CAVALLO Medizin-Kompendium
Grass Sickness - die gefährliche Gras-Krankheit

Grass Sickness – Schadstoffe im Gras können quälende oder sogar tödliche Folgen für Pferde haben. Welche Ursache steckt hinter der fatalen Erkrankung?

Grass Sickness
Foto: Lisa Rädlein

Es war nicht Island, aber das Wetter erinnerte im Frühjahr 1997 auf den nordfriesischen Inseln daran: mit einem Umschwung hin zu Kälte und starken Winden. Diese Wetteränderung hatte fatale Folgen für ein zweieinhalbjähriges Islandpferd: Die Muskeln der Stute zitterten, sie schwitzte, ihre Atmung war angestrengt; und obwohl die Stute hungrig war, konnte sie nicht kauen und schlucken. Das Jungpferd wurde zunehmend apathisch. Zwei Wochen nach Beginn der Erkrankung musste es eingeschläfert werden. Die Todesursache: Equine Grass Sickness, auch Graskrankheit genannt.

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Wie macht sich die Krankheit bemerkbar?

Tierärzte unterscheiden drei Formen der Graskrankheit: akut, subakut und chronisch – je nach Schwere der Symptome. Egal, um welche Form es sich handelt: Hierbei werden immer Teile des vegetativen Nervensystems, des Rückenmarks und des Stammhirns zerstört. Dadurch werden keine Impulse mehr an die Muskeln übertragen; nach und nach streiken deshalb Darm, Magen, Speiseröhre und Schlund.

Grass Sickness
Lisa Rädlein
Gefährliches Grün: Die Graskrankheit tritt vor allem zwischen März und Juli auf, meist nach trockenem, kühlen Wetter.

Zu den Anzeichen des akuten und subakuten Verlaufs zählen herabhängende Oberlider (Ptosis); das Pferd zeigt Kolik-Symptome wie Flehmen, Scharren oder Wälzen. Die Bauchdecke ist gespannt, der Darm gurgelt wenig oder gar nicht. Das Pferd ist benommen, apathisch; es schwankt und schwitzt auffallend viel. Erkrankt das Pferd chronisch, magert es ab. Der Bauch ist aufgezogen, die Hinterbeine untergestellt.

Bei akutem Krankheitsverlauf verenden die Pferde innerhalb weniger Tage, bei der subakuten Variante die meisten Patienten innerhalb einer Woche. Besser stehen die Chancen beim chronischen Verlauf (Patient überlebt länger als acht Tage): Die Symptome sind milder, Kolik tritt seltener auf. Etwa die Hälfte der chronisch kranken Pferde überlebt.

An der Graskrankheit sterben rund 600 Tiere pro Jahr in Großbritannien, die meisten davon im Nordosten Schottlands. Aber auch in Schweden, Dänemark und Deutschland tritt sie jedes Jahr regelmäßig auf. „In Deutschland sind es wohl um die 120 Fälle, in der Schweiz vermutlich ein Dutzend pro Jahr“, sagt Professor Reto Straub, der sich bereits seit Anfang der 1980er Jahre mit der Krankheit beschäftigt.

Was verursacht Gras Sickness?

Die Ursache der oftmals tödlichen Erkrankung ist nicht sicher geklärt. Allerdings deutet alles auf eine Vergiftung (toxische Ursache) hin. Vor allem der Botulismus-Erreger Clostridium botulinum wird als Auslöser diskutiert. Wissenschaftler vermuten, dass der Erregertyp C im Darm Gift produziert.

Die Grass-Sickness-Expertin Dr. Leonie Hunter von der Universität Edinburgh wies 1999 das Gift bei 74 Prozent der akuten und 67 Prozent der subakuten und chronischen Fälle nach. Auch Professor Helge Böhnel, ehemaliger Direktor am Institut für Pflanzenbau und Tierproduktion der Tropen und Subtropen der Universität Göttingen, fand Clostridien und deren Neurotoxin im Darm graskranker Pferde. Die Krankheit durch Botulismus-Toxin gezielt auszulösen, ist allerdings bisher nicht gelungen.

Ebenfalls unter Verdacht steht Klee, genauer: weißer Klee mit einem erhöhten Zyanidgehalt. Er könnte zum Entstehen der Graskrankheit beitragen: Denn Studien wiesen in Kleeproben von Weiden während eines Krankheitsausbruchs viel Zyanid nach. Pferde, die dort grasten, hatten in Blut und Urin einen hohen Zyanidanteil. Allerdings erkrankten auch Pferde, auf deren Weiden kein Klee wuchs.

Witterungsverhältnisse und Graswachstum scheinen ebenfalls eine Rolle zu spielen: Die meisten Fälle treten zwischen April und Juli auf mit einem Höchststand im Mai; allerdings gibt es auch geringe Häufungen in Herbst- und Wintermonaten. Vor gehäuften Ausbrüchen herrschte stets kühles, trockenes Wetter bei Temperaturen zwischen sieben und 11 Grad Celsius. Teilweise traten Erkrankungen mehrfach nach Wetteränderungen (Kälte und starke Winde) auf.

