Dr. Arno Lindner: Dass sich unser Wissensstand geändert hat, lässt sich am Begriff ECVM selbst am besten ablesen. Ursprünglich stand ECVM für Equine Cervical Vertebral Malformation. Cervical bedeutet "zum Hals gehörend”. Dann stellte man fest, dass es nicht nur anatomische Variationen an den letzten beiden Halswirbeln C6 und C7, sondern auch an den ersten beiden Rippen und dem ersten Brustwirbel T1 gibt. Daher ist heute der Begriff Equine Complex Vertebral Malformation gebräuchlich, der Wirbel und Rippen umfasst. Das "C” wird von einigen Forschungsgruppen aber auch für congenital, also angeboren, genutzt. In der Wissenschaft wird inzwischen der Begriff Equine Caudal Cervical Morphologic Variation (ECCMV) vermehrt verwendet.
Das ist noch völlig ungeklärt. Die Studie von 2023, veröffentlicht von Zimmermann, Ros, Pfarrer und Distl, auf die Sie sich beziehen, fand zwar mögliche Hinweise darauf, dass ECVM vererbbar sein könnte. Sie hatten fünf historische Skelette ausgewertet und bei drei Pferden anatomische Veränderungen an den Halswirbeln gefunden. Das waren drei Vollblüter-Hengste, die für die deutsche Zucht eine große Rolle gespielt haben: Dark Ronald, Der Loewe und Birkhahn. Daraufhin hatten die Forscher 20 Nachkommen dieser Hengste untersucht und bei zehn von ihnen ebenfalls Veränderungen an den Halswirbeln C6 und C7 gefunden. Aber diese Studie kann man nur als Pilotstudie einordnen. Wirklich bewiesen ist aus meiner Sicht nicht, dass ECVM vererbbar ist. Es laufen derzeit aber einige Studien, die genau das untersuchen.

Dr. Arno Lindner ist Gründer der Arbeitsgruppe Pferd und Vorsitzender des Vereins zur Förderung der Forschung im Pferdesport (FFP). Der Tierarzt und Netzwerker arbeitet in der Forschungsgruppe EQUCAP mit, die ECVM bei Pferden untersucht. Mehr Infos unter: www.agpferd.com
Es gibt in Deutschland zwei größere Forschungsgruppen, die sich mit ECVM beschäftigen. Hinter der einen steht die International Association of Future Horse Breeding (IAFH), ein Zusammenschluss mehrerer Zuchtverbände in Zusammenarbeit mit der TiHo Hannover, etlichen Tierärzten und Wissenschaftlern. Die andere Gruppe ist EQUCAP, an der ich auch mitwirke. Wir sind 2024 gestartet und sammeln derzeit Daten von Pferden. Dr. Sue Dyson, eine bekannte Wissenschaftlerin aus England, analysiert diese. Mit einer Auswertung rechnen wir aber nicht vor 2028, weil die Datenerhebung sehr aufwändig ist. Gleichzeitig versuche ich in einer Parallel-Studie herauszufinden, seit wann es Veränderungen an den Halswirbeln und Rippen der Pferde gibt.
Ich habe die Pilotstudie von Zimmermann et.al. zum Anlass genommen und bei Museumskuratoren angefragt, ob sie noch mehr Skelette von Pferden haben, die wir untersuchen könnten. Von dort aus habe ich Kontakte zu Paläoanatomen geknüpft. Diese untersuchen Mensch-Tier-Umwelt-Beziehungen, versuchen also beispielsweise aus Pferdeskeletten Rückschlüsse auf deren Nutzung zu ziehen. Mit meiner Anfrage stieß ich auf offene Ohren, und sie halfen mir mit ihren Kontakten unheimlich weiter. Mittlerweile habe ich Fotografien von über 100 Pferde-Halswirbelsäulen gesammelt und teils selbst fotografiert. Darunter waren Skelette aus der Römerzeit, dem Mittelalter oder der Neuzeit. Bisher konnte ich nur an der Halswirbelsäule eines Exmoor-Ponys, das 1989 starb, die charakteristischen Veränderungen an C6 und C7 finden. Aber wir brauchen noch viel mehr von diesen alten Halswirbelsäulen.

Nein, aber es gibt eine mögliche Tendenz. Es gibt zwei Studien von DeRouen und Beccatti, die Verbindungen zwischen diesen anatomischen Variationen einerseits und Bewegungsstörungen bis hin zu Lahmheit und Unrittigkeit andererseits herstellen. Zwei andere Studien von Crijns und Veraa konnten hingegen keinen Zusammenhang finden. Das Problem ist allerdings auch, dass diese Studien Schwächen haben, weil die Daten retrospektiv gewonnen wurden. Heißt: Rückblickend, von Pferden, die nicht explizit darauf untersucht wurden. Auch die Kontrollpferde waren nicht unbedingt mit den Fallbeispielen vergleichbar. Das wird auch von den Autoren selbst als Manko gesehen. Eine Forschergruppe um Dr. Sue Dyson hat einen Befundbogen und ein Röntgenprotokoll erarbeitet und anhand dessen die Daten von rund 200 Pferden für eine prospektive, also vorausschauende Studie ausgewertet. Die Autoren kommen zum Schluss, dass es eher keinen Zusammenhang zwischen klinischen Auffälligkeiten und der Anatomie der kaudalen Halswirbel gibt. Man muss zudem bedenken: Die Zucht unserer Pferde hat sich in den letzten Jahren sehr verändert. Die Tiere sind in vielen Fällen schmalbrüstiger geworden, hypermobil, größer. Auch das beeinflusst natürlich das Gangbild der Tiere. Was letztlich für Ganganomalitäten ausschlaggebend ist, lässt sich in diesem Umfeld nicht so leicht feststellen.
Die Forscherin Sharon May Davis hatte für eine wissenschaftliche Arbeit Galopprennpferde seziert, von denen sie wusste, dass diese Ganganomalitäten hatten. Tatsächlich fand sie dann bei 30 Prozent der Galopper anatomische Veränderungen an der Halswirbelsäule. Dazu muss man wissen: CVM gibt es auch beim Rind, da sind diese Veränderungen aber letal; Kälber, die das haben, sterben. Darauf basiert womöglich die Annahme, dass ECVM eben nicht nur ein anatomischer Befund ist, sondern ein pathologischer – also krankhaft. Weil sich die Röntgentechnik weiterentwickelt hat, wird heute viel häufiger und insbesondere besser C6 und C7 geröntgt, teilweise auch der erste und zweite Brustwirbel und deren Rippen. Somit finden wir eventuell auch mehr Befunde als früher. Aber wie sich das auswirkt, wissen wir eben noch nicht.
Projekt Equcap
An der internationalen Forschungsgruppe EQUCAP sind 14 Tierärzte und Forschende beteiligt. Sie gehen der Frage nach, ob anatomische Variationen von C6, C7 und T1 vererbbar sind und ob diese zu Bewegungsstörungen bis hin zu neurologischen Störungen beitragen. Die Forschungsgruppe sucht noch Pferdebesitzer, die sich mit ihren Tieren beteiligen.
Infos unter: pferdeforschung-halswirbel.de





