Dreamboy ist in festen Händen – zu festen. Das hannoversche Halfter des dunkelbraunen Springpferds ist so eng gezurrt, dass der Wallach kaum noch Luft bekommt. Seine Nüstern blähen sich unter Hochspannung, die Lippen sind fest aufeinander gepresst, Dreamboys Blick wirkt starr. Das Pferd hat Schmerzen.
Wir befinden uns in einem Reitstall bei Stuttgart: Freizeit- und Turnierreiter reichen sich hier die Klinke in die Hand. Perfekte Bedingungen. Wofür? In den vergangenen Wochen überprüfte die CAVALLO-Redaktion gemeinsam mit Tierärztin Dr. Kerstin Tönnies aus Hattersheim/Hessen die Reithalfter von insgesamt 100 Freizeit- und Turnierpferden. Je buntgemischter ein Stall, umso mehr Eindrücke konnten wir sammeln und hinterfragen, welche Reitertypen was geschnallt haben.
Als Messinstrument nutzten wir einen Prototyp namens "F&F", den die Tierärztin speziell für solche Messungen entwickelte. Was uns dazu bewegte? Viele Reiter verschnallen die Reithalfter falsch, wie wir immer wieder auf unseren Reisen quer durch Europa feststellen müssen. Warum tut sich nichts, und was könnte die Knebelpraxis endlich beenden?
In über 30 Jahren hat sich zu wenig fürs Pferdemaul getan
Vor allem in der Turnierszene haben stramme Nasenriemen feste Tradition. "Dabei diskutieren wir das leidige Thema seit über 30 Jahren", bemängelt Dr. Madeleine Martin, Landestierschutzbeauftragte vom Hessischen Ministerium für Umwelt, Klimaschutz, Verbraucherschutz und Landwirtschaft in Wiesbaden. "Wir kommen in dieser Sache keinen Schritt weiter."
Die Ergebnisse unserer Messungen scheinen Dr. Martin recht zu geben: Über die Hälfte der kontrollierten Reithalfter saßen zu eng. Was betroffene Reiter dazu sagten? Die schlimmsten Ausreden und Missverständnisse haben wir auf jeder Seite hervorgehoben.
Auch Dressurausbilder Michael Putz (http://www.michael-putz.de) muss bei fast allen Lehrgängen die Nasenriemen korrigieren. "Viele Reiter wissen es nicht besser – und sind regelrecht erschrocken, wenn ich sie auf zu enge Riemen aufmerksam mache."
CAVALLO ist die Knebelpraxis an Pferdemäulern freilich schon länger ein Dorn im Auge. Ob wissentlich oder nicht: Zu enge Nasenriemen sind Tierquälerei! Bereits vor 14 Jahren überprüften wir zusammen mit Michael Putz die Reithalfter einiger hundert Turnierpferde. Bei gut einem Drittel waren sie zu fest geschnallt. Putz kritisierte damals, die Richtlinien seien nicht präzise und machten es schwer, objektiv zu beurteilen, ab wann ein Riemen zu fest ist. Doch:
Reiter sollten es besser wissen. In der aktuellen 30. Auflage der "Grundausbildung für Reiter und Pferd" der Richtlinien für Reiten und Fahren (FN, 2014) kann jeder anhand der allseits bekannten Zweifingerregel nachvollziehen, was sich rund ums Pferdemaul gehört. Das wäre zuvor freilich auch schon möglich gewesen: Das Werk basiert nämlich wie alle Vorgänger auf der Heeresdienstvorschrift von 1912 (H.Dv.12). In der stand bereits deutlich, dass "der Kinnriemen nur so eng geschnallt sein" soll, "dass das Pferd noch kauen kann."
Enge Nasenriemen sollen mieses Reiten kaschieren
Der Grund des Übels: Viele wollen die deutsche Reitlehre befolgen, können aber nicht reiten. Nach der Lehre gelten Maulprobleme als Zeichen harter Hand oder falscher Ausbildung – vorausgesetzt, das Pferd ist gesund und seine Zähne sind in Ordnung. Zeigt es in einer Dressurprüfung die Zunge, ist man jedoch weg vom Fenster. Dasselbe gilt, wenn es mit den Zähnen knirscht oder das Maul aufsperrt. "Das Maul zuzuschnüren geht daher schneller, als an eigenen Fehlern zu arbeiten", sagt Dr. Martin. Schaurig, denn:
Harte Hände wirken wie Folter
Durch den Zug wird die Zunge schmerzhaft gequetscht. Dem versucht das Pferd zu entkommen, indem es das Maul aufsperrt. Andere Tiere strecken die Zunge heraus – beide Verhaltensweisen sind eine Bankrotterklärung für Reiter.
