Qual oder Kunst?
Stierkampf für die Reitkunst?

Ohne Stierkampf stirbt die Reitkunst, sagen seine Befürworter. Doch was ist dran an diesem Argument? Wir haben unter Dressurausbildern nachgefragt.

Stierkämpfer zu Pferd mit angreifendem Stier
Foto: F.J. Jimenez / Getty Images

"Die Tradition kann man auch erhalten, ohne dass dabei einTier zu Schaden kommt"

Ich spreche hier aus der Sicht eines Reiters, der auf der iberischen Halbinsel gelebt und den Stierkampf zu Pferd dort erlernt hat. Ich selbst habe dabei jedoch nie einen Stier verletzt, geschweige denn getötet.

Der berittene Stierkampf oder Rejoneo entstand alsTraining und Übung für den Waffengang, ohne dabei einen anderen Reiter zu verletzen. Man fand bei der Jagd auf den Ur- oder Auerochsen im Wald heraus, dass es dabei sehr viele Ähnlichkeiten zum Kampf Mann gegen Mann gab. Der Stier ist ähnlich schnell und wendig wie ein berittener Krieger.

Der Stierkampf war also eine Trainingsform der Adeligen. Jede Ausbildung des Pferds zielte in Europa auf den Kampf ab. Der Stierkampf und die Reitkunst waren sozusagen ein Nebeneffekt. Aficionados und Traditionalisten, also Stierkampf-Fans, sehen im Kampf heute noch einen Ausdruck der Kunst, in dem Mensch und Stier oder auch Mensch, Pferd und Stier zu einem einzigen Kunstwerk des Kampfes verschmelzen.

Diese Sichtweise ist dem asiatischen Kampfsport nicht unähnlich. Andere leben vom Stierkampf oder sehen ihn als wichtigen Beitrag zur Erhaltung einer alten Rasse, des Kampfstieres nämlich, und der züchterischen Selektion von Pferden, die für den Kampf geeignet sind.

Alle diese Sichtweisen sind für mich auf intellektueller Ebene durchaus nachvollziehbar. Wenn man mich nach meiner persönlichen Meinung zum Stierkampf fragt, würde ich sagen: Er stammt aus einer Zeit, die lange hinter uns liegen sollte. Brot und Spiele zur Belustigung des Volkes sollten eigentlich der Vergangenheit angehören. Der Mensch sollte sich in dieser Richtung schon weiterentwickelt haben. Last but not least bin ich der Meinung, dass man die Tradition durchaus erhalten kann, ohne dass dabei ein Tier zu Schaden kommt:etwa mit einem ,Stier‘ auf Rädern.

Stierkampf Debatte
Lisa Rädlein
Alfons Dietz, Ausbilder für klassische Reitkunst.

Alfons Dietz, Ausbilder für klassische Reitkunst

"Die Pferde sind im Vollstress. Harmonie sieht anders aus"

Dass wir heutzutage den Stierkampf nicht mehr benötigen, steht für mich außer Frage. Eine Tradition, die auf Kosten anderer Lebewesen geht, kann ich nicht befürworten.

Als Ausbilderin möchte ich dafür sorgen, dass sich auch das Pferd mit seiner Aufgabe wohlfühlt. Eine ausweglose Arena, in der die Bedrohung durch den Stier und Druck durch den Reiter dazukommen, muss für das Fluchttier Pferd eigentlich die Hölle sein. Achtet man auf die Zeichen der Pferde in der Arena, sieht man auch, dass sie im Vollstress sind – wie leider häufig in Wettkämpfen. Ein harmonisches Miteinander sieht anders aus. Der Fokus liegt hier auf der Nutzung, nicht auf dem Wohlergehen des Pferds.

Dennoch hat diese Zweckgebundenheit auch einen Vorteil: Das Pferd muss gut geritten und trainiert sein, sonst wird es gefährlich, auch für den Reiter. Und: Ein Pferd, das trainiert wird, hat Bewegung, ist mental ausgelastet. Pferde nicht mehr vorwärtsgehen und regelrecht ,verschlumpfen‘ zu lassen, wie ich es oft sehe, ist auch nicht pferdegerecht. Das richtige Maß liegt dazwischen. Wir dürfen Pferde nicht für unseren Ruhm missbrauchen, aber ihnen genausowenig durch vermeintliches Schonen schaden.

