Die Jährlingsstute hatte sich in der Box festgelegen. Als Tierärztin Dr. Nathalie Tokateloff und einige Helfer das Jungpferd wieder auf die Beine gestellt hatten, zeigte die Stute alle Anzeichen eines Kreuzverschlags, wie steife Muskeln, hohe Muskelenzymwerte im Blut und dunklen Urin.
In den nächsten Tagen stiegen die Werte weiter an, die Stute baute Muskeln ab, und trotz intensivster Behandlung im Stall legte sie sich immer wieder fest. Woran litt sie nur? Eine Genanalyse gab Aufschluss: Die Stute war Doppelträgerin des MYH1-Gendefekts. Damit lag die Erkrankung nahe: immunvermittelte Myositis (IMM).

Was verursacht die Krankheit?
Eine Myositis ist eine Entzündung in den Muskeln. Die Besonderheit der immunvermittelten Myositis liegt darin, dass sie vom eigenen Körper hervorgerufen wird: Die Abwehrkräfte des Pferdekörpers halten hierbei körpereigene Proteine in den Muskelzellen für Eindringlinge und greifen diese daraufhin an.
Welche Pferde können daran erkranken?
„Grundsätzlich kann diese Art der Muskelentzündung bei vielen Pferderassen auftreten“, sagt Dr. Nathalie Tokateloff aus Haag/Oberbayern. Allerdings haben einige Pferde ein viel höheres Risiko, daran zu erkranken: nämlich Quarter Horses, Paint Horses, Appaloosas und andere verwandte Rassen.
Grund hierfür ist ein Gendefekt, der bislang nur bei diesen Rassen bekannt ist. Bei Tieren mit diesem Defekt ist das MYH1-Gen verändert. Das führt dazu, dass eine Protein-Art (Myosinprotein) in bestimmten Muskelzellen anders aussieht.
Wenn das Immunsystem durch eine Impfung, intramuskuläre Injektion, Muskelverletzung (etwa nach einem Tritt) oder einen Infekt auf dieses Protein aufmerksam wird, können die Abwehrkräfte das Protein mit einem Bakterium verwechseln und bekämpfen.
Bei Pferden können ein oder zwei Allele (Kopien eines Gens, von dem jedes Pferd zwei besitzt) von dieser Mutation betroffen sein. Die Veranlagung allein ist nicht alles: Der Erbgang ist autosomaldominant mit variabler Penetranz. Das heißt, es braucht zusätzlich einen Trigger (wie Infekt oder Impfung), um eine immunvermittelte Myositis auszulösen.
„Man weiß noch nicht, wie groß der Anteil an Pferden mit diesem Gendefekt ist, der letztlich auch an IMM erkrankt“, betont Nathalie Tokateloff. „Genauso ist offen, ob Doppelträger dieses Gendefekts häufiger und heftiger erkranken. Das wird derzeit noch erforscht, vieles deutet aber bislang darauf hin.“
Schübe treffen vor allem Tiere im Alter von bis zu 8 Jahren oder ab 17 Jahren. Stuten, Wallache und Hengste sind gleichermaßen betroffen. Nach derzeitigem Forschungsstand haben 6,8 Prozent der Quarter-Horse-Population diese Veranlagung. In bestimmten Blutlinien scheint der Gen-Defekt häufiger aufzutreten, etwa bei Reining-Pferden (24,3 Prozent der Elite-Reiner), Working-Cow-Horses (17,1 Prozent) oder auch Halter-Pferden (16 Prozent).
Wie macht sich die Krankheit bemerkbar?
Pferde, die an IMM erkranken, verlieren Muskelmasse – und das rapide: bis zu 40 Prozent innerhalb von 72 Stunden. Vor allem Muskeln an Rücken, Kruppe und Hinterhand sind davon betroffen. Der Muskelschwund kann noch einige Monate anhalten.
Zudem können die Muskeln steif sein; das Pferd hat einen steifen oder schwankenden Gang. Weitere Symptome sind allgemeine Schwäche, Fieber oder Apathie. Weniger verbreitet, aber ebenfalls auftreten können feste Muskulatur oder leichtes Muskelzucken. Manche Tiere liegen sich fest.
Wie stellt der Tierarzt die Diagnose?
„Eine Biopsie ist der sicherste Weg, um IMM festzustellen“, sagt Tierärztin Tokateloff. Anhand der Probe aus den betroffenen Muskeln kann der Tierarzt herausfinden, ob in den Muskelzellen Lymphozyten auftreten, eine Untergruppe der weißen Blutkörperchen. Allerdings sollte der Tierarzt die Biopsie möglichst schnell nach Auftreten der ersten Symptome durchführen: Werden die Zellen erst Wochen nach Beginn des Muskelverlusts untersucht, kann es sein, dass die Lymphozyten fehlen. Das erschwert die Diagnose.
