„Psychologische Mechanismen müssen thematisiert werden“

Brennpunkt Dressurrichter
„Psychologische Mechanismen müssen Teil der Ausbildung werden“

Zuletzt aktualisiert am 07.11.2023
Turnierreiterin zäumt ihr Pferd auf
Foto: Lotta Vess / GettyImages

Michaela Kronenberger ist Pferdewirtschaftsmeisterin Reiten, hat zahlreiche Pferde bis Grand Prix ausgebildet und Richter und Trainer geschult. Die studierte Medienwissenschaftlerin und Kognitions- und Kommunikationspsychologin ist geprüfte und zertifizierte psychologische Beraterin, Mentaltrainerin, Stressmanagement-Trainerin und Emotionscoach.

CAVALLO: Frau Kronenberger, kürzlich hat eine Studie gezeigt, dass objektives Richten in der Dressur eine Sache der Unmöglichkeit ist. Das Ergebnis hat Sie nicht überrascht?

Michaela Kronenberger: Überhaupt nicht. Ich beschäftige mich schon lange mit dem Einfluss der Emotionen und der Psyche im Reitsport und muss klar sagen: Eine Beobachtersituation wie beim Richten ist immer von den eigenen Erwartungen, Erfahrungen, Bedürfnissen und Prägungen des Beobachters abhängig. Das heißt, jeder Mensch sieht grundsätzlich durch seine eigenen Wahrnehmungsfilter. Er kann nur das sehen, was in seinen Gehirnstrukturen angelegt ist. Wurde ein Richter beispielsweise selbst beim Reiten immer wieder für einen bestimmten Fehler ermahnt, wird er ihn bei anderen Reitern viel stärker wahrnehmen. Sein Gehirn ist darauf programmiert.

Können Sie genauer beschreiben, wie sich das Ihrer Ansicht nach auf die Bewertungen in der Dressur auswirkt?

Stellen wir uns mal einen Übergang von Piaffe zu Passage und Passage zu Piaffe vor, der geritten wird. Da gibt der eine Richter vielleicht eine Zehn, weil er ihn sehr fließend fand. Das ist sein Hauptkriterium. Seine Kollegin findet dagegen, dass das Genick dennoch eng blieb, und zieht Punkte ab. Stellen wir uns die Benotung des Schritts vor. Ein Richter erkennt: Der Schritt des Pferds ist nicht im Takt, dann ist das deutlich unter Fünf zu benoten. Und die andere Richterin denkt: Ich kann einer Olympiasiegerin doch keine Zwei für den Schritt geben, dann mache ich doch mal eine Sechs und sage, es war aus meiner Perspektive nicht durchgehend zu erkennen.

Gerade dieser letzte Gedanke, den Sie beschreiben, ist für die Entwicklung der Reiterei gefährlich, oder?

Ja, das zeigt sich an prominenten Beispielen wie Totilas, der bei der Europameisterschaft in Aachen 2015 nicht als lahm abklingelt worden ist. Klar ist: Wer als Richter gegen das System interveniert, geht das Risiko ein, etwas für ihn mit unkalkulierbaren Folgen Verbundenes anzustoßen. Man ist schuld, dass jemand ausgeschlossen wurde; oder hat am Ende vielleicht doch ein Fehlurteil getroffen. So etwas scheut jeder Mensch, denn jeder hat Angst vor Ablehnung und zusätzlich das psychologische Grundbedürfnis nach Anerkennung und Selbstwerterhöhung. Wir wollen auch unsere eigenen Annahmen bestätigt sehen, wollen Recht behalten.

Inwiefern kann man denn beim Richten Recht behalten?

Da spielen unterbewusste Prozesse und kognitive Denkfehler wie Wahrsagen oder Wahrnehmungsverzerrung eine wichtige Rolle. Es gibt psychologische Effekte, die ebenso mitwirken. Wer ein positives Bild von einem Reiter hat oder über den Reiter positive Informationen erhalten hat, wird ihn zum Beispiel besser bewerten. Korrektes Reiten spielt dabei nicht die Hauptrolle. Ich würde es so sagen: Derjenige, der die beste Illusion von gutem Reiten liefert, wird hoch bewertet. Turnierreiten hat mit der normalen Pferdeausbildung meiner Ansicht nach nicht mehr viel zu tun, sondern ist eine Art Sportart in der Sportart geworden. Wenn korrektes Reiten ganz oben stehen würde, dann müsste der Ganaschenwinkel des Pferds konsequent immer geöffnet sein.

Warum ist es so schwer, das Wohl des Pferds in Turnierprüfungen an oberste Stelle zu setzen?

Auch die Wahrnehmung über das Wohlbefinden des Pferds spiegelt letztlich die psychischen Projektionen und Werte des Richters oder Reiters wider. Jeder Mensch sieht, was in seine Weltanschauung passt. Und so prägen sich bei jedem die inneren Bilder ein, die seine eigene Illusion bestätigen – mit einer objektiven Sicht auf die Signale des Pferds hat das leider wenig zu tun.

Das klingt alles ziemlich desillusionierend. Was müsste passieren, um Richten objektiver und pferdefreundlicher zu machen?

Was für mich der Schlüssel ist: Selbstreflexion anhand von Erkenntnissen aus der Gehirnforschung und Neuropsychologie. Auch die eigenen psychologischen Mechanismen müssen dringend ein Teil der Richterausbildung werden und dort zum Thema bewusste und unbewusste Befangenheit aufgebarbeitet werden. Niemand zwingt dich, das zu sehen, was du sehen willst – oder doch? Damit müssen sich Richter beschäftigen. Ich denke, da wird sich noch einiges tun, auch was die Ausbildung von Reitern angeht. Die Emotionsforschung macht Fortschritte, und auch im Reitsport wird bereits mehr über Emotionen gesprochen – auch in der Pferdewissenschaft. Wir sollten anfangen, Reitern und Richtern eine Psyche zuzugestehen und dem Rechnung tragen.