Stierkampf Debatte
Lisa Rädlein
Daniela Wilsing, Bereiterin FN, Légèreté und akad. Reitkunst.

Daniela Wilsing, Bereiterin FN, Légèreté und akad. Reitkunst

"Die namhaften Könner der Stierkampf-Szene zeigen Pferde in größter vorstellbarer Leichtigkeit"

Noch im 20. Jahrhundert wirkten berittene Stierkämpfe sehr rasant. Die Pferde liefen einen Großteil der Zeit vor dem Stier davon, und die geschmückten Spieße (Banderillas) wurden im flinken Vorbeirauschen im Nacken des Stiers versenkt. Die zunehmende, vor allem vom Tourismus finanziell gepushte Beliebtheit des berittenen Stierkampfes, professionalisierte ihn und zog immer exklusivere Reitkünstler an.

Über die Jahrzehnte überboten sich die Reitkünstler und machten den Stierkampf zu dem einzigen Ort der Welt, an dem man die angewandte Hohe Schule der Reitkunst noch derart nah am Renaissance-Original erleben konnte.

Heute zeigen die namhaften Könner der Szene (hier nur drei Beispiele: Diego Ventura, Hermoso de Mendoza und Lea Vicens) die etwa sechs Pferde pro Auftritt in größter vorstellbarer Leichtigkeit und spielerisch anmutender Souveränität.

Doch rechtfertigt die Reitkunst den Stierkampf auch ethisch? Bei derart emotional aufgeladenen Themen weiche ich gerne auf die "Was wäre wenn"-Betrachtung aus.

Was also wäre, wenn nach dem Franco-Regime der Stierkampf nicht wieder aufgegriffen worden wäre? Die Züchter iberischer Pferde hätten schon viel früher auf Warmblutkriterien selektiert. Innerhalb weniger Jahrzehnte hätte es keine Pferde mehr gegeben, mit denen sich die Reitkunst der Alten Meister hätte wiederbeleben lassen. Das Verständnis für die unvorstellbar ausgefeilte Reitkunst der Renaissance wäre vor dem Unverständnis der Schlaufzügelreiter verblasst, die eine Kandare als Marterinstrument missverstehen.

Auf die Gefahr des Whataboutism hin: Gäbe es eine Maßeinheit für Leid, könnten wir ins Verhältnis stellen, wieviel mehr Leid ein Kampfstier erlebt als ein beliebiges Pferd in einem beliebigen Spitzensport. Letztlich sterben beide an ihren von Menschen herbeigeführten Verletzungen, der eine leidet 20 Minuten, der andere Jahre oder Jahrzehnte.

Stierkampf Debatte
privat
Christin Krischke, Direktorin der Fürstlichen Hofreitschule Bückeburg.

Christin Krischke, Direktorin der Fürstlichen Hofreitschule Bückeburg

"Der portugiesische Stierkampf hat zur Reitkunst viel beigetragen"

Ich habe über 20 Jahre regelmäßig Stierkämpfe besucht – ohne dass ich sie je besonders gemocht habe. Aber ich wollte sehen wie die Pferde, die ich damals geritten habe, in der Arena gehen. Manche verwandeln sich dabei, als ob sie ihre Aufgabe genau kennen – viele Lusitanos haben einen echten Cow-Sense, einen Sinn für den Stier.

Für mich gibt es einen großen Unterschied zwischen Spanien und Portugal. Während in Spanien das Töten des Stiers der Höhepunkt des Kampfes ist, gibt es in Portugal nur Applaus für die Lektionen der Hohen Schule. Der Stier trabt am Ende aus der Arena und geht entweder in den Schlachthof oder, wenn er gut war, in die Zucht. Die Reitkunst steht wesentlich mehr im Fokus. Das hat auch damit zu tun, dass der berittene Stierkampf in Spanien lange Zeit verboten war und deshalb keine Stierkampfpferde mehr gezüchtet wurden.

Aus meiner Sicht hat der Stierkampf in Portugal zur Pferdezucht und zur Reitkunst unheimlich viel beigetragen. Der Stierkampf geht zurück auf die Jagd und iberische Ritterturniere. Als sich die Kriegsführung durch Schusswaffen veränderte, gab es im Krieg keinen direkten Gegner mehr, im Stierkampf aber schon. Während es im Krieg nicht mehr auf die Technik ankam und Pferde mehr und mehr zu Kanonenfutter wurden, blieb die klassische Reiterei durch den Stierkampf erhalten.

