Seit einigen Jahren sind Therapien wie Osteopathie, Chiropraktik und Physiotherapie auch für Pferde ganz normal.
Wenn es nach den Schwestern Yvonne Katzenberger und Dr. Ruth Katzenberger-Schmelcher aus Burgheim im bayerischen Landkreis Neuburg-Schrobenhausen geht, sollen Pferde zukünftig von einer weiteren Therapiemethode aus der Humanmedizin profitieren: der Ergotherapie.
Ergotherapie für Pferde
Was gut für Menschen ist, kann auch Pferden helfen: „Unseres Wissens sind wir die Ersten und Einzigen, die Ergotherapie für Pferde anbieten“, sagt Dr. Ruth Katzenberger-Schmelcher, als wir sie in ihrem Reittherapie-Stall im bayerischen Burgheim besuchen. Hier wollen wir uns live anschauen, was es mit den ergotherapeutischen Übungen für die Vierbeiner auf sich hat.
Ruth ist promovierte Juristin, heute ist sie jedoch durch und durch reittherapeutische Assistentin und begeisterte Pferdetrainerin. Sie und ihre Schwester Yvonne, Ergotherapeutin für Menschen und Reittherapeutin, begannen vor rund zehn Jahren, Ergotherapie auch für Pferde anzuwenden: „Unsere Pferde und Ponys laufen im reittherapeutischen Betrieb. Das ist für sie eine große Belastung, weil sie es mit Reitern zu tun haben, die aufgrund körperlicher Einschränkungen nicht immer ausbalanciert sitzen können“, erzählt sie. „Mit den Übungen wollten wir ihre Körperwahrnehmung und die Fähigkeit, mit dieser Situation umzugehen, verbessern – so wie Ergotherapie das ja auch bei Menschen tut.“
Wie funktioniert Ergotherapie für Pferde
Das Wissen und die Übungen aus dem Humanbereich haben die beiden, sofern möglich, auf Pferde übertragen – und sahen, dass es funktionierte. Die Idee sprach sich herum und schon wenig später bot Yvonne, die bei unserem Besuch aufgrund einer Reise nicht auf dem Hof ist, Ergotherapie auch für „Kundenpferde“ an.
Der Bedarf ist in den Augen der Schwestern groß: „Den wenigsten Reitern ist bewusst, wie sehr sich ihr Gewicht auf den Pferdekörper auswirkt. Jede noch so kleine Bewegung des Menschen verlangt dem Pferd eine Reaktion oder Kompensation ab. Da ist eine gute Körperwahrnehmung nur von Vorteil.“ Vor allem Pferde, die, wie heute leider oft üblich, zu schnell ausgebildet werden, könnten von solchen Übungen sehr profitieren, sagt sie.
Körperwahrnehmung verbessern
Und wie genau funktioniert das ganze? „Die Übungen schulen vor allem die drei sogenannten Basissinne des Pferds“, erklärt die Trainerin. Das taktile System sichert über die Haut die Oberflächensensibilität. Das vestibuläre System, auch als Gleichgewichtssinn bezeichnet, ist für die Wahrnehmung des Körpers in Bezug auf seine Schwerkraft, seine Bewegung und sein Gleichgewicht zuständig.
Das propriozeptive System, also der Stellungssinn, leistet die Tiefensensibilität. Das heißt, es schätzt die Position der Körperteile zueinander, die Richtung und Geschwindigkeit der Bewegung sowie die Kraft, die für bestimmte Bewegungen notwendig ist, ein.
Die ergotherapeutischen Übungen geben dem Pferd die Möglichkeit, seinen Körper und dessen Fähigkeiten kennenzulernen und damit die Körperwahrnehmung zu verbessern, erklärt Ruth: „Die Pferde werden damit deutlich ausbalancierter und trittsicherer.“





Einfache Übungen
Zum Ausprobieren muss man kein professioneller Ergotherapeut sein: „Auch ein Laie kann ein paar der Grundübungen mit geringem Aