Zack! Der Rappe schießt durch den Lamellenvorhang aufs Paddock. Flapp, flapp – schon saust der Friesenhengst zurück in seine Box. Hoch aufgerichtet, die Muskeln gespannt, Augen und Nüstern aufgerissen. Es ist Nachmittag, Rush hour im Reitstall. Dauernd passieren Pferde die Box.
Ihr Bewohner, Hengst Harke, begleitet jeden einzelnen hektisch, giftet, schnappt oder blubbert. Harke war einer von sechs Reithengsten in einem Freizeitreiterstall im Speckgürtel einer Großstadt. Neben ihm bewohnten noch drei junge PRE-Hengste, ein älterer Friesen-Hengst und ein junger Tinker-Hengst die Boxen der großzügigen Anlage.
Sie sind typische Vertreter eines bedenklichen Trends in deutschen Reitställen: der Hengsthaltung durch Freizeitreiter.
Immer mehr Hengste bevölkern Pensionsställe
Verlässliche Zahlen gibt’s nicht. Denn die Deutsche Reiterliche Vereinigung (FN), Versicherungen und Berufsgenossenschaften erfassen das Reitpferde-Geschlecht nicht systematisch. Friesenhengst Harke ist ein typisches Beispiel. Weil Einzelkoppeln mit ausreichen hohen Zäunen und genügend Abstand zueinander fehlten, kamen er und die anderen Hengste wenig auf die Weide.
Zog ein Hengst oder sein Nachbar um, musste oft die ganze Boxenreihe neu sortiert werden. Trotzdem fand nicht jeder Hengst einen guten Platz. Für Harke bedeutete der rege Pferdeverkehr direkt vor seiner Box nämlich eine Menge Stress. Weil immer wieder auch Stuten vorbeigeführt wurden, kam er kaum noch zur Ruhe.
Oft leiden Hengste in einem normalen Reitstall
„Ihr arttypisches Bedürfnis nach Sozialkontakt wird in Reitanlagen häufig nicht erfüllt“, erklärt Christa Wyss, Agrar-Ingenieurin am Schweizer Nationalgestüt Agroscope in Avenches. „Dabei können Hengste sogar in Gruppen leben, wenn die Bedingungen stimmen.“ So wie für 8 bis 10 Freiberger, die in Avenches nach der Decksaison gemeinsam auf einer großen Weide stehen.
„Sie haben genug Platz und Futter, Kumpel zum Spielen und keine anderen Pferde in der Nähe“, schildert Christa Wyss. „Sogar ältere Hengste, die seit ihrer Aufzucht nur die Box kannten, kommen gut klar. In sechs Jahren musste bisher nur ein Hengst wieder gehen, weil er zu viel Unruhe stiftete.“
Boxenhaltung kann gelingen - ist aber anspruchsvoll
„Hengste brauchen Sozialkontakt, Freilauf, freie Sicht auf die Umwelt und immer ausreichend Futter als Beschäftigung“, erklärt Christa Wyss. Und genau das fehlt in vielen Ställen. An Raufutter mangelt es oft generell. Zudem stehen Hengste häufig isoliert in dunklen Boxen, ohne Kontakt zu Artgenossen und ohne Sicht auf die Vorgänge im Stall. Diese Haltung führt zu sozialer Frustration.
Studien haben gezeigt, dass daraus Aggressionen entstehen. Hengste, die im Umgang schon prinzipiell anspruchsvoller sind als Stuten und Wallache, werden so noch schwieriger. Die Folge: Noch mehr Stress und wachsende Isolation.
Ein Umfeld ohne Stuten senkt den Stress
Ein bewährtes Konzept, wie Dressurausbilder Richard Hinrichs erklärt: „An Instituten wie der Spanischen Hofreitschule Wien gibt es weit und breit keine Stuten.“ Auf seinem Hof in Burgwedel bei Hannover hält es der Ausbilder ebenso: „Unter sich sind die Hengste einfach entspannter.“ Dass er deshalb auch mal auf eine talentierte Stute verzichten muss, bedauert der Trainer schon.