Der Ehrenkodex der Ritter prägt die Regeln des Stierkampfs nach wie vor: Man darf keine Angst vor dem Tod haben, nicht heimtückisch agieren. Deshalb darf der Stierkampfreiter die Banderillas dem Stier nur in den Nacken setzen, wenn er angreift. Das Pferd muss den Stier mit Piaffen und Passagen dazu bringen, seinen Bannkreis zu verlassen und anzugreifen. Dann muss es im letzten Moment ausweichen, während der Reiter vielleicht sogar beide Zügel loslässt, um die Banderillas zu setzen. Dazu muss das Pferd 100 Prozent am Sitz sein, in Selbsthaltung gehen. Es gibt kein ,Vielleicht‘. Wenn es nicht funktioniert, ist man unter Umständen tot.

Allerdings beobachte ich, dass die Reiterei im Laufe der Jahre nachgelassen hat. Viele neue Akteure mit Geld können es sich leisten, die Pferde schneller auszutauschen, pro Saison eine ,Garnitur‘ zu verschleißen. Dadurch wächst auch der Bedarf an Pferden und der Druck, sie schneller auszubilden. Die Reiter stammen oft nicht mehr aus alteingesessenen Familien und haben das Reiten ohne Tiefe gelernt.

Die Reiterei unterscheidet sich kaum noch von dem, was man im Rest Europas sieht: Schlaufzügel und tief eingestellte Pferde. Deshalb ist der Stierkampf meiner Meinung nach nicht mehr nötig und nicht mehr haltbar. Wir müssen andere Wege finden, um die Reitkunst zu erhalten.

Stierkampf Debatte
Lisa Rädlein
Anja Beran, Ausbilderin in klassischer Dressur.

Anja Beran, Ausbilderin in klassischer Dressur

"Für mich persönlich bedeutet Reitkunst an erster Stelle eine gute Beziehung zum Pferd"

Ich bin der Meinung, dass es den Stierkampf nicht hätte geben müssen, um Reitkunst zu entwickeln. Das zeigt sich zum Beispiel an der Reiterei, die aus dem Rinderhüten oder der Arbeit mit dem Pferd entstanden ist, heute etwa in der Working Equitation oder dem Westernreiten zu sehen. Wendigkeit und Selbstständigkeit brauchen auch diese Pferde. Das geht also auch ohne Tierqual – und heute gibt es umso mehr Möglichkeiten. Zum Beispiel die Freiarbeit, bei der wir Wendigkeit und Versammlung spielerisch fördern können.

Für mich persönlich bedeutet Reitkunst an erster Stelle eine gute Beziehung zum Pferd. Hierfür bemühe ich mich um einen möglichst tiefen Blick in das innere Erleben des Pferds. Ich möchte mich meinem Pferd gegenüber so verhalten, dass es auf eine bestimmte Idee kommt und diese umsetzen möchte – von wollen, nicht von sollen! Denn wer könnte rund 560 Kilogramm besser bewegen als das Pferd selbst in seiner Balance und aus seiner Mitte heraus? Dass Stierkampf je erfunden wurde, ist schlimm genug.

Stierkampf Debatte
Lisa Rädlein
Andrea Bethge, Dressurausbilderin bis Grand Prix.

Andrea Bethge, Dressurausbilderin bis Grand Prix

Kommentar

Ohne Kunst lässt es sich schwer leben. Doch wo das Leid des einen anfängt, muss die Kunst des anderen aufhören. Das ist für mich klare Sache. Dennoch ist der Erhalt von Reitkunst und Tradition noch immer eines der stärksten Argumente der Stierkampf-Befürworter. Schaut man genauer hin, kann man ihnen schnell den Wind aus den Segeln nehmen.

Es gibt heute unzählige Möglichkeiten, Pferde zum Strahlen zu bringen, ohne sie und die Stiere Stress, Todesgefahr und Leid durch Verletzungen auszusetzen. Anders als früher können wir es uns heute auch abseits von Krieg und Kampf leisten, Pferde bis zum höchsten Niveau auszubilden. Stierkampf brauchen wir dazu nicht mehr. Stattdessen braucht Reitkunst Respekt vor dem Tier.

Stierkampf Debatte
Lisa Rädlein
Natalie Steinmann, CAVALLO-Redakteurin.

Natalie Steinmann, CAVALLO-Redakteurin

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4 / 2023

Erscheinungsdatum 15.03.2023