Sam hängt in den Seilen. Wortwörtlich. Vor ein paar Minuten schoben die Feuerwehrleute vorsichtig die Gurte unter dem Bauch des Scheckwallachs hindurch, nun hängt Sam rund vierzig Zentimeter hoch am Ausfahrkran des Feuerwehrfahrzeugs. Gerettet! Zumindest theoretisch. Denn gerettet haben die 24 Feuerwehrleute nur einen Pferde-Dummy, wenn auch einen echt aussehenden: Sam hat das Stockmaß eines Kleinpferds, wiegt rund 200 Kilo und seine Beine lassen sich – anatomisch korrekt – bewegen.

Sams Besitzer ist Lutz Hauch. Der zertifizierte Großtierretter schult deutschlandweit Feuerwehren in Technischer Großtierrettung. Heißt: Was zu tun ist, wenn ein Pferd oder anderes Großtier in Graben, Grube oder in einem Anhänger gestürzt ist. "Von solchen Rettungseinsätzen gibt es mehrere Hundert pro Jahr in Deutschland", schätzt Lutz Hauch, "aber nicht immer werden diese fachmännisch durchgeführt." Mit fatalen Folgen, zum einen für die Pferde: Lutz Hauch weiß von Schweifrüben, die abgerissen wurden, oder von einem Tier, das am Kopf aus einer Grube gezogen wurde – und danach wegen irreparabler Schäden an der Halswirbelsäule eingeschläfert werden musste.

Spezielles Equipment macht die Rettung für alle sicherer
Zum anderen sind solche Einsätze auch für die Retter gefährlich: wenn sie das Verhalten eines Tiers (oder deren Besitzer) nicht einschätzen können oder nicht wissen, wie sie ihr Equipment bestmöglich einsetzen sollen. Beide Aspekte, Verhaltens- wie Einsatzwissen, gehören daher fest zum Theorieteil von Hauchs Schulung. Weil Theorie bekanntlich nur die halbe Miete ist, gibt es bei den Trainings einen ausführlichen Praxis-Teil, den wir bei der Feuerwehr Kornwestheim nahe Stuttgart begleitet haben. Bei der praktischen Übung kommt auch Sam ins Spiel.

Doch bevor der aus seinem Hänger ausgeladen wird, breiten die Einsatzkräfte fein säuberlich ihre Werkzeuge auf einer blauen Plane am Ackerrand aus: ein an der Spitze gebogener Hirtenstab, stabile Fußfesseln, unterschiedliche Gurte, gebogene Fädelstangen – "alles für die Großtierrettung entwickelt", erklärt Lutz Hauch. Genauer: in Großbritannien, wo es seit Jahren spezialisierte Tierrettungstrupps gibt. Mit Hilfe dieses Werkzeugs können die Rettungskräfte besser und sicherer agieren, etwa dank Fädelstange die Gurte unterm Pferd durchschieben oder diese mit dem Hirtenstab auf Distanz angeben.

Welcher Gurt wie verlaufen sollte, um Sam vorwärts, rückwärts oder seitwärts zu ziehen, ist auf Einsatzkärtchen illustriert, die Hauch an die Retter verteilt. Um ein Pferd zu drehen, führt etwa ein langer Gurt über die Flanke zu den Hinterbeinen, zwischen denen an der Bauchnaht nach vorne zur Brust und über die Schulter zum anderen Gurtende zurück. Ein zweiter Gurt zwischen Vorder- und Hinterbeinen dient als Bremse.

Ein Retter-Team bezieht Stellung, arbeitet mit Hirtenstab und Fädelstange und zieht die Gurte in Position. "Langsam durchziehen, sonst brennt ihr dem Pferd das Fell weg", mahnt Lutz Hauch. Fertig: Die Gurte sitzen. Auf "1, 2, 3!" ziehen die Retter daran, Sam dreht sich – und plumpst den Rettern genau vor die Füße. "Kickzone, Kickzone!", rufen die zuschauenden Kollegen: Die Retter wären jetzt in dem Bereich, in dem sie von rudernden Pferdebeinen getroffen werden könnten. Sam liegt zum Glück ganz still. "Nächstes Mal mehr bremsen", korrigiert Hauch.
Dann geht Sam baden: Vorsichtig wird er in einen Graben hinabgelassen. Da liegt er, wie ein Käfer halb auf dem Rücken. Und nun? "Matthias, stell ein Team zusammen", gibt Lutz Hauch vor. Matthias Häußler, Kommandant der Feuerwehr Kornwestheim, benennt in seiner elfköpfigen Gruppe Gerätemanager (der Gurte und Werkzeuge angibt) und Sicherheitsmanager (der darauf achtet, dass sich niemand bei der Rettung in Gefahr begibt).

