Wanderreiten: Spurensuche in Masuren zu Pferde

Polen: Auf den Spuren von Marion Gräfin Dönhoff
Spurensuche in Masuren

ArtikeldatumVeröffentlicht am 27.12.2025
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Mit jener Gewissheit, mit der man nur Wunder erwartet”, seien sie losgeritten, schrieb die spätere ZEIT-Herausgeberin Marion Gräfin Dönhoff in ihrem Buch "Ritt durch Masuren”. Zwei Frauen, zwei Pferde, 200 Kilometer, 5 Tage. Von Allenstein, nahe dem Dönhoffschen Gut Quittainen bis nach Steinort, dem Schloss der Familie Lehndorff, ritten Marion und ihre Cousine Sissi im September 1941 durch die Weite und Stille Ostpreußens. Sie durchquerten dieses Land mit seinen 3 000 Seen, das ihre Heimat war und das Marion Dönhoff drei Jahre später auf der Flucht vor der russischen Armee verlassen würde. "Es ist unsagbar schön, auf diesem sandigen Boden zu traben, das Laub raschelt unter den Hufen – Buche und Eiche wechseln, dazwischen steht dann und wann eine Linde oder der rote Schaft einer Kiefer.”

Über 80 Jahre später sind wir drei Frauen und vier Männer, die insgesamt 235 Kilometer durch Dörfer reiten werden, in denen Holunder, Kornblumen, Quitten, Mirabellen, Heckenrosen und lilafarbene Äpfel aus den Gärten rund um verwitterte dunkelbraune Holzhäuser mit weißen Fensterrahmen und Schnitzereien am Giebel quellen. Vorbei an winkenden Frauen in Schürzen, Storchennestern, schilfbewachsenen Seen, durch lichte Birkenwälder und auf alten Eichenalleen mit silbernen Altweibersommer-Fäden an den Ästen. Aber auch plötzlich über vierspurige neue Straßen inmitten eines Nirgendwo, an deren Rand alle fünf Meter eine neue Laterne steht, vorbei an Neubauten mit großen Garagen. "EU-Gelder”, sagt Tadeusz Zebrowski, unser Reitführer, und grinst.

Es sind seine Pferde, vorrangig polnische Maopolskas, robuste und schnelle Anglo-Araber, auf denen wir sitzen. Wir sind zwischen 50 und 79  Jahre alt, ein ungewöhnlich hoher Altersdurchschnitt für eine Wanderreitgruppe, aber vielleicht liegt es auch daran, dass wir alle hier etwas suchen, was es sonst kaum noch in Europa gibt. Eine scheinbar längst verloren geglaubte Landschaft und eine Ahnung von der bewegten Geschichte einer Gegend, die jahrhundertelang zu Ostpreußen gehörte.

Alles wie 1941 – Sandwege, Heidekraut, Kraniche

Für Marion von Dönhoff und ihre Cousine Sissi von Lehndorff war es ein Abschiedsritt. In ihrem Buch ist zu lesen, dass sie damals schon ahnte, dass sie ihre Heimat, diese für sie so heile Wälder-und-Seen-Welt ihrer Kindheit, verlieren würde, denn Soldaten, militärische Transporte begegneten den beiden Frauen unterwegs immer wieder. Es ist September 1941, der Krieg ist an allen Grenzen. Es leben jetzt andere Menschen in ihren Dörfern, die auch andere Namen tragen, polnische, aber die Landschaft ist immer noch da, die Sandwege, das Heidekraut, die Wälder, wir hören die Schreie der Kraniche, die über uns in Formation ziehen, riechen das welke Laub, das unter den Galoppsprüngen unserer Pferde hochgewirbelt wird, so wie es auch Marion von Dönhoff beschrieb.

CAVALLO-Autorin Beatrix Gerstberger saß sechs Tage lang im Sattel
Melanka Helms

In der ersten Nacht, bevor es losgeht, wohnen wir in einem alten Forsthaus in Kruklanki. Das Essen ist deftig und all die dampfenden Schüsseln und Platten passen kaum auf den langen rustikalen Holztisch. So wird es von nun an jeden Abend sein. Wir essen uns auf dieser Reise durch die masurische Küche, mal von einer Frau und ihren Schwestern in einer kleinen einfachen Unterkunft gekocht, mal von einem ehemaligen Manager, der sein Glück auf einem einsamen Hof gesucht hat, mal von einem geschickten Hotelkoch. Wir essen Knödel, Gulaschsuppe, Kohlwickel, selbstgebackene Brote, Schweinefleisch, eingelegte Rote Bete, mit Sauerkraut und Pilzen gefüllte Piroggen, Forellen, Maränen und zum Nachtisch Walderbeeren oder mehrstöckige Torten.

Tadeusz holt uns am nächsten Morgen ab. Graugänse sammeln sich auf den Feldern zum Flug in den Süden, als wir seinen Hof erreichen. 11 Pferde hat er. Er ist Ostpreuße, sagt er, hier geboren und aufgewachsen. Er hat in Deutschland gearbeitet und irgendwann festgestellt, dass das, was er wirklich liebt, die Pferde sind und das Reiten durch die Wälder. Und weil auf diesen Touren immer wieder Menschen in den Dörfern, durch die er ritt, von der Gräfin auf ihrem dicken Braunen und ihrer Cousine auf dem leichtfüßigen Fuchs erzählten, weil diese beiden Frauen so allgegenwärtig auch nach so langer Zeit waren, besorgte er sich das Buch und begann die alten Wege und Orte zu recherchieren.