Also ziehen manche die Riemen so sehr zu, dass das Maul eben geschlossen bleibt. Das Pferd kann dem Druck der Hand nicht mehr entweichen, verspannt in der Kaumuskulatur und folglich auch im Genick. "Je enger der Nasenriemen ist, umso schlimmer die Verspannung", beobachtet Michael Putz. "Schlechtes Reiten kann man so auf keinen Fall kaschieren."
Ob wissentlich oder nicht: Die Knebelpraxis ist Tierquälerei, bestätigt auch Biologin und Biomechanikerin Dr. Kathrin Kienapfel. In einer Studie über die Verschnallung der Nasenriemen statteten sie und Professor Holger Preuschoft von der Ruhr-Universität Bochum einen Pferdeschädel mit einem kombinierten Reithalfter aus, stellten verschiedene Verschnallungen und Festigkeitsgrade ein. Dann prüften sie, wie weit das Maul noch aufging. "Alle Reitlehren fordern, dass das Pferd beim Reiten am Gebiss kauen kann", erklärt die Wissenschaftlerin. "Das aber ist nur möglich, wenn die Kiefer voneinander entfernt werden können – mit Spielräumen von mindestens 10 mm zwischen den Mahlzähnen und 17 mm zwischen den Schneidezähnen. Zu eng geschnallte Nasenriemen verhindern dies." Auch das kam bei der Studie heraus:
Wo es klemmt, ist egal
Zu eng ist zu eng, sowohl oberhalb des Gebisses verschnallt (englisch) als auch darunter (hannoversch). Wer den Nasenriemen des kombinierten Reithalfters weit genug lässt, jedoch den oft Sperrriemen genannten Zusatzriemen fest zurrt, verstößt gegen den Tierschutz. "Welcher der beiden Riemen zu eng gezogen wird, spielt keine Rolle. Die Zahnreihen bleiben in beiden Fällen geschlossen", bestätigt Kathrin Kienapfel.
Allerdings verschärft sich der Druck, je weiter unten der Nasenriemen sitzt. "Das hannoversche Reithalfter muss daher immer mehr als zwei Finger weit verschnallt werden, um eine gute Beweglichkeit des Mauls zu ermöglichen", sagt Michael Putz. Was unsere Experten noch aus solchen Studien folgern, lesen Sie ab der nächsten Seite. Zudem zeigen wir, wie Sie die Zweifingerregel korrekt anwenden und gängige Reithalfter richtig verwenden.
Zu enge Reithalfter: So hat CAVALLO gemessen
Beim Bundeschampionat 2015 in Warendorf litten wieder einmal etliche junge Pferde unter zu engen Reithalftern. Korrekte Kontrollen blieben aus, Kritik war unerwünscht.
Erschüttert wandte sich Tierärztin Dr. Kirsten Tönnies mit einem offenen Brief an die FN, in dem sie mangelndes Bewusstsein für den Tierschutz bei der Veranstaltung kritisierte. Sie war vor Ort gewesen – als Jury-Mitglied des vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) ausgelobten Tierschutzpreises für besonders feinfühliges Reiten. In ihrem CAVALLO-Standpunkt (Heft 11/2015) appellierte sie klar an alle Reiter: "Macht das Maul auf!"

"Auf Turnieren kommen Sie unter keinen Nasenriemen"
Der Forderung von Kerstin Tönnies würden Reiter bereits dann nachkommen, indem sie sich schlicht an die Richtlinien der FN hielten "Wenn alle einfach nur die Zweifingerregel beachteten, hätten wir schon viel gewonnen", sagt Ausbilder Michael Putz. Der frühere Turnierrichter weiß jedoch selbst, welch Wunschdenken das ist. "Gehen Sie mal auf ein Turnier, Sie werden bei kaum einem Pferd mit zwei Fingern bequem unter den Nasenriemen kommen."
Und genau das haben wir nach unserem letztem Reithalfter-Check auf Turnieren (2002) erneut getan. Allerdings waren wir diesmal überwiegend daheim bei Reitern und Pferden: In Freizeit- und Turnierställen sowie auf Lehrgängen.
Ein Fimo-Finger für die Wahrheit
Denn um die leidigen Diskussionen darüber zu beenden, wieviel Platz tatsächlich zwischen Nasenriemen und Pferdenase sein sollte, hat Dr. Kirsten Tönnies einen Prototyp aus Fimo zur Messung der Weite von Nasenriemen entwickelt. Die Idee: "Mit einem standardisierten Messinstrument würden künftig alle Reiter und Pferde gleich behandelt", hofft sie. "Die Kontrollen der Reithalfter würden auf diese Weise für alle Beteiligten nachvollziehbar. Zumal auch keine Verletzungsgefahr mehr bestünde, wenn sich ein Pferd bei der Kontrolle des Reithalfters wehrt und man gerade mit zwei Fingern im Reithalfter hängt."
