprachen Romeo und sie endlich die selbe Sprache. „Mein verwirrter Achtjähriger hatte sein Leben lang nicht verstanden, was die Menschen von ihm wollten“, weiß Cheryl heute. „Weil er nur durch Druck manipuliert wurde, war er völlig verunsichert.“ Romeo brauchte eine Person, die ihn mit vielen Leckerli bestärkte, wenn er etwas richtig machte. Und die ihn nicht ansprang, wenn was falsch war.
Nach eineinhalb Jahren hatte sich Romeo zu einem völlig neuen Pferd gemausert. „Er, der mich zuvor nicht seine Ohren anfassen ließ, vergrub plötzlich seinen Kopf in meinen Armen“, erinnert sich Cheryl. Der Wallach, der aus Angst vor dem Gebiss seinen Mund nicht mehr aufmachte, hob beim Reiten Cheryls Helm auf und reichte ihn ihr in den Sattel. „Plötzlich begann er, alles ins Maul zu nehmen und damit zu spielen.“ Das war der Moment, in dem Romeo zum Maler wurde.
Warum gerade Maler? „Eigentlich wollte ich selbst Künstlerin werden, wie mein Vater“, sagt Cheryl. Doch der riet seiner Tochter ab; zu unprofitabel. Manchmal malte Cheryl trotzdem, meistens ihr Pferd. Und weil das es liebte, mit seinem Mund zu werkeln, stapfte Cheryl eines Tages mit ihren Malsachen in Romeos Paddock. Sie zeigte ihm Pinsel und Leinwand. Den Pinsel nahm Romeo sofort ins Maul. Und als sich Cheryl noch fragte, wie sie ihm das Malen erklären sollte, begann er schon zu pinseln. So entstand Romeos erstes Bild. Und seither malt das Motiv selbst.





Hintergrund: Pferde spielen gerne mit dem Maul
„Alle Pferde untersuchen mit dem Mund ihre Umwelt“, lernte Cheryl von einer Ethologin. „Dabei bewegen sie den Kopf vor und zurück und rupfen so ihr Futter, nämlich Gras, aus der Erde.“ Einige nehmen dabei sogar Holzstücke oder Steine in den Mund, als ob sie nach etwas graben wollten – wie Romeo seinen Pinsel.
Diese Bewegung ist ein Ur-Bedürfnis. „Heutzutage haben Pferde kaum noch die Möglichkeit, das auszuleben“, bedauert Cheryl. Ihr Futter bekämen sie kleingeschrotet direkt in den Eimer. Das Heu sei sauber sortiert. „Beim Malen entdecken Pferde diese Bewegung wieder.“





Jedes Pferd malt anders
„Romeo ist von Natur aus immer besorgt und neigt zu Überreaktionen“, sagt Cheryl. „Doch er malt mir sehr viel Finesse und sanften, anmutigen Strichen.“ Stute Juliet hingegen, die Cheryl 2004 kaufte, ist eigentlich sehr sanftmütig. „Aber wenn sie malt, presst sie die Farbe mit einer solchen Kraft auf die Leinwand, dass ihr Enthusiasmus das Bild beinah umwirft.“ Juliets Striche sind kräftig und lang, ganz im Kontrast zu ihrem ruhigen Temperament.
Immer wieder beobachtet Cheryl: Das Malen gibt Pferden Gelegenheit, ihr zweites Ich auszudrücken. „Dadurch finden sie ihr inneres Gleichgewicht, werden gelassen, aber nicht stumpf“, glaubt sie.
Das scheinen die Pferde zu spüren. Bislang wurde keinem das Malen zu langweilig. „Die beiden können kaum abwarten, bis ich die Leinwand aufgestellt habe, und kämpfen richtig darum, wer zuerst den Pinsel nehmen darf“, lacht Cheryl. „Ich denke, sie sind sich bewusst, dass sie beim Malen mit ihren eigenen Bewegungen ihre Umwelt selbst manipulieren können, statt manipuliert zu werden.“
Mittlerweile ist das malende Pärchen prominent. Und signiert jedes Kunstwerk höchstpersönlich. Dazu ließ Cheryl die Hufabdrücke ihrer Pferde als kleine Stempel fertigen, einen runden Knauf am jeweiligen Ende. „Den fassen sie wie einen Pinsel mit dem Maul und pressen ihn gegen die Leinwand.“ Die hufsignierten Originale verkauft Cheryl, um die Kunsttherapie weiter zu fördern (www.paintinghorse.com).






Malen als Motivationstraining
Weil Freiwilligkeit wie positive Verstärkung der Schlüssel zur Kommunikation mit ihren Pferden ist, nutzt Cheryl Ward diese Trainingsmethode auch beim Reiten. Das gefällt den beiden Pintos. „Sobald sie mich mit Sattelzeug sehen, kommen Juliet und Romeo angerannt. Die können es wie beim Malen kaum abwarten, bis sie endlich geritten werden.“
Unter dem Sattel nehmen die Pferde auf, was Cheryl aus Versehen fallen ließ und reichen es ihr nach oben. Oder sie spielen Fangden-Ball, indem die beiden Pintos das runde Ding mit dem Gummigriff Cheryl in den Sattel hieven und ungeduldig darauf warten, dass der Ball wieder wegfliegt. „Als ob ich statt Pferden verspielte Labradors reiten würde“, meint Cheryl grinsend.





Die Bedeutung der Freiwilligkeit beim Malen
„Suchen Sie nach einem Projekt? 500 Dollar für ein Baby. Vertraut niemandem“ stand in Cheryls Tageszeitung. Sie konnte nicht widerstehen, nahm den zweijährigen, verstörten Wallach mit dem gespaltenen Ohr mit nach Hause und nannte ihn – auf eine große Maler-Zukunft hoffend – DaVinci.
Sein kurzes Leben prägten schmerzhafte Erfahrungen. „Er war ein Druckknopfpferd. Drückte man einen Knopf, war er weg“, erinnert sich Cheryl. Mit viel Geduld und Vogeltraining schöpfte DaVinci Vertrauen. Nach einigen Wochen entdeckte er das Malen für sich. Und vergaß.
„Wenn DaVinci malt, bemerkt er nichts mehr um sich herum“, sagt Cheryl. Dann schwingt der Wallach den Pinsel wie ein Besessener. „Er liebt das Malen so sehr, weil er es freiwillig tut, und dabei zum ersten Mal im Leben nichts an ihm getan wird.“
Im Mai stellte der junge Künstler sein erstes Bild aus. Es ist gelb und orange und grün. Grün wie die Hoffnung.






Interview: Warum positive Bestärkung so wichtig ist
CAVALLO: Was macht die Arbeit mit Vögeln besonders?
Malina: Passt ihnen etwas nicht, fliegen sie weg. Deswegen muss ich sehr genau auf ihre Körpersprache achten. Außerdem muss ich sie mit Futter bei Laune halten, damit sie freiwillig bei mir bleiben und mit mir arbeiten.
CAVALLO: Wie schaffen Sie das?
Malina: Die Tiere haben eine Wahl. Das heißt, ich zwinge sie nicht, etwas zu tun, sondern frage sie danach. Entscheiden sie sich dafür, in Sekunden meiner Anfrage nachzukommen, belohne ich sie sofort. Wenn nicht, ist die Chance, ein Leckerli zu erhaschen, vorbei. Ein Vogel wird sich künftig genau überlegen, ob er eine solche Chance nochmal ungenutzt verstreichen lässt. Denn das „Fenster der Gelegenheit“ steht nur einen winzigen Moment offen.
CAVALLO: Macht ein freies Tier nicht, was es will?
Malina: Konfuzius sagt: Befiel mir, und ich werde vergessen. Zeige mir, und vielleicht erinnere ich mich. Beziehe mich ein, und ich werde verstehen. Nur, wenn Tiere die Wahl haben, sich für etwas zu entscheiden, und diese Entscheidung sich für sie positiv auswirkt, begreifen sie. Auch in freier Wildbahn lernen Tiere nicht durch Manipulation und Druck, sondern indem sie mit ihrem Verhalten über den Ausgang einer Situation entscheiden.
CAVALLO: Warum funktioniert das Vogeltraining auch bei Pferden?
Malina: Alle Tiere, auch Pferde, sind sich sicherer, wenn sie selbst die Macht über ihr Leben haben, ein möglicher Fluchtweg also stets offen steht. Pferde fühlen sich nicht wohl, wenn sie den Menschen als Boss nie in Frage stellen dürfen. Sie bleiben dann nur bei ihm, weil die Angst vor seiner Reaktion auf ihr Handeln sie lähmt.
CAVALLO: Wie bleibt ein Pferd freiwillig bei mir?
Malina: Unterschätzen Sie nicht die Intelligenz und den Wunsch eines Tiers, interessante und einfache Dinge untersuchen und verstehen zu wollen. Bieten Sie Ihrem Pferd etwas. Loben Sie viel. Tut es etwas, was sie nicht möchten, strafen Sie nicht, sondern ignorieren Sie es. Alles, worin ein Tier nicht bestärkt wird, verschwindet irgendwann von selbst. Aber das Tier bleibt.





Warum Leckerli so wichtig sind
Wie gut sich das bewährt, zeigt das Beispiel des aus der Mongolei importierten Wallachs Ulan (s.CAVALLO 6/2004): Er hatte panische Angst vor Menschen, lief weg und begann zu schlagen, sowie er im Versuch, ihn zu fangen, in die Enge gedrängt wurde und keinen Ausweg sah. Berühren und Halftern war ausgeschlossen – schlecht bei einem Pferd, das im Offenstall lebt. Auch er glich einem Vogel: Sobald man sich ihm näherte, nahm er Reißaus.
Hier half nur konsequentes Umprogrammieren: Ulan musste alles von sich aus tun, und der Anreiz dazu waren Tonnen von Möhren. Über Futter lernte er, zum Menschen zu kommen und – zunächst ohne Halfter und Strick – bei ihm zu bleiben. Über Futter lernte er auch, den Kopf von sich aus ins Halfter zu strecken und sich selbst aufzuhalftern. Er lernte, Berührungen am ganzen Körper zu ertragen und Hufe zu geben, ohne Reißaus zu nehmen. Blieb er da, gab es Futter; lief er weg, gab es keins.
Dieser Anreiz war so stark, dass er sogar lernte, sich selber die Wurmkur zu geben: Jedes Zwingen der Paste ins Maul hätte in einem Kampf geendet. Also gab es Möhren. Dann bekam er die Wurmkur-Tube vor das Maul gehalten. Dann wieder Möhren. Nach einiger Zeit begann er, die Tube ins Maul zu nehmen. Nachdem er das konnte, war das Abdrücken der Paste eine Sache von Sekunden. Anschließend wieder Möhren. Mit derselben Freiwilligkeit schluckt er bis heute jedes orale Medikament – aber wehe, Zwang kehrt zurück. Dann ist Ulan auf und davon – wie ein Vogel.