Niemandem geht es um die Genauigkeit des Wegs

Vieles war nicht mehr da, Sand war zu Asphalt geworden, Felder plötzlich wieder zu dunklen Fichtenwäldern, Forsthäuser, in denen sie schliefen, wo man ihnen Kartoffeln briet und ihre Pferde fütterte, waren verfallen, aus Lichtungen, auf denen sie mittags picknickten, Gewerbegebiete geworden. Aber was zählte für Tadeusz, war diesem Sehnsuchtsort Masuren der Gräfin durch geschickte Improvisation und innovative Streckenführung möglichst nah zu kommen. Auch niemandem von uns geht es um die Genauigkeit des Weges, sondern um die Landschaft, die immer noch so unglaublich weit und grenzenlos ist und manchmal wie unberührt scheint. Nichts gilt unter vielen Trail-Reitern als schöner, als über die kilometerlangen weichen Sandwege Masurens zu galoppieren, in einem Tempo, das zu Hause angesichts all der Zäune, Straßen und Regeln, die einen zum Halten zwingen, nicht mehr möglich ist.

Unter der Führung von Tadeusz Tochter Agata machen wir jeden Morgen nach einem schnellen Frühstück die Pferde fertig. Holen sie von den nächtlichen Weiden neben unseren Unterkünften, putzen und satteln sie. Tadeusz fährt inzwischen mit dem Gepäck zum nächsten Hotel und ruft aus dem geöffneten Autofenster: "Denkt dran, es sind masurische Kilometer, die können lang werden, ihr müsst schnell reiten, sehr schnell, sonst ist es schon dunkel, bevor ihr ankommt.”

Und sie werden lang, diese masurischen Kilometer. Jeden Tag sitzen wir zwischen sechs bis neun Stunden auf unseren Pferden. Die Sättel sind ungewohnt, vor allem die, die nach dem Vorbild deutscher Militärsättel von 1936 gebaut wurden und auf die Tadeusz schwört. Ebenso wie auf den angeblichen Tipp eines befreundeten Arztes, dass man vor allem bei Muskelkater in den ersten Tagen unbedingt abends ein Bier trinken muss. "Und schon ist der Muskelkater verschwunden.”

Wanderreiten ist das absolute Leben im Jetzt

Wir finden unseren Rhythmus mit den Pferden und mit der Gruppe. Wer vorn an der Spitze reitet, wer lieber hinten bummelt. Gespräche unter gestern noch Fremden werden schnell persönlich und nah und am Abend, nachdem die Pferde versorgt sind, sitzen wir noch vor dem Duschen zusammen, trinken ein bis zwei Muskelkater-Biere, sind verklebt, verdreckt und verschwitzt und eine Gemeinschaft, die sich im Leben zuhause vielleicht so nie getroffen hätte. Eine Physikerin, ein Biologe vom Max-Planck-Institut, ein IT-Dienstleister, ein Germanist, ein Ingenieur, zwei Journalistinnen. Der eine mit Lederhut, Jeans, Halstuch und dem immer gleichen T-Shirt, der andere im perfekten Reitkatalog-Outfit mit Wachsmantel und polierten Stiefeletten. Wanderreiten in der Gruppe ist das absolute Leben im Jetzt. Um nichts muss man sich selbst kümmern, alles ist geplant und deshalb gibt es nur die Landschaft, die Bewegungen des Pferds, Gespräche und Schweigen, nichts, an dem sich die Gedanken verhaken. Es sind Stunden voller Geschwindigkeit und Stillstand, es ist die perfekte Entschleunigung.

Ein leckeres Vesper beim Wanderritt
Melanka Helms

Unsere Mittagspausen machen wir oft an kleinen Seen, wie auf der grünen Landzunge am Ufer des Niedersees. Wir lassen die Pferde frei laufen, wie Scherenschnitte stehen sie vor uns am Ufer und grasen, während wir unter dem hellgrünen Blätterdach der Birken auf dem Rücken liegen, Brote und aufgeschnittene Wildwürste essen. Eines der Gebiete, durch die wir reiten, ist die Johannisburger Heide, Polens größtes Waldgebiet. Es ist ein Paradies für Pilzsammler, fast hundert essbare Sorten gibt es hier, darunter den honiggelben Hallimasch, der in der Dunkelheit leuchtet. Wir dürfen diese Wälder nicht einfach mit einem Pferd betreten, sagt Tadeusz. "Polnischer Umweltschutz”, ruft er und reckt die Hände klagend in den Himmel. "Dabei ist Pferd doch Natur. Mehr Natur geht nicht!” Unendlich viele Forstämter mussten erst ihre Zustimmung geben, dass wir durch ihren Wald reiten dürfen, und so hat Tadeusz einen Haufen Zettel mit Stempeln dabei, die er jederzeit vorzeigen könnte. Aber niemand möchte diese Zettel sehen.

