Die CAVALLO-Fotografin hechelt. „Langsam! Charlotte, bitte warte kurz!“ Die Angesprochene galoppiert jauchzend über die Wiese. „Das geht auch freihändig“, ruft sie strahlend und streckt beide Arme in den Himmel. Wer ist diese Frau, die einfach nicht zu bremsen ist?
Wir kennen die flotte Charlotte seit zwei Stunden. Seitdem hechten wir hinter ihr her. Sie ist immer in Bewegung – und während sie wuselt, redet sie. Die Speicherkarte der Kamera ist fast voll, und die Redakteurin verflucht sich beim Anblick des hastigen Gekritzels auf ihrem Notizblock mehr als je zuvor, kein Diktiergerät dabei zu haben.
Charlotte Fraundorfer hat viel zu tun und viel zu erzählen. Sie düst von einem Job zum nächsten und fährt jeden Tag in den Stall – und im Winter kämpft sie sich zur Not zu Fuß durch den Schnee. Alles für ihren Assi. Und jetzt kommt’s: Die quirlige Dame ist 81 Jahre alt.
Assi biss, trat, stieg und rannte Menschen um
Assi ist Charlottes Leben. Vor 30 Jahren lernte sie den Haflinger in einem Dorf in der Nähe vom Tegernsee kennen. Das Fohlen stand ganz alleine im Stall bei einem Bauern. Weil Assi so ungestüm war, wenn der Landwirt ihn auf die Koppel bringen wollte, wusste der sich nicht anders zu helfen, als das junge Pferd lieber drin zu lassen.
Charlotte tat der Kleine leid. Sie begann, sich um Assi zu kümmern. „Das Hengstlein biss, trat, stieg und rempelte mich um“, erinnert sich Charlotte. „Nach und nach wurde er netter zu mir.“ Die beiden wurden ein gutes Team. Doch nach einer Weile sollte Assi verkauft werden. Die Vorstellung, ihn gehen zu lassen, grauste Charlotte. Sie kaufte Assi – „für ganz schön viel Geld“, gesteht die alte Dame. „4 000 Mark habe ich damals bezahlt.“

Sattelfest? Je schneller, desto besser!
Von Pferdehaltung und -ausbildung hatte die damals 51-Jährige wenig Ahnung. Also kaufte sie Fachbücher. Sie schüttelt den Kopf: „Hempfling hat nicht funktionert.“ Am besten fand sie Linda Tellington-Jones. „Aber oft hab’ ich es einfach so gemacht, wie ich denke.“
Reiten konnte Charlotte jedoch schon. „Na ja, ich war jedenfalls sattelfest“, gesteht sie verschmitzt. Als junge Frau, mit 28 Jahren, war sie als Schauspielerin im Rahmen eines Theaterprojekts für zwei Jahre in Brasilien. „Dort hatte jeder Pferde“, erzählt Charlotte. „Schon am ersten Tag sind wir sechs Stunden ausgeritten. Wenn wir traben wollten, haben wir geschnalzt und zum Angaloppieren gab’s mit den Zügeln einen Klatsch auf den Hintern. Wenn die Pferde durchgegangen sind, haben wir sie rennen lassen. Da war ja genug Platz. Die hielten dann schon an, wenn sie nicht mehr konnten.“
Zurück in Deutschland nahm Charlotte Reitunterricht – und wunderte sich, wie „zickig“ die Pferde waren. „Die standen ja auch nur im Stall herum“, weiß sie heute. Es sprach sich herum, dass sie nie herunterfiel – und sie bekam die schwierigen Fälle. „Das war mir schnuppe. Je schneller, desto besser!“
Ein Haflinger, der rennen kann
Assi war da mit seiner Besitzerin einer Meinung. Als die beiden in einen neuen Stall zogen, wurden sie schief angeschaut. „Die hatten dort Araber und ich kam mit meinem Bauernpferdchen“, erzählt Charlotte.
„Als die Reiterinnen so gnädig waren, mich mit auf einen Ausritt zu nehmen, habe ich Assi vorm Galopp ins Ohr geflüstert: Zeig’s ihnen! Und das hat er verstanden! Ja, spinn’ i, kann der rasen, haben sie gesagt, und ab dann hab’ ich was gegolten. Aber mit mir ausreiten wollten sie nie wieder.“
Ausreiten müssen die beiden meistens alleine
Heute hat es die alte Dame immer noch schwer, eine Ausreitbegleitung zu finden. Kein Wunder: Wer will bei dem Tempo mithalten? Halbgas gibt es bei Charlotte Fraundorfer nicht. Um genug Geld für Assi zu haben, schuftet sie einmal in der Woche im Stall, von morgens sieben Uhr bis abends um sechs. Nebenbei bessert sie ihre Rente mit Jobs auf. „Rüstige Rentner sind gefragt“, erklärt sie. Charlotte passt auf Kinder auf, hilft bei Umzügen, pflegt eine alte Dame und putzt einer Bäuerin, die Arthrose hat, das Treppenhaus.
Assi, nun 31 Jahre alt und genauso fit wie seine Besitzerin, dankt es ihr auf seine Art. „Er ist ein eher unzärtlicher Geselle, aber er zeigt mir seine Liebe anders“, weiß Charlotte. „Er kennt mich ganz genau. Wenn es mir mal schlecht geht, ich aber meine, Assi muss was tun, dann will er nicht laufen.“
Assi passt auf seine Charlotte auf. So kann die 81-Jährige auch mal ohne Sattel und Trense reiten. Und wenn Assi sie doch mal verliert, bleibt er sofort stehen. „Er ist noch nie alleine zum Stall zurückgelaufen“, sagt Charlotte. „Der einzige Wunsch, den ich noch habe, ist, dass ich Assi überlebe. Ich komme schon klar ohne ihn. Aber er braucht mich noch.“
Tipp: Mit unserem kostenlosen E-Mail-Newsletter verpasst Du keine der vielen spannenden CAVALLO-Reportagen: hier kannst Du Dich für unseren Newsletter registrieren.