Frech lugt das Fohlen hinterm Schweif der Schimmelstute hervor. Neben den beiden steht ein braunes Hengstfohlen und schmiegt sich an die Stute. Die hört auf den Namen Frau Vogel und wacht mit zärtlichem Blick über ihre Teilzeitfamilie. Frau Vogel ist eine Ammenstute. Und was für eine: Sie zog neben zwei eigenen bisher acht fremde Fohlen groß. Inzwischen ist sie 27 Jahre alt und kann vom Nachwuchs immer noch nicht genug bekommen. Stutfohlen Holly und der kleine Hengst Mucki sind Nummer neun und zehn.
Holly kam erst vor drei Wochen zu ihrer Ersatzmama, nachdem ihre Mutter bei der Geburt gestorben war. Das Holsteiner Hengstfohlen Mucki hält Frau Vogel schon seit fünf Monaten auf Trab. Ganz schön viel Stress für die alte Dame. „Aber wenn sie keine Fohlen hat, leidet sie richtig“, sagt ihre Besitzerin Brigitte Forstner aus Wasserburg bei München. Dort lebt Frau Vogel in einem Pensions- und Aufzuchtstall (www.gut-gern.de).
Auf dem Papier heißt die Holsteiner-Stute Frau Vogel übrigens „Lady Bird“. Zu exotisch, wie Brigitte Forstner fand. „Wir sind hier in Bayern. Da stelle ich mich nicht auf die Weide und schreie was Englisches“, sagt sie und lacht. Seit 17 Jahren ist das „Vogeltier“, wie sie ihre Stute auch liebevoll nennt, in ihrem Besitz. Früher startete die Stute in Springen bis zur Klasse S. Seit fünf Jahren wird sie nicht mehr geritten. Ob sie den Springparcours wohl vermisst? Vermutlich nicht, denn die Supermama hat mir ihrer Patchwork-Familie alle Hufe voll zu tun.
Vor 14 Jahren hatte Frau Vogel ihr erstes eigenes Fohlen. Seitdem bekam sie jedes Mal eine Euterentzündung, wenn sie andere Fohlen sah. „Als dann eine Bekannte ein Fohlen hatte, dessen Mama gestorben war, sagte ich: ‚Stell es doch zu meiner Frau Vogel‘“, erzählt Brigitte Forstner. Gesagt, getan. Die Stute nahm das Waisenkind problemlos als eigenes Fohlen auf.
Seitdem kommen jedes Jahr bis zu zwei Fohlen zu Frau Vogel. Das Problem mit der Euterentzündung hat Brigitte Forstner so in den Griff bekommen, da die Waisenfohlen auch bei Frau Vogel trinken. Allerdings enthält ihre Milch nicht genug Nährstoffe und reicht auch nicht für beide Fohlen aus. Deswegen mischen Brigitte Forstner und ihr Team mehrmals täglich aus 500 Gramm Milchpulver und vier Litern warmem Wasser ein paar Extramahlzeiten an. In den ersten zwei Wochen gibt es die Milch im Fläschchen, später im Eimer.
Holly schlabbert alle drei Stunden Milch aus dem Eimer. Die Nacht hält sie mittlerweile ohne Zusatzmilch aus. Hengstfohlen Mucki bekommt nur noch morgens und abends seine Milch. Von der Mischung ist er schwer begeistert. Wenn er einen Futtereimer vor sich stehen hat, gibt es kein Halten mehr für ihn. Er fängt er an zu schlabbern, was das Zeug hält, die Milch spritzt zu allen Seiten. Wenn auch der letzte Tropfen im Eimer ausgeschleckt ist, saugt er die restliche Milch vom Boden auf, bis wirklich nichts mehr übrig ist.
Neben der Fütterung kümmert sich Brigitte Forstners Team auch um die Erziehung der Fohlen. Vom ersten Tag an putzen sie die Youngster ausgiebig und gewöhnen sie ans Halfter. „Geld verdienen wir damit nicht. Die Besitzer bezahlen lediglich 400 Euro im Monat für die ehrenamtliche Aufzucht der Fohlen“, sagt Brigitte Forstner. Das ist im Vertrag festgelegt, den die Besitzer unterschreiben müssen, wenn sie ihr Fohlen in Frau Vogels Obhut geben.
