Manchmal ist das Leben eben doch ein Ponyhof: Viel schöner kann ein Besuch nämlich nicht beginnen. Zur Begrüßung in Mareis und Annies neuem Zuhause in Herrenberg gibt es ein freundliches Grummeln der beiden Shettys.
Die zwei Zwerge wissen offenbar sehr genau, wie man Zweibeiner um den Finger wickelt. Sogar magische Fähigkeiten werden ihnen nachgesagt. Vom ersten Moment an, als die Pummelelfen, wie sie liebevoll genannt wurden, aus einem riesigen Anhänger kletterten, bezauberten sie mit ihrem Pony-Charme nicht nur das "Möhrchengeber"-Team.

Notfälle sind nicht nur halbverhungerte Pferde
"Marei und Annie konnten wir schon nach zwei Monaten vermitteln", erzählt Kerstin Babel. Sie leitet das Projekt Notfallpferde bei den "Möhrchengebern". Die vernetzte Tierhilfe für Pferde ist ein Projekt der gemeinnützigen Beyond Unisus Stiftung gGmbH und wurde im Februar 2021 gegründet.
Schon wenige Wochen später wurde das erste Pferd aufgenommen. Das Ziel: Hilfe für Menschen in Not und Pferde in Not. "Wer ein Pferd hat, der weiß, wie groß diese Verantwortung ist und wie viel Zeit und Geld man langfristig investieren muss. Manchmal macht einem das Leben dabei leider gehörig einen Strich durch die Rechnung", sagt Kerstin Babel.

Notfälle sind nicht nur halbverhungerte Pferde, oftmals wird auch ein Zuviel des Guten wie bei Marei und Annie zum Problem. Genug zu futtern hatten die beiden, dafür reichte ein Blick auf die kugelrunden Ponybäuche. Ihr Besitzer, ein älterer Herr, hatte sie jahrelang liebevoll versorgt, war täglich mit ihnen spazieren gegangen und hatte sie vor die Kutsche gespannt. Bis eben das Schicksal zuschlug und er sich aus Krankheitsgründen nicht mehr um die Tiere kümmern konnte. Nachbarn sprangen netterweise bei der Versorgung ein; doch ausgiebiger Weidegang, gutgemeinte Fütterung und mangelnde Bewegung ließen die beiden immer runder werden.

Ein Bekannter erkannte schließlich die gefährliche Situation und meldete sich bei den Möhrchengebern. "Das war höchste Zeit", erinnert sich Kerstin Babel. "Wir haben die Ponys gleich von einer Tierklinik checken lassen." Marei lief schlecht und sehr fühlig: Es bestand der Verdacht auf Hufrehe, außerdem waren ihre Insulin-Werte erhöht. Glücklicherweise zeigten die Röntgenbilder keine Veränderung, und nach der Hufbearbeitung lief sie schon viel besser. Die deutlich schlankere Annie hatte dagegen einen erhöhten ACTH-Wert, also Cushing.

"Somit hatten wir gleich zwei Stoffwechselpatienten", so Kerstin Babel. Marei und Annie wurden behutsam auf Diät gesetzt, was sie anfangs alles andere als prima fanden. Zusätzlich gab es jeden Tag mehrmals Trainingseinheiten: Freilaufen, Longenarbeit und Joggen an der Hand. Nach ein paar Wochen Trainingslager die ersten Erfolge: Die beiden wurden agiler und hatten mehr Puste.
"Viele denken leider, Shettys eignen sich als Rasenmäher", weiß Babel, "aber sie brauchen ordentlich Bewegung." Wunsch der Möhrchengeber war es, Marei und Annie möglichst in einer Shetty-Herde unterzubringen mit viel täglicher Bewegung. Und genau da sind sie nun angekommen.

Neue Chefin der Pony-Damen ist Corinna Decker. Die Reitpädagogin hat schon vor einigen Jahren ihre Liebe für Shettys entdeckt und kennt ihre Bedürfnisse. "Shettys sollen am besten jeden Tag 20 Kilometer laufen. Wir sind die paar Kilometer in den neuen Stall dann auch gleich mal zu Fuß gegangen", erzählt sie.
Die Entscheidung, Marei und Annie zu übernehmen, hat sie sich dennoch nicht leicht gemacht. "So einen Schritt muss man sich gut überlegen. Mich hat die Arbeit der Möhrchengeber überzeugt. Sowohl die fachliche und medizinische Betreuung der Pferde, aber auch der persönliche Einsatz und das Netz an Stallkooperationen.

Annie ist übrigens schon ganz nah dran an ihrem Traumgewicht. Marei ist auf einem richtig guten Weg. Damit das so bleibt, haben die beiden jeden Tag ihren festen Job: Regelmäßig werden sie von Kindern geritten, ziehen die Ponykutsche oder man trifft sie mit Corinna beim Joggen auf den Feldwegen.

67 Pferde haben die Möhrchengeber bis dato in zum Teil dramatischen Aktionen gerettet. Das Leben einiger ihrer Schützlinge hing am sprichwörtlich seidenen Faden. 36 Pferde konnten bereits in ein neues Zuhause vermittelt werden. Wie Marei und Annie werden die Pferde zuerst einmal bei einem qualifizierten Stallpartner untergebracht. Hier werden sie tierärztlich gecheckt und man kümmert sich um ihre individuellen Bedürfnisse.
"Wir nehmen uns die Zeit, das Beste für jedes Pferd herauszufinden. Wir arbeiten für die Versorgung unserer Schützlinge mit dezentralen Stellen zusammen. Mittlerweile verfügen wir über 40 Plätze bei 19 Stallpartnern und freuen uns riesig, dass unser Netzwerk immer größer wird", erklärt Kerstin Babel. Schwerpunkt ist derzeit noch Süddeutschland, aber es gibt auch schon einige Ställe im Westen und Norden, die zum Beispiel Hustenpferde aufnehmen können.

Vom italienischen Wanderpokal zum Herzenspferd
Wenn die Pferde pysisch und psychisch stabil sind, wird für sie ein neuer Besitzer gesucht. Bei Quarter Horse Fritzi hat das neun Monate gedauert. Eine Familie hatte den schicken Italiener mit guter Abstammung von einem Sportpferdehändler gekauft und sich monatelang an ihm abgearbeitet.

Der Wallach mit der tollen Falbfarbe hatte eine Karriere in der Westerndisziplin Reining hinter sich und sollte als Freizeitpferd die kranke Tochter unterstützen. Doch dann lief alles in eine ganz andere Richtung. Fritzi war schon in der ersten Woche lahm. Diagnose: Fesselträgerschaden. Dazu kamen Probleme mit Hufen und Eisen.
Auch der Umgang mit dem ehemaligen Sportpferd war heikel; er ließ sich nur schwer führen und stieg. Über eine Internet-Verkaufsanzeige waren die Möhrchengeber auf Fritzi aufmerksam geworden. Die Familie hatte schon monatelang verzweifelt nach neuen Besitzern gesucht, auch weil er in dem Stall nicht mehr bleiben konnte.

"Wir nahmen Fritzi als Notfall auf", sagt Kerstin Babel. "Als er zu uns kam, lahmte er, hatte ein Eisen verloren, war am ganzen Körper verspannt und hatte Übergewicht." Das Blutbild ergab keinen Befund, eine Zahnfistel wurde behandelt, zusätzlich wurde er zweimal wöchentlich physiotherapeutisch therapiert, um seine Verspannungen zu lösen.

Im Handling gab es schon bald erste Erfolge: Fritzi versuchte sich nur noch selten zu entziehen, er entspannte sich allmählich und auch die großen, etwas glubschigen Augen schauten wieder ruhiger in die Welt. Größtes Problem blieben allerdings seine Hufe, die immer wieder warm waren und pulsierten.
"Die Röntgenbilder ergaben, dass Fritzi kaum Strahlpolster hat und einen negativen palmaren Winkel, das Gewicht also zu sehr auf dem hinteren Hufbereich lag", sagt Kerstin Babel. Ein spezialisierter Tierarzt bestätigte das Problem: Die zu flache Stellung des Hufbeins könne die Ursache des mittlerweile ausgeheilten Fesselträgerschadens und der Verspannungen sein.

Sechs Monate dauerte Fritzis Umstellung auf barhuf, begleitet von zweiwöchentlicher Hufbearbeitung. Die Hufsohle wurde im Laufe der Zeit wieder dicker, auf hartem Boden braucht er allerdings noch Hufschuhe. Begleiten wird ihn auf seinem Weg Sonja Streibl. Im Juni hat sie den wieder flott gewordenen Italiener übernommen.
"Das Gute ist ja, dass ich schon einen detaillierten Gesundheitsbericht für ihn habe, also genau weiß, worauf ich mich einlasse", sagt sie. "Die Prognose lautet bedingt reitbar, aber das ist für mich auch nicht so wichtig." Mit Bodenarbeit, spazieren gehen und ein bisschen Zirzensik hält sie den Wallach auch kopfmäßig fit. Wenn er unter Stress gerät, verfällt er ab und zu in alte Verhaltensmuster, aber im Gelände ist er schon viel entspannter.
Erfreulich: Die letzten Röntgenbilder waren vielversprechend, die beiden können demnächst also in den neuen Lebensabschnitt traben.