Ein Feuerwehrmann imitiert den Tierarzt, robbt zu Sam hinunter, legt ein Notfallhalfter an und einen imaginären Zugang: "Er ist jetzt sediert, ihr könnt loslegen." Kommandant Häußler gibt den Einsatz vor: "Wir setzen den Seitwärtsassistenten ein, ziehen Sam vorsichtig auf die Schleifplatten und ihn so heraus." Die vier milchweißen Platten können zusammengesteckt werden und dienen als Transportunterlage. Würde Sam ohne sie aus dem Graben gezogen werden, könnte er sich dabei verletzen.
Nach der Rettung wieder in den Graben hinein
Vorsichtig heben die Retter auf der einen Seite des Grabens Sams Beine an, damit die Kollegen auf der anderen Seite zuerst Gurte, dann Platten unter ihn schieben können. Auf Kommando ziehen sieben Feuerwehrmänner und eine Feuerwehrfrau Sam mit vereinten Kräften aus dem Graben. Geschafft! Lutz Hauch ist zufrieden. Naja, fast: "Zieht ihn beim nächsten Mal noch weiter weg. Kürzlich hat ein Rettungsteam zweieinhalb Stunden gebraucht, um ein Pferd aus einem Graben zu retten. Als sie es endlich draußen hatten, ist das Pferd aufgesprungen, losgaloppiert – und direkt wieder in den Graben hinein."

Nun imitieren die Feuerwehrleute die Rettung von einer Böschung. Hier kommen die Fußfesseln zum Einsatz: "Die verhindern, dass ein Pferd sich oder Helfer verletzt", erklärt Lutz Hauch, während Sam im Hintergrund – rundrum mit Gurten gesichert – von der Böschung in den Hänger hinein gezogen wird. Da bleibt er auch gleich mal liegen, denn das nächste Szenario lautet: Wie rettet man ein gestürztes Pferd aus dem Anhänger?
"Es muss auf jeden Fall ein Ersatzhänger da sein, bevor ihr an die Rettung geht", erklärt Lutz Hauch. Solange man nicht wisse, was im Hänger passiert ist, bleibt die Klappe zu – und durch die Vordertür wird nur vorsichtig nachgesehen.

Das Bild, das sich Bastian Weidmann, Leiter dieses Einsatzes, bietet: Sam hat die Beine liegend unter der Mittelwand verhakt. "Die würde ich drin lassen als Kickschutz", findet er und weist seine Leute an: Innerhalb weniger Minuten sind die Gurte unter Sam durch- und Sam selbst sicher rückwärts herausgezogen. "Ihr seht, es ist kein Kunststück, ein Pferd aus einem Anhänger herauszubekommen, ohne diesen zu betreten", lobt Lutz Hauch.

Die meisten Einsätze ließen sich mit reiner Muskelkraft bewältigen; was zu tun ist, wenn doch ein Kran gebraucht wird, wird zum Abschluss noch geübt. Die Retter ziehen die breiten Gurte eines Hebegeschirrs um Sams Rumpf, Brust und Hintern, während ein Feuerwehrmann den Kran in Stellung bringt. Der zieht Sam langsam und vorsichtig in die Luft. Wäre der Dummy ein echtes Pferd, müsste es jetzt heißen: Operation gelungen, Pferd wohlauf!
Der Experte

Lutz Hauch ließ sich u.a. bei Dr. Christoph Peterbauer (Animal Rescue Academy) in Technischer Großtierrettung ausbilden. Seit 2016 schult der Feuerwehrmann und Rettungsassistent Einsatzkräfte darin. www.comcavalo.de