Pferde sind in Polen überall willkommen

Polen ist ein pferdebegeistertes Land und mit dem Pferd unterwegs zu sein, heißt überall willkommen zu sein. Unsere Pferde schlafen jede Nacht auf einer nahen Wiese, manchmal können wir sie in nicht so dunklen Nächten aus unserem Zimmerfenster sehen, wie sie sich wälzen und schnauben und langsam über die Weiden bewegen. "Es ist so ein beseligendes Gefühl, so durch die herbstliche Landschaft zu reiten, ganz leicht und beschwingt fühlt man sich, fern von aller heimatlichen Begrenzung und den Sorgen des Alltags”, schrieb Marion von Dönhoff. Und je länger wir reiten, desto weiter entfernt sich tatsächlich alles, was sich zu Hause stapelt an Aufgaben und Sorgen und Leben.

Wir hören das Trommeln der Pferdehufe auf dem weichen Waldboden, halten unter Birnbäumen, stehen im Sattel auf, pflücken die saftigen Birnen und lassen die Pferde von ihnen kosten. Morgens schwebt der Herbstnebel über den Wiesen, und wenn der Tag warm und der Himmel so unfassbar blau wird, riecht es nach faulenden Äpfeln am Straßenrand und nach Pflaumen. Eine alte Frau reicht uns Mirabellen über den Zaun, Hunde laufen im Rudel die Dorfstraßen neben uns her. Ein Elch tritt plötzlich aus dem Gebüsch und betrachtet uns. Still bleiben wir stehen, die Pferde werden unruhig, da dreht er ab und verschwindet wieder im dichten Grün.

Wir galoppieren über abgeerntete Felder, waten durch einen trägen schilfgrünen Fluss, werden nass bis auf die Haut beim Ritt an einem regenreichen Tag durch einen Mischwald, trocknen unsere Kleidung vor einem offenen Kamin in einem alten Gutshaus, und als wir am nächsten Tag vom Hof reiten, stehen die Gäste und Angestellten Spalier und rufen uns Abschiedsgrüße hinterher.

Unsere letzte Unterkunft liegt einsam inmitten von Wiesen in Malszewo. Am Horizont ist ein Wald zu sehen, dahinter versteckt sich wieder ein See. Es ist ein altes Fachwerk-Forsthaus, liebevoll restauriert von einem ehemaligen Reality-Show-Star und Immobilienmogul aus Warschau. Wir sind die einzigen Gäste und wohl auch seine letzten, sagt er. Er wollte noch einmal die Pferde und Gäste von Tadeusz in seinem Haus haben, bevor er es endgültig schließt. Unsere Satteldecken liegen schweißnass über dem verschnörkelten Holzgeländer eines großzügigen Balkons. Sich bunt färbendes Weinlaub bedeckt die gegenüberliegende Scheune, die Herbstsonne bahnt sich ihren Weg durch Brombeerbüsche und Birken, und später am Abend steht der Besitzer in der riesigen Küche und kocht für uns. In der Nacht umrunden die Hirsche sein Haus, stehen plötzlich da auf dem sanft ansteigenden Hügel hinter unseren Zimmern im Licht des Vollmonds und brüllen. An Schlaf ist nicht zu denken.

Literarische Begleitung in der Satteltasche

Das Buch der Gräfin, das ich immer in meiner Satteltasche dabei hatte, wird von allen unterwegs gelesen. Jemand hat es über Nacht auf dem verwitterten Holztisch auf der Balkon-Veranda liegen lassen, die Seiten wellen sich, da wo das Buch aufgeschlagen ist: "Wir reiten langsam im halbverkühlten Sonnenschein des Nachmittags gen Norden, vielfach ohne Weg, entweder unmittelbar am Wasser oder durch den hohen Bestand, der bis an das oft steil abfallende Ufer heranreicht. Die Sonne färbt die Kiefernstämme glühend rot und lässt das Buchenlaub in allen Schattierungen von leuchtendem Gold bis zum tiefen Kupferton erstrahlen. Unten liegt der See, eingefasst von einem Saum lichtgelben Schilfs. Herr Gott, wie schön diese Welt ist – sein könnte…"

Info: Reiten in Masuren

235 Kilometer führte die Route von Gräfin Marion von Dönhoff die Reiter einmal quer durch Masuren. Wer ähnliches erleben möchte, kann bei Pferd & Reiter Wanderritte durch Masuren buchen. Sechs Tage geht es mit maximal vier weiteren Gastreitern entlang unzähliger Seen, durch ursprüngliche Dörfer und das Waldgebiet der Borecka-Heide. Weitere Infos unter pferdreiter.de

Marion Gräfin Dönhoff

Marion Gräfin Dönhoff wuchs auf Schloss Quittainen in Masuren auf. Die weite Landschaft aus Wäldern und Seen prägte sie tief. 1945 kehrte sie ein letztes Mal dorthin zurück, bevor sie ihr ostpreußisches Zuhause für immer verlassen musste – ein Abschied von Kindheit und Herkunft.