Das Leben von Pauli hing am seidenen Faden
"Als wir Pauli abholten, wussten wir ehrlich gesagt nicht, ob er den Transport übersteht", erinnert sich Kerstin Babel. Das Schicksal des bis auf die Knochen abgemagerten Haflingers hat das Möhrchengeber-Team ganz besonders berührt, und die ersten Tage sah es für Pauli mehr als kritisch aus.

Eine Stallpartnerin hatte den Senior über eine Anzeige entdeckt. Er stand auf einem Pferde-Erlebnisbetrieb. Hier hatte man überhaupt nicht realisiert, dass er mit seinen schlechten Zähnen und dem verschobenen Kiefer kein Heu mehr fressen konnte. "Auf den Bildern sah er furchtbar aus. Er war so schwach, dass er kaum noch stehen konnte", erzählt Babel.
Wie alt Pauli ist, weiß niemand so richtig. Geschätzt wird er auf etwa 30 Jahre. Sein Equidenpass gehört vermutlich zu einem anderen Pferd. "Wir haben Pauli gegen eine geringe Gebühr rausgekauft, damit wir ihm so schnell wie möglich helfen konnten."

Mittlerweile ist Pauli über den Berg. Er wird bei den Möhrchengebern bleiben. Er wird nicht mehr vermittelt, nie mehr geritten werden oder hungern müssen. Sein neues festes Zuhause hat er auf einer Pflegestelle in der Nähe von Aschaffenburg gefunden.
Zusammen mit einem weiteren Rentner genießt er hier seinen Lebensabend und blüht immer mehr auf. Pauli bekommt dort das, was er so lange nicht hatte: Zuwendung und jede Menge Heucobs. "Sein Appetit lässt nicht zu wünschen übrig. Der zahnlose Rentner schafft es am Tag auf acht bis zwölf Kilogramm Trockenmasse", sagt Kerstin Babel schmunzelnd.
Die Nachfrage nach Hilfen für Notfälle wird immer größer
Jedes der Möhrchengeber-Pferde hat seine eigene Geschichte und stellt das Team vor ganz neue Aufgaben. Hilfe für Pferde in Not und ihnen eine neue Chance zu geben: Der Bedarf für solche Hilfsangebote wird immer größer. "Wir hatten früher zwei bis drei Notfall-Anfragen pro Woche. Jetzt sind es zum Teil drei pro Tag", sagt Kerstin Babel. Dafür muss das Möhrchengeber-Netzwerk noch weiter wachsen. Neben den 19 bisherigen Stallpartnern vom Bodensee bis zur Ostsee werden demnächst vermutlich noch drei dazukommen.
"Wir freuen uns sehr, dass wir in so kurzer Zeit schon so vielen Pferden helfen konnten", sagt Stiftungs-Gründerin Christine Kienhöfer. Und genauso freut man sich über die tatkräftige Unterstützung der prominenten Schirmherrinnen. Ute Holm und Yvonne Gutsche unterstützen das Netwerk quasi schon seit den ersten Monaten. Ganz neu sind jetzt auch Katja Schnabel und Anja Beran als Schirmherrinnen mit dabei.
Um den wachsenden Aufgaben gerecht zu werden, sind die Möhrchengeber auf Unterstützung angewiesen. "Das können Geldspenden oder Patenschaften für Pferde sein, die bei uns bleiben, wie eben Pauli", sagt Kerstin Babel. Im Dezember wird es wieder einen Kalender mit Bildern der Möhrchengeber-Schützlinge geben; der Erlös fließt in die Arbeit des Projekts. "Wir freuen uns auch über jeden, der unsere Aktion 'Spenden statt Schenken' zu Weihnachten unterstützt. So eine Patenschaft ist ein prima Weihnachtsgeschenk, wenn man sich für unsere Pferde engagieren möchte."
Pauli brauchen wir vermutlich nicht zu fragen, was er sich zu Weihnachten wünscht. Er hat das schönste Geschenk bekommen, was man sich vorstellen kann: eine zweite Chance.
Kontakt
Die Möhrchengeber sind ein Projekt der gemeinnützigen Beyond Unisus Stiftung gGmbH. Das Projekt berichtet regelmäßig auf seinem Facebook-Kanal über aktuelle Fälle. Weitere Infos über Patenschaften und Spendenmöglichkeiten unter: www.moehrchengeber.de