Der Fall: Eine unerfahrene Reiterin ritt zum ersten Mal ein ihr unbekanntes Pferd. Während des Ritts rutschte die Frau mit dem Fuß aus dem Steigbügel, sodass sie absteigen musste. Als sie erneut aufstieg und weiterritt, trabte das Pferd erst an, wechselte dann in den Galopp, und die Reiterin fiel zu Boden. Beim Sturz schlug sie mit ihrem Kopf gegen einen Holzpfahl und verlor das Bewusstsein. Später stellte sich heraus, dass die Reiterin ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten hatte.
Aussage gegen Aussage
Die Reiterin aus dem niedersächsischen Nordhorn verklagte den Eigentümer des Pferds auf Schmerzensgeld. Sein Pferd sei urplötzlich durchgegangen und verantwortlich für ihren Sturz. Der Halter des Reitpferds gab hingegen an, dass nicht sein Pferd, sondern die Reiterin den Unfall verursacht habe. Sie hätte dem Pferd durch Anpressen ihrer Beine den Befehl zum Angaloppieren gegeben. Sein Tier hätte nur gehorcht.
Tiergefahr oder doch Reiterfehler?
Diese Frage eröffnete sich nach den Angaben der Reiterin und des Tierhalters. Nach §833 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) muss ein Tierhalter für Schäden haften, die sein Tier verursacht. Wörtlich heißt es in Satz 1 von §833: "Wird durch ein Tier ein Mensch getötet oder der Körper oder die Gesundheit eines Menschen verletzt oder eine Sache beschädigt, so ist derjenige, welcher das Tier hält, verpflichtet, dem Verletzten den daraus entstehenden Schaden zu ersetzen."
Der Halter haftet für die Tiergefahr, unabhängig davon, ob ihn ein Verschulden trifft oder nicht. Der Gesetzgeber hat hier eine Gefährdungshaftung festgelegt. Diese setzt allerdings voraus, dass der Schaden ganz oder in adäquaten Teilen auf ein unvorhersehbares tierisches Verhalten zurückzuführen ist. Spezifische Tiergefahren eines Pferds sind zum Beispiel das Ausschlagen oder Durchgehen, wenn sich der Vierbeiner erschreckt. Hatte sich in diesem Fall eine solche Gefahr realisiert?
Das Urteil
Anhand der vorliegenden Beweise war es dem zweiten Zivilsenat des Oberlandesgerichts Oldenburg nicht möglich, eine spezifische Tiergefahr als Ursache des Unfalls festzustellen – was Voraussetzung für die Haftung des Pferdehalters gewesen wäre. Laut Oberlandesgericht sei es denkbar, "(…) dass die Klägerin aus Unsicherheit die Beine angepresst und damit dem Pferd den Befehl zum Galopp gegeben habe, ohne dies eigentlich zu wollen". Das Gericht bezog sich auf die Aussage einer Zeugin. Diese hatte berichtet, dass das Reitpferd "(…) normal und sanft in den Galopp übergegangen" sei. Die Reiterin habe einen unsicheren Eindruck gemacht. Außerdem habe die Chemie zwischen ihr und dem Pferd nicht gestimmt.
Der zweite Zivilsenat wies die Schmerzensgeldklage ab (2 U 106/21). Zu diesem Zeitpunkt hatte die Tierhalterhaftpflichtversicherung bereits freiwillig 2 000 € Schmerzensgeld an die Reiterin gezahlt.
Entscheidung mit Signalwirkung
Das Urteil des Oberlandesgerichts Oldenburg zeigt einmal mehr, dass auch die weitreichende Gefährdungshaftung eines Pferdehalters Grenzen besitzt: Es gilt stets zu prüfen, ob Schäden tatsächlich durch eine spezifische Tiergefahr entstanden sind – oder nicht doch der Mensch den entscheidenden Beitrag leistete.
Das Gericht
Das Oberlandesgericht (OLG) ist auf Landesebene die höchste gerichtliche Instanz in Straf- und Zivilsachen. Jedes Bundesland besitzt mindestens ein Oberlandesgericht. Deutschlandweit gibt es 24 OLG. Das Berliner OLG heißt Kammergericht.
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