Nach klaren Worten in Totilas-Doku
Kerstin Gerhardt erhält anonyme Hass-Anrufe

Ausbilderin Kerstin Gerhardt äußerste sich in einer RTL-Dokumentation zu Jahrhundertpferd Totilas kritisch über das Geschäft mit dem Hengst und falsche Entwicklungen im Reitsport. Danach erhielt sie anonyme Hass-Anrufe. Wir haben mit ihr darüber gesprochen, warum sie trotz solcher Konsequenzen kein Blatt vor den Mund nimmt.

Kerstin Gerhardt
Foto: Holger Schupp
CAVALLO: Frau Gerhardt, Sie sind kürzlich in der RTL-Doku "Totilas – das Millionengeschäft mit dem Jahrhundertpferd" aufgetreten und haben das Geschehen rund um Totilas mit klaren Worten kritisiert. Im Nachhinein bekamen Sie anonyme Anrufe. Was für Anrufe waren das?

Kerstin Gerhardt: Mir passiert es öfter, dass bei Anrufern keine Nummer angezeigt wird. Deswegen ging ich auch bei den anonymen Anrufen erstmal dran. Den Leuten ging es offenbar darum, Dreck und Häme über jemandem auszukippen und dann einfach aufzulegen. Das waren einseitige Beschimpfungen. Wer dahintersteckt, kann ich nicht sagen – mit keinem von diesen Herrschaften kam ein Gespräch zustande. Bis ich Luftholen konnte, hatten sie schon aufgelegt.

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Was haben die Anrufer denn zu Ihnen gesagt?

Das können Sie gar nicht schreiben, das waren übelste Beschimpfungen und Sätze wie "stirb doch einfach". Es waren verschiedene Stimmen, eine hysterischer und bösartiger als die andere. Beim sechsten Anruf bin ich nicht mehr drangegangen und habe aufgehört zu zählen. Ein paar Tage nach Ausstrahlung der zusammengefassten Doku, die eigentlich ein Dreiteiler war, hörte es dann auf. Ich fand diese einseitige Beschimpfung einfach feige. Ich würde gerne mal mit diesen Leuten am Tisch sitzen, aber eine Kommunikation kam mit diesen Anrufern gar nicht zustande. Es gab aber auch Menschen, die sich bei mir höflich vorgestellt haben und mit denen ich dann auch ins Gespräch gekommen bin. Deren größte Sorge war, dass ich der Sargnagel für die Reiterei bin und es wegen Leuten wie mir den Reitsport bald nicht mehr geben werde. Man kann diese Position beziehen. Aber ich muss sagen: Uns alten Reitlehrern liegt die Reiterei wirklich am Herzen. Ich will nur, dass wieder mit Anstand geritten wird, dass Pferde nicht mehr zum Sportgerät degradiert werden, um sich damit großzutun, dass das Pferdewohl wieder im Fokus steht.

Gab es auch positive Rückmeldungen auf Ihren Auftritt in der Totilas-Doku?

Ja – zum Teil wildfremde Leute haben mir ganz entzückende E-Mails und ans Herz gehende Nachrichten geschrieben. Das war ein Labsal für meine Seele. Das hat mit sehr erfreut und auch überrascht. Was mich gleichzeitig auch überrascht hat, war der große Aufschrei jetzt. Da habe ich mich gefragt: Wusstet ihr das nicht, was da draußen passiert? Was im Film gezeigt wird, ist ja nur die Spitze des Eisbergs. Da draußen ist so viel Böses und Schlechtes, Brutales und Pferdeverachtendes. Da fehlt in vielen Bereichen einfach jedwede Empathie dem Pferd gegenüber.

Was sind für Sie Beispiele für diesen Mangel an Respekt und Einfühlung dem Pferd gegenüber?

Das passiert nicht nur im Rampenlicht. Es beginnt schon im Kleinen etwa damit, dass junge Mädels beim Warmreiten auf ihrem Handy rumspielen, statt auf ihr Pferd zu achten – und wenn man das anspricht, bekommt man zur Antwort, man hätte ihnen nichts zu sagen. Vieles könnte man verbessern. Wenn auf Turnieren nur ein Drittel der Note auf dem Abreiteplatz vergeben würde, könnte heute niemand mehr sein Pferd runterriegeln und dann nach ein bis zwei Aufwärtsparaden ins Viereck einreiten, als habe er die ganze Zeit korrekt gearbeitet. Dass es keinen Gehorsamssprung mehr gibt, ist eine Katastrophe – die Dressurkinder gehen auch nicht mehr ins Gelände, spezialisieren sich viel zu früh. Und die wenigsten Reiter lesen noch die Richtlinien oder die alten Meister wie Waldemar Seunig oder Gustav Steinbrecht. Die Reiterei hat ganz viele Aspekte, mit denen sie sich selbst abschafft. Ich bin doch nicht diejenige, die für die Abschaffung sorgt.

Sie haben sich schon früher gegen tierschutzwidriges Training eingesetzt und Anfang der 90er Paul Schockemöhle wegen Barrens angezeigt. Schon damals sahen Sie sich Angriffen ausgesetzt. Was haben Sie erlebt?

Drei Tage nach Ausstrahlung einer Live-Fernsehsendung zum Thema, ich war damals bei Moderator Roger Willemsen zu Gast, wurden die Fensterscheiben meines Autos eingeworfen. Für mich war der Zusammenhang sofort klar, ich habe sonst nichts gemacht, das jemanden so gegen mich aufbringen könnte. Wer das mit dem Auto war, weiß ich aber bis heute nicht. Offenbar wollten gewisse Leute mich zum Schweigen bringen.

Welchen Zusammenhang sehen Sie mit der Geschichte von Totilas? In der Dokumentation kritisieren Sie beispielsweise, dass weder Reiter, Trainer, Besitzer, Stewards noch Richter reagierten, als Totilas in der Prüfung bei der Europameisterschaft in Aachen 2015 lahm ging.

Meiner Meinung nach hatte dieses Schweigen eindeutig mit Angst vor möglichen Konsequenzen zu tun. Sie glauben doch nicht, dass ein Richter je wieder eingeladen worden wäre, hätte er Totilas abgeklingelt?

Paul Schockemöhle, den Sie vor Jahren anklagten, kaufte Totilas für geschätzte zehn Millionen Euro. Auch er trat in der Dokumentation über Totilas auf. Hat er auf Ihre neuerliche Kritik reagiert?

Nein, Paul Schockemöhle steht da drüber. Ich kann mir vorstellen, dass er sich einmal schüttelt und darüber grinst. Er ist sich meiner Meinung nach auch keiner Schuld bewusst und findet das, was er tut, einfach kaufmännisch sehr geschickt. Er kann ja auch stolz sein auf sein Imperium – ich wäre es nicht. Der Zweck heiligt nicht die Mittel.

Woher nehmen Sie die Energie, immer wieder Kritik zu üben – auch, wenn Sie mit Konsequenzen rechnen müssen?

Tatsächlich ist es unfassbar anstrengend. Aber ich habe schon immer gefühlt, und das auch bei den Philosophen nachgelesen: Du musst dir als Mensch etwas suchen, das größer und wichtiger ist, als du selbst. Man muss sich für etwas entscheiden, für das man lebt und kämpft – dann hat man auch die Energie dafür. Ich verlange eigentlich von jedem Reiter, dass er sich für Pferde einsetzt. Manchmal denke ich, das Wort ,Pferdeliebe‘ wird inflationär gebraucht. Liebe beinhaltet doch schließlich auch, dass das Pferd wichtiger ist als man selbst.

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Erscheinungsdatum 17.05.2023