Wie stellt der Tierarzt die Diagnose?

„Eine definitive Diagnose ist erst nach dem Tod des Pferds möglich“, sagt Professor Straub. Dazu nimmt ein Pathologe Gewebeproben aus Nervenknoten und Darm und untersucht sie mikroskopisch, wobei er für die Grass Sickness typische Gewebeschäden findet.

In Schottland nutzen Tierärzte einen einfachen Test als Anhaltspunkt für die Diagnose am lebenden Tier: Der Patienten bekommt Phenylephrin-Augentropfen in 0,5-prozentiger Verdünnnung in ein Auge. Bei Grass-Sickness-Patienten heben sich innerhalb von 30 Minuten die Wimpern des Oberlids im Gegensatz zum unbehandelten Auge.

Welche Pferde sind Risiko-Kandidaten?

Betroffen von der Equinen Grass Sickness sind Pferde aller Rassen. Nur Saugfohlen scheinen geschützt zu sein. Am häufigsten sind Jungpferde zwischen zwei und sieben Jahren betroffen, darunter vor allem üppig gefütterte Drei- und Vierjährige. Meist waren die Pferde halb- oder ganztags auf der Weide. In einigen Fällen erkrankten Tiere, die nur wenige Minuten täglich grasten, selten welche, die gar kein frisches Gras fraßen: Vermutlich steckte hier der Giftstoff im Heu. Stress scheint ebenfalls ein Risikofaktor zu sein.

So behandeln Tierärzte und Therapeuten

Der Tierarzt leert den Magen per Magenschlundsonde. Infusionen helfen gegen das Austrocknen des Pferdekörpers und das Eindicken des Bluts. Prokinetika (etwa Cisaprid) aus der Humanmedizin fördern die Magen-Darm-Tätigkeit und stimulieren den Verdauungstrakt. Britische Forscher wiesen nach, dass Cisaprid auch bei Pferden einen teilweise gelähmten Darm wieder aktivieren kann.

Entscheidend für die Überlebenschancen ist auch die Krankenpflege mit intensivem Kontakt zum Menschen, betonen die britischen Grass-Sickness-Experten. Denn Streicheln, Abreiben und Putzen fördern das Interesse des Tieres an der Umwelt und können so den Lebenswillen stärken. Das Pferd zwei- bis dreimal täglich kurz herumzuführen, regt zudem seine Darmtätigkeit an.

Ist eine Behandlung von Gras Sickness sinnvoll?

Viele Tierärzte raten bei akuten und vielen subakuten Fällen von einer Behandlung ab, weil das Pferd leidet. Zeigt das Tier Überlebenswillen, kann sich der Behandlungsversuch aber lohnen. Ein graskrankes Pferd braucht allerdings intensive Rund-um-die-Uhr-Betreuung über mehrere Wochen.

Tierheilpraktikerin Julia Melanie Hahlweg aus Ditzingen/Baden-Württemberg gibt bei fehlenden Nervenreflexen sowie schwachen und zitternden Muskeln homöopathisch Curare und Opium als Unterstützung der schulmedizinischen Therapie. Hat das Pferd Lähmungserscheinungen oder wirkt es benommen, gibt sie Gelsemium. Nux vomica, Cuprum metallicum und Asa foetida sollen den Darm anregen. Kaliumcarbonicum hilft bei Schwäche, Muskelzittern, aufgetriebenem Bauch und Rückenschmerzen; Veratrum album bei Durchfall sowie geschwollenem Bauch.

Wie lässt sich vorbeugen?

So lange die Ursache für die Graskrankheit nicht feststeht, ist sicheres Vorbeugen nicht möglich. Pferde nach trockenem, kaltem Wetter mit Bodenfrost nur stundenweise auf die Koppel zu lassen, ist eine Option. Lag die Temperatur tagelang unter zehn Grad, sollten sie erstwieder nach drei, vier sonnigen Tagen auf die Weide. Vorsicht bei Weiden, auf denen Pferde graskrank wurden: Darauf sollten die Tiere nicht länger als einen halben Tag stehen. Der britische Grass Sickness Fund arbeitet an einer Impfung gegen die Krankheit.

Bittersüßes Weidegras

Eine Krankheit, die vor allem im Frühjahr und Herbst auftritt und das meist bei kühlen Wetterperioden – erinnert an Hufrehe. Die Krankheit kann durch Fruktane hervorgerufen werden, langkettige Zuckermoleküle im Gras. Der Fruktangehalt ist im Mai am höchsten, sinkt dann und steigt ab September wieder. Vor allem bei frostigem Wetter unter 5°C und Sonnenschein speichert Gras wegen vermehrter Photosynthese Fruktan, ebenso wie bei warmen Temperaturen und Trockenheit. Beim Weidegang also immer das Wetter im Blick behalten!

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Erscheinungsdatum 17.05.2023