Er besagt unter anderem, dass der Nachwuchs mindestens sechs Monate bleiben muss. Brigitte Forstner ließ den Vertrag aufsetzen, nachdem sie mit einem Fohlenbesitzern schlechte Erfahrungen gemacht hatte. Er holte es nach nur drei Monaten ab, um es bei einer Fohlenschau zu präsentieren. Zeit zum schonenden Absetzen blieb da natürlich nicht. „Meine Frau Vogel hat geschrien wie am Spieß und danach tagelang nicht mehr gefressen“, erinnert sich Brigitte Forstner. Glücklicherweise fand Frau Vogel mit Fohlen Khalid schnell eine neue Aufgabe. Kurz darauf kamen Mucki und Holly.
Stutfohlen Holly hätte es fast nicht geschafft

Die kleine Kaltblutstute Holly erwischte keinen leichten Start ins Pferdeleben. Die Ärzte gaben ihr keine großen Überlebenschancen: Ihre Mutter starb gleich nach der Geburt; die ersten beiden Tage lag Holly nahezu ununterbrochen in der Box. Ihre Kräfte reichten nicht aus, um lange zu stehen. Mit einem Katheter bekam sie Infusionen, um den Kreislauf zu stabilisieren. Gefüttert wurde sie mit einer Pipette. Über einen Tierarzt kam der Kontakt zu Brigitte Forstner zustande.
„Holly war am Anfang wirklich sehr schlecht beieinander“, erinnert sie sich. Bilder zeigen, wie Holly nach ihrer Ankunft schwach neben Frau Vogel liegt. Mittlerweile tobt das fuchsfarbene Stutfohlen ausgelassen über die Weide, schaut frech aus seiner Box heraus oder
kuschelt sich an die Ersatzmama. An den schwierigen Start ins Leben erinnern nur noch die kahle Stelle am Hals vom Katheter und krumme Beinchen vom vielen Liegen. „Das verwächst sich noch. Anfangs war es viel schlimmer“, sagt Brigitte Forstner.
Hollys Besitzer Lorenz Heiß ist stolz auf sein quicklebendiges Kaltblutfohlen: „Holly ist mittlerweile topfit. Da muss ich den Damen wirklich ein Kompliment machen.“
Holly und Mucki benehmen sich wie jeder andere Pferdenachwuchs. Ständig schauen sie sich Verhaltensweisen von ihrer Mutter ab. Dabei ist es egal, dass Frau Vogel nur ihre Ersatzmama ist. „Fohlen, die bei einer Amme aufwachsen, haben ein ganz normales Sozialverhalten“, erklärt die Verhaltensforscherin Uta König von Borstel von der Georg-August-Universität in Göttingen.
Anders ist das bei der reinen Flaschenaufzucht: „Die Fohlen verlieren die Distanz, sie drängen sich auf und sehen den Menschen als Artgenossen an“, sagt Uta König von Borstel. Grundsätzlich tragen Fohlen, die bei der Geburt oder kurz danach ihre Mutterstute verlieren, aber keine psychischen Schäden davon. „Das bekommen sie meist nicht richtig mit. Es dauert etwas, bis sie wirklich sagen: ‚Das ist meine Mama‘“, erläutert die Verhaltensforscherin.
Wer diese Stelle bei Holly und Mucki einnimmt, ist für die beiden klar: Sie lieben ihre Frau Vogel über alles. Während Holly im Stehen döst, beknabbern sich Mucki und Frau Vogel ausgiebig auf der Koppel. Dort verbringt die Familie täglich mehrere Stunden. Bei schlechtem Wetter sind die drei in der Reithalle.
Nach dem Auslauf geht es wieder in den Stall. Mucki ist mittlerweile schon alt genug, um in seiner eigenen Box zu sein. Frau Vogel und Holly beziehen gleich nebenan Quartier. Das Kaltblutkind legt sich nach dem anstrengenden Auslauf erst einmal in die Box und schläft ein. Auch Mucki döst vor sich hin. Nur Frau Vogel bleibt wach und hat ein Auge auf ihre Kinder.