Das ist doch mein Lio! Gerlinde Bartelheimer traut ihren Augen nicht: Ihr Pferd, das eigentlich 2 500 Kilometer entfernt zu Hause in der Lüneburger Heide sein sollte, trabt durch die Reithalle im spanischen Sevilla.
Fassungslos starrt sie den Schimmel an, der nicht nur aufs Haar ihrem eigenen Pferd gleicht, sondern sich auch genauso bewegt. "Siehst du das, was ich sehe?" fragt sie ihren Mann. Er nickt. "Kannst mich mal kneifen?"
Doppelgänger auf der Pferdemesse
Wie jedes Jahr im November sind Gerlinde und Ronny Bartelheimer nach Sevilla zur Pferdemesse SICAB gereist, um ihrer Leidenschaft zu fröhnen: andere Pferdefreunde treffen und schöne spanische Pferde bewundern. Dass sie dort 2017 beim Blick in eine der Abreitehallen zufällig ihr eigenes Pferd treffen, ist für das Ehepaar wie ein Schock.
Lange kann Gerlinde Bartelheimer nicht stillstehen. Wild entschlossen herauszufinden, was sie gerade für ein Pferd gesehen hat, läuft sie schnurstracks zum Stand des spanischen Cartujano-Gestüts Yeguada de la Cartuja, dessen Emblem sie auf der Schabracke des Tiers erkannt hat. Dort hatte sie erst im Frühjahr ihren Lio gekauft.

Was sie erfährt, kann sie kaum glauben: Der Schimmel aus der Abreitehalle heißt Valioso X. Er kam am gleichen Tag zur Welt wie ihr eigener Hengst "Lio", Valioso IX. Gerlinde Bartelheimer hat soeben den Bruder ihres Pferds entdeckt, einen Zwilling! Valioso IX (Lio) und Valioso X (Valoo) sind reine Cartujano-Hengste, geboren auf dem Gestüt Yeguada de la Cartuja in Jerez de la Frontera am 30. März 2012.
Lio alleine war schon die Stecknadel im Heuhaufen
Keine Frage, dass sie sich die Vorstellung des Zwillings-Hengsts auf der Messe nicht entgehen lässt. Er startet dort in einer Prüfung für gehandicapte Reiter. Seinem Reiter fehlt ein Arm, und er muss einhändig reiten. Der Schimmel ist fein an den Hilfen und konzentriert bei der Sache.
Obwohl er eine ordentliche Portion Temperament erahnen lässt, scheint er die quirlige Messe-Atmosphäre überhaupt nicht besorgniserregend zu finden. Gerlinde Bartelheimer ist fasziniert: "Ein richtiger Showman, wie sein Bruder Lio!"
Genau nach so einem Strahlemann suchte Gerlinde Bartelheimer, bis sie Lio fand. Er war für sie die Stecknadel im Heuhaufen: Um die 250 Pferde wurden von ihr gecastet, teilweise über mehrere Tage hinweg. Denn für Gerlinde Bartelheimer ist Reiten mehr als nur ein Hobby. Sie arbeitet in Vollzeit als Firmenchefin und fährt mit ihrem Mann jeden Abend eine halbe Stunde (einfache Strecke!) zum Stall, um die Pferde zu trainieren.
Die Leidenschaft der Pferdenärrin: das Showreiten mit dem "Showteam Mirage Español". Sie liebt es, das Publikum zu begeistern. "Der Funke muss auf die Zuschauer überspringen" sagt sie. Voraussetzung dafür ist, dass auch das Tier mit vollem Stolz dabei ist. Bei ihrem spanischen Wallach Estimado (Eddi) war das leider nicht so, ganz im Gegensatz zu dem Hengst ihres Mannes, Vistoso (Toso).
"Toso scheint mir bei jeder Show zu sagen: Guck, dass du gut aussiehst und lass mich den Rest machen, Chica", erzählt sie schmunzelnd. Eddi sollte also einen Nachfolger bekommen, der auch so viel Spaß an den Shows hat.
Die Gedanken kreisten ständig um den Zwilling
Ihren Lio lernte die Showreiterin wenige Monate zuvor, im April 2017, auf Yeguada de la Cartuja kennen. Kurz davor, im März 2017, hatte sie sich auf der Pferdemesse EQUITANA in Deutschland mit dem Gestüt verabredet, um dort Pferde probezureiten. Lios Bruder Valioso X war während ihres Besuchs in Spanien allerdings noch in Deutschland: Ohne es zu wissen, hatte sie den Zwilling ihres Pferds dort am Messestand das erste Mal gesehen – zumindest dachte sie das bis vor Kurzem.