Eines der wichtigsten Symptome ist, dass bei erkrankten Pferden die Zahl weißer Blutkörperchen sowie bestimmter Enzyme (Kreatinkenase, CK, und Aspartat-Aminotransferase, AST) erhöht ist. Der Wert dieser Enzyme steigt an, wenn die Skelettmuskulatur geschädigt ist.
„Die Biopsie zeigt jedoch nur an, ob in den Muskeln eine Entzündung vorliegt“, so Tierärztin Tokateloff. Um den Gendefekt festzustellen, ist eine Blut- oder Haaranalyse notwendig. „Erst wenn beides vorliegt, kann man sicher sagen, dass es sich um eine MYH1-Myopathie handelt.“ Bei späteren Schüben kann der Tierarzt dann besser reagieren.
So behandeln Tierärzte
Je schneller ein erkranktes Pferd behandelt wird, umso besser sind die Erfolgschancen. Die Überlebensrate liegt bei 87 Prozent; die Prognose verschlechtert sich etwas, wenn die Pferde zugleich eine fieberhafte Infektion durchmachen.
Empfohlen wird eine Kortison-Behandlung mit Dexamethason (0,05 bis 0,1 mg/kg, intravenös, einmal täglich mit anschließender Dosis-Reduktion um 25 Prozent für ein paar Tage), gefolgt von Prednisolon p.o. (1 mg/kg, einmal täglich, mit Dosisreduktion um 25 Prozent alle paar Tage für insgesamt zwei bis sechs Wochen). Hat das Pferd zudem eine Infektion, sollte es noch mit Antibiotika behandelt werden. Eine intravenöse Flüssigkeitsgabe beugt einem möglichen Nierenversagen vor.
Bei den meisten Pferden ist die Muskelatrophie komplett reversibel. Je nachdem, wie ausgeprägt der Muskelschwund war, dauert es zwischen einer Woche und mehreren Monaten, bis die Muskeln wieder aufgebaut sind. Unterstützen kann man das mit einer Vitamin-E- und Aminosäurenreichen Fütterung.
Auswirkungen auf die Zucht
Seit 2018 können Reiter mithilfe eines Gentests herausfinden, ob bei ihren Tieren das Gen MYH1 mutiert ist. Von den Zuchtverbänden gibt es noch keine Empfehlung; es wird momentan nur geraten, keine Pferde zu verpaaren, die eine oder zwei MYH1-Mutationen besitzen. So wird vermieden, dass unter den Nachkommen Doppelträger sind.
Was noch erforscht wird
Der Gendefekt kann eine weitere Erkrankung hervorrufen: die anstrengungsunabhängige Rhabdomyolyse. Erkrankte Pferde zeigen Symptome, die denen eines Kreuzverschlags ähneln, jedoch ohne zuvor stark gearbeitet zu haben. Die CK-Werte der Tiere sind stark erhöht, bei etwa der Hälfte schwindet die Muskulatur. Wissenschaftler erforschen derzeit, was zu dieser Krankheitsform führt.
Ebenso wollen Forscher um Professor Stephanie Valberg (Michigan State University/USA) herausfinden, wie viele Pferde mit diesem Gendefekt wirklich erkranken und welche Trigger IMM auslösen können. Pferdebesitzer können dabei mithelfen: Nathalie Tokateloff stellt auf ihrer Website (www.tieraerztealtdorf.de) für Besitzer von getesteten Einzel- oder Doppelgenträgern einen Fragebogen bereit und leitet diesen an Prof. Stephanie Valberg weiter.
Aufbau der Muskulatur
Ausgangspunkt der immunvermittelten Myositis ist das Myosinprotein in einer bestimmten Gruppe von Muskelfasern. Haben Pferde eine entsprechende genetische Disposition (Veranlagung), sieht das Protein bei ihnen etwas anders aus: Die Oberfläche ähnelt der eines Streptokokken-Bakteriums.
Das eigene Immunsystem kann das Protein daher mit einem Eindringling verwechseln und angreifen. Das Myosinprotein zerfällt, und als Folge werden die Zellen in den Muskelfaserbündeln abgebaut, aus denen der Muskel besteht. Betroffen sind vor allem die sogenannten 2X-Fasern. Die Muskulatur entlang der Oberlinie, also Rücken und Kruppe, besteht zu 40 bis 80 Prozent aus diesem Typ Muskelfasern; deshalb sind diese Bereiche von der Erkrankung besonders betroffen.