„Aber ich riskiere nicht, dass meine Hengste deswegen Stress bekommen“, sagt Richard Hinrichs. Schließlich sollen sie konzentriert und zufrieden in der Dressur mitarbeiten. Das klappt nur, wenn ihnen nicht dauernd der Duft von Stuten um die Nase weht.





Die Kastration bringt mehr Vor- als Nachteile
Wenn Hengst von Stuten umgeben werden, dann richtig. Das ist die Devise, wenn es um Hengste geht. Dürfen sie mit einer kleinen Herde leben, ist das nahezu ideal. Doch dafür muss man züchten oder unfruchtbare Stuten zur Verfügung haben. Und viel Fläche, sodass die Gruppe Ruhe findet.
Wer seinem Hengst keine pferdegrechte Haltung garantieren kann, sollte ihn kastrieren. Doch viele Reiter scheuen die Operation. So wie Stephanie Polzin, die Besitzerin von Friesenhengst Harke: „Er war neun, als ich ihn bekam. Tierärzte rieten davon ab ihn legen zu lassen, er wäre zu alt.“
Eine immer noch weit verbreitete Fehleinschätzung. Fachleute sind sich heute weitgehend einig, dass auch ältere Hengste erfolgreich kastriert werden können. Sind die Tiere fit, können sie selbst mit knapp 20 noch unters Messer. Mit dem passenden Operations-Verfahren ist das Risiko nicht wesentlich größer als bei jungen Hengsten.
Die OP bringt mehr Vor- als Nachteile
Danach verbessert sich das Leben für die Hengste oft nachhaltig. Sobald der Testosteron-Spiegel sinkt, werden sogar ältere Tiere schnell ruhiger. Manches über Jahre tief verwurzelte Verhalten bleibt zwar bestehen. Aber viele Ex-Hengste können sehr gut mit anderen Pferden in Gesellschaft leben.
So war das auch in Harkes Stall. Ein Macho nach dem anderen kam unters Messer. Zum Glück. Denn die meisten von ihnen waren kurz darauf Teil von kleinen Weidegruppen und bekamen endlich ausreichend Auslauf und Sozialkontakt.
Auch Harke ist seit gut einem Jahr nun Wallach
Die Kastration verlief ideal: „Schon zwei Wochen nach der OP blubberte er Pferde in der Nähe nicht mehr an“, sagt Stephanie Polzin. Beim Umzug vier Wochen später integrierte Harke sich problemlos in die dortige Wallach-Weidegruppe. Weitere sechs Wochen später durfte er in einen Wallach-Laufstall umziehen, wo der 14-jährige Friese seither zufrieden lebt.

Typische Hengstprobleme sind weg
„Harke ist seit der Operation viel ausgeglichener als früher“, erzählt seine Besitzerin. „Ich musste ihn früher täglich voll auslasten, damit er im Umgang kontrollierbar blieb. War er verletzt und durfte mal nicht so viel arbeiten, konnte er aus dem Nichts heraus ausrasten.“ Hengste brauchen tatsächlich sehr viel abwechslungsreiches Training, um ausgelastet und zufrieden zu sein.
Inzwischen verträgt der Friese mehrtägige Reitpausen gut. Und Stephanie Polzin muss nicht mehr für Reiter mitdenken, die die Risiken im Umgang mit Hengsten unterschätzen. Sie kann sogar entspannt in Urlaub fahren: „Harke ist so brav, ihn kann jetzt jeder versorgen. Als Hengst ging das nicht.“
Hengste können noch ganz andere Sorgen machen. Das zeigt der Blick in die USA. Dort gibt es immer mehr ungewollte und ausgesetzte Pferde. Die „Unwanted Horse Coalition“ (UHC), eine Vereinigung von Pferde-Fachleuten, hat 2010 die „operation gelding“ (Operation Wallach) ins Leben gerufen. Mit Spenden finanziert sie landesweit Kastrationen, um ungeplante Fohlen zu verhindern.
Soweit sind wir hierzulande zum Glück noch nicht. Dennoch ist der Schritt zum finalen Schnitt eine gute Tat. Einen Reithengst zum Wallach zu machen, lohnt sich. Vor allem fürs Pferd, das artgerechter leben kann.