So traf sie in Jerez nur Lio – und verliebte sich auf den ersten Blick. "Er hat mich überzeugt. Obwohl er so jung war, war er schon unglaublich cool. Und ich habe gespürt, dass er Spaß daran hat, sich zu präsentieren", erinnert sich Gerlinde Bartelheimer. Schnell war beschlossen: Lio kommt nach Deutschland.
Im Juli 2017 zog er ein. "Die Entscheidung war goldrichtig", findet seine Besitzerin, die ihr Pferd in aller Ruhe mit seiner neuen Umgebung und seinen neuen Aufgaben vertraut machte: Ausritte in der Lüneburger Heide, Showtrainings und eine Reiterrallye meisterte der junge Hengst mit Bravour.
Und jetzt das: Nur wenige Monate nach dem Kauf von Lio wird Gerlinde Bartelheimer klar, dass sie einen Zwilling gekauft hatte. Was nun? "Denk gar nicht erst dran" sagt ihr Mann "wir haben schon drei Pferde, eins mehr als geplant! Schlag dir das aus dem Kopf!"
Es vergeht ein Jahr mit dem Versuch, den Zwilling zu vergessen. Doch als das Ehepaar Bartelheimer 2018 nach Spanien reist, stellt sich heraus: Das funktioniert nicht! Valioso X ist wieder auf der SICAB und wird wieder von einer Person mit Handicap geritten, dieses Mal mit einer Behinderung an der Hüfte, sodass er im Damensattel vorgestellt wird.
Er präsentiert sich super und Gerlinde Bartelheimer weiß: Das Pferd ist immer noch nicht verkauft. Für sie ist es ein Zeichen: Valioso X ist für sie bestimmt und ihr Traum muss in Erfüllung gehen: Beide Pferde sollen wieder zusammen sein.
Das Wiedersehen der Hengste war magisch
Aber dafür muss Ronny Bartelheimer zustimmen – und nicht nur er: Auch die Stallbesitzer müssen überzeugt werden, einen weiteren Hengst zu beherbergen. Denn das Ehepaar Bartelheimer hat schon drei Pferde, davon zwei Hengste. Und nun noch ein weiterer Hengst dazu? Das scheint aus Haltungssicht ohne gravierende Umbaumaßnahmen unmöglich.
Und was ist, wenn sich die Hengste dann nicht verstehen? Lios Bruder wieder herzugeben, wenn sich die Hengste nicht vertragen, kommt für das Ehepaar nicht in Frage. "Ein Pferd zu kaufen, ist für uns eine Entscheidung, aus der es kein Zurück mehr gibt. Unsere Tiere bleiben bei uns, solange sie leben", betont Gerlinde Bartelheimer. Und letztendlich muss man sich auch mit Yeguada de la Cartuja über den Kauf einig werden.
Am Ende fügt es sich. Alle stimmen zu und der Umbau kann gestartet werden, damit auch der Neue artgerecht im eigenen Offenstall mit Koppelanschluss leben kann – wie alle Pferde der Bartelheimers. Im August 2019 reist Lios Bruder Valioso X, inzwischen "Valoo" getauft, in sein neues Zuhause.

Bis zu dem Moment, in dem Valoo aus dem LKW steigt, sind die Nerven des Ehepaars zum Zerreißen gespannt. Wie würden die Hengste aufeinander reagieren? Vor allem der "Professor", Chefhengst Vistoso (19), muss den Neuen akzeptieren. Doch der lässt den unbekannten Jungspund einfach ohne Mucks vorbeispazieren, als ob er ihn schon Jahre kennen würde. "Das habe ich bei Toso noch nie so erlebt. Er kehrt sonst immer den Macho heraus, um zu zeigen, wer der Herr im Haus ist", weiß Gerlinde Bartelheimer. Und Lio?
"Das war magisch", erinnert sich Gerlinde Bartelheimer. Als sich die Zwillinge im Außenbereich ihres jeweiligen Offenstalls zum ersten Mal treffen, erstarren beide wie zu Stein und sehen sich an. Dann brummelt plötzlich einer von beiden und der andere brummelt zurück. "Das ging hin und her, als ob sie sich unterhalten würden.