Gemeinsam mit Dr. Tönnies überprüfte CAVALLO die Reithalfter von 100 Freizeit- und Turnierpferden. Bei immerhin 54 Pferden saß der Nasenriemen, egal welcher Reithalfter-Typ, zu eng. "Das sind 54 Prozent zu viel", sagt Dr. Tönnies.
Kombis sitzen besonders fest
Kombinierte Reithalfter schnallten die meisten Reiter zwar oben locker genug, zurrten dann jedoch oft den Zusatzriemen (Sperrriemen) zu fest, so dass wir mit dem Messinstrument nicht unter die Nasenriemen kamen. Zu stramm saßen auch alle gemessenen Kandaren sowie die meisten schwedischen Reithalfter; offenbar verführt deren Umlenkrolle zum Festziehen. Darauf angesprochen, reagierten die von uns befragten Reiter in der Regel erstaunt bis erschrocken. Sein Pferd quälen? Das will wohl niemand. Dennoch: Wir finden die Ergebnisse alarmierend.
Zu einem ebenfalls wenig erfreulichen Fazit kamen kürzlich auch australische und irische Forscher: Von 200 untersuchten Vielseitigkeits- und Jagdpferden litten 88 Prozent an zu engen Reithalftern.
Gehören Nasenriemen verboten? Das sagen die Experten
Ein enger Nasenriemen ist meist keine böse Absicht, sondern Gewohnheitssache. Nur: Wenn über 50 Prozent der Reiter alleine bei den aktuellen CAVALLO-Messungen zu fest am Riemen ziehen: Ist es da nicht sinnvoller, ganz ohne Reithalfter zu reiten? Sind Reithalfter pferdefeindliche Zwangsmittel?

Korrekt verschnallt, kann der Nasenriemen Pferden helfen
"Die LPO verlangt bei der Ausrüstung eines Pferds nicht umsonst, dass es mit einem Reithalfter aufgezäumt werden soll", sagt Ausbilder Michael Putz. "Vorschriftmäßig verschnallt, kann der Nasenriemen entspanntes Kauen fördern."
Die Aussage des früheren Leiters der Westfälischen Reit- und Fahrschule Münster belegt eine Studie des Bochumer Professors für Morphologie Holger Preuschoft im Jahr 1999: Durch den Zügelzug am Gebiss öffnet das Pferd sein Maul, indem es mit dem Unterkiefer nachgibt. Dabei spannt sich automatisch bei jedem Zügelzug der Kaumuskel an, damit der Unterkiefer nicht zu weit ausrenkt. Und das führt laut Preuschofts Studie zu Verspannungen in Hals und Rücken.
Nasenriemen entlasten Pferde
Nasenriemen entlasten Pferde, der Studie zufolge, indem sie die Aufgabe des Kaumuskels, den Unterkiefer zu halten, übernehmen. Das sei speziell dann der Fall, wenn ein Pferd mit viel Kraft oder unruhigen Händen geritten wird. "Gutes Reiten macht einen Nasenriemen im Umkehrschluss überflüssig", ist sich Biomechanikerin Dr. Kathrin Kienapfel mit CAVALLO einig. "Vorausgesetzt, das Pferd ist ebenfalls entsprechend weit ausgebildet", ergänzt Michael Putz.
Um das sensible Pferdemaul und besonders die Maulwinkel zu schonen, muss freilich der gesamte Zaum richtig verschnallt sein. Das aber wird oft unterschätzt, wie uns Tierarzt Dr. Peter Witzmann in einem CAVALLO-Standpunkt (Heft 6/2014) bereits verdeutlichte. Was passt denn nicht?
Backenstücke quälen Pferde
Neben zu engen Nasenriemen sind Backenstücke besonders unbequem. So wird die Maulspalte laut Witzmann alleine durch das korrekte Zäumen eines Pferds um 40 Prozent verlängert. Nimmt der Reiter die Zügel auf, verlängert sie sich noch einmal um 25 Prozent.
Diese Verlängerung der Maulspalte tut Pferden zwar noch nicht weh. Wirkt das Gebiss jedoch schon ohne Zügelzug auf diese, dann kann man sich Witzmann zufolge vorstellen, was alleine zu kurze Backenstücke anrichten: Sie ziehen die Maulspalten des Pferds in schmerzhafte Längen. Ein Effekt, der sich durch zu eng verschnallte Reithalfter oder harte Reiterhände verstärkt: Wirkt zusätzlicher Zug auf die ohnehin angespannte Haut, steigt zwangsläufig die Verletzungsgefahr.
Meistens sind die Backenstücke indes zu lang verschnallt, beobachtet Michael Putz. Die Folge: Zungenspiele. Richtig: Das Gebiss sollte dicht an den Maulwinkeln liegen, so dass sich dort eine, maximal zwei Hautfalten bilden. Entstehen mehr Falten, sind die Backenstücke zu kurz verschnallt. Tipp: Prüfen Sie den Sitz des Zaumszeugs generell jedes halbe Jahr. Weil sich gerade günstigeres Leder dehnt, verändert sich die Passform.
Falsche Form, große Schmerzen?
Ein weitere Frage, die automatisch aufkommt, wenn man edle Pferdeköpfe mit fast mehr Leder als Fell sieht. Tatsächlich entsprechen übliche Reithalfter-Größen oft nicht den modernen, schmalen Pferdetypen. Sie orientieren sich an großen Warmblutköpfen, insbesondere das Hannoversche Reithalfter.
Viele Reithalfter sind nicht mehr zeitgemäß
Die gängige Einteilung in Pony, Vollbut (Cob) und Warmblut ist off enbar nicht mehr zeitgemäß. Die Folge: Reithalfter hinterlassen Druckstellen oder Nekrosen an Maulwinkel, Kinn, Nasen- oder Jochbein und schränken die Atmung ein. "Eine dicke Polsterung verhindert zwar eine wunde Haut, der Druck aber bleibt," warnt Michael Putz. Dies gilt auch für Gummipolster und Felle, die Reiter munter unters Leder oder die Kinnketten von Kandaren packen. Putz: "Dickes Moosgummi am Nasenriemen etwa bewirkt lediglich, dass das Pferd gegen den Gummieffekt arbeitet, weil sich die zuvor beschriebene Unterstützung des Nasenriemens aufhebt." Folglich verkrampft sich das Pferd im Bereich des Kiefergelenks, anstatt sich vertrauensvoll am Gebiss abzustoßen.
"Dasselbe gilt für Gelunterlagen bei Kinnketten," erklärt Michael Putz und hat noch einen Tipp parat: "Achten Sie auch darauf, dass das Stirnband groß genug ist, damit es nicht an der Stirn spannt und so das Genickstück an die Ohren zieht."
Schauen Sie Pferden ins Gesicht
Die Mimik verrät in jeden Fall, ob etwas klemmt. Inwiefern, erklärt Michael Putz: "Der gesamte Gesichtausdruck, besonders die Art, wie das Pferd kaut und die Haltung der Lippen zeigen, ob das Pferd in guter Anlehnung und mit Vertrauen zur Reiterhand geht." Deutliche Signale, die jeder deuten kann – auch ohne Messwerkzeuge oder Richtlinien.
Dennoch: Es scheint tatsächlich an der Zeit, dass wir etwas in die Hand bekommen, was Pferdemäuler und -seelen effektiver schont als Regeln, die entweder ignoriert, falsch interpretiert oder gar nicht gekannt werden. Vorbildlich: Kreative und pferdefreundliche Ideen wie das Messinstrument von Dr. Kerstin Tönnies.
Auf dem richtigen Weg scheinen derzeit auch die Finnen unterwegs zu sein: Aktuell prüft der finnische Reiterverband (SRL) Vorschläge zur Änderung des nationalen Reglements. Unter anderem wird der freiwillige Gebrauch eines Nasenriemen in allen Dressurprüfungen diskutiert – außerdem wie weit das Reithalfter sitzen sollte und wie man das künftig auf Turnieren messen könnte. "Letzteres muss gefahrlos möglich sein, idealerweise mit einem speziellen Messinstrument," erklärt SRL-Sportmanager Aki Ylänne.
So zeigen Pferde zu enge Reithalfter an
Am Pferdekopf verlaufen zahlreiche empfindliche Nerven. Der Druck ist besonders schmerzhaft, wenn der Infraorbitalnerv entzündet und zusätzlich die Zäumung eng verschnallt ist. Pferde zeigen dann starke Abwehrreaktionen, verspannen sich von Kopf bis Schweif. Auch die weiche Nase darf nicht eingeschnürt werden.
A Zu starker Druck am Infraorbitalnerv sorgt bei Pferden für Headshaking.
B Schnürt der Sperriemen Kinn und Unterkiefer ein, kann das Pferd kaum kauen und verspannt sich.
C Enge Stirnriemen beeinträchtigen das Ohrenspiel, sorgen dauerhaft für Headshaking.
D An der weichen Nase fehlt die knöcherne Stütze. Diese Partie darf nicht durch Riemen eingeschnürt werden. Das schränkt die Blähfunktion der Nüstern ein.