Mein Mann und ich waren so gerührt, wir haben beide Freudentränen geweint und waren einfach nur glücklich." Nach dem Wiedersehen stehen die Hengste Kopf an Kopf am Zaun und lassen sich nicht mehr aus den Augen. In den ersten Tagen darf der Neuling Valoo noch nicht so lange auf die saftige Weide. Da lässt Lio sein geliebtes Gras links liegen und leistet seinem Bruder Gesellschaft. So stehen beide Seite an Seite auf dem Paddock, Hauptsache zusammen.

Bis heute sind die Zwillinge ein Herz und eine Seele. Ob sie sich während ihrer Trennung vermisst haben? "Das würde ich auch gerne wissen", meint ihre Besitzerin. "Sie lieben sich. Aber zum Glück, obwohl die beiden so eng miteinander sind, kann ich sie problemlos trennen." Wer von den beiden Zwillingen der Ranghöhere ist, haben Bartelheimers noch nicht herausgefunden.
Charakterlich und unter dem Sattel gleichen sich die Pferde sehr, doch der etwas kleinere Valoo ist quirliger und vorsichtiger als sein Bruder. Seine Besitzerin vermutet, dass Lio sich anders entwickelt hat, weil er einen Vorsprung hatte: "Lio kam zwei Jahre früher zu uns, hat hier seitdem 24 Stunden Bewegung im Offenstall, wird intensiv betreut und gut gefüttert."
Nur Kleinigkeiten verraten, wer von beiden wer ist
Im Nachhinein ist sich Gerlinde Bartelheimer sicher: "Das sollte alles so sein!" Als sie für CAVALLO nach alten Fotos stöberte, fand sie vergessene Aufnahmen aus dem Jahr 2016: Ihr erster Besuch des Cartujano-Gestüts im Rahmen einer Touristenführung. Eines der Fotos zeigt: die beiden Zwillings-Hengste, wie sie nebeneinander aus ihren Boxen schauen!
Auf den Boxenschildern stehen die gleichen Namen und das gleiche Geburtsdatum. "Es ist völlig verrückt, aber das war völlig aus meinem Gedächtnis verschwunden. Jetzt, wo ich die Fotos sehe, erinnere ich mich, dass ich es damals lustig fand, die beiden Brüder bei der Führung durchs Gestüt entdeckt zu haben. Ich habe sie einfach im Vorbeigehen geknipst", erzählt uns Gerlinde Bartelheimer aufgeregt und staunt: "Wer hätte zu diesem Zeitpunkt gedacht, dass ausgerechnet diese beiden Pferde jemals eine so große Rolle in unserem Leben spielen werden?" Die Showreiterin ist unglaublich froh, dass alles so gekommen ist. "Die beiden sind einfach ein Geschenk des Himmels! Für mich ist es wichtig zu wissen, dass wir sie nicht aus Versehen für immer auseinandergerissen haben", sagt sie.
Nun wird es interessant, wie sich die beiden Hengste so machen, denn als Spätentwickler sind sie jetzt, mit acht Jahren, in einem Alter, in dem sie sich sehr verändern können. Welche Rolle wird dabei wohl der Unterschied spielen, dass einer der beiden zwei Jahre früher in Deutschland aufgewachsen ist?
Schon jetzt können nur wenige im Stall die Zwillinge auseinanderhalten. Wenn beide direkt nebeneinanderstehen, ist es leichter: Der aktuelle Größenunterschied und die unterschiedliche Pigmentierung an der Nase verraten, wer wer ist. Dem Ehepaar Bartelheimer reicht ein Blick. "Mama und Papa sehen so was eben", sagt die Zwillings-Besitzerin lachend, gesteht aber: "Auf mehr als 20 Metern Entfernung wird es schon schwieriger." Doch wer weiß – vielleicht wird sie den spanischen Brüdern bald verschiedenfarbige Schleifchen in die Mähne binden müssen, wenn Valoo das nachholt, was Lio an Entwicklung bereits in Deutschland gemacht hat.
Ob Valoo bald so groß und gelassen wie sein Bruder ist? Wie werden sich die Hengste entwickeln und welche Unterschiede, auch unterm Sattel, werden deutlich? Spannende Zeiten warten auf Gerlinde und Ronny Bartelheimer mit ihren Zwillingen. Das müssen wir unbedingt weiterverfolgen. Freuen Sie sich auf ein Wiedersehen mit Lio und Valoo!
Kontakt
Anspruchsvolle Dressur mit Hengsten zeigt das Ehepaar Bartelheimer im Showteam Mirage Español: mirage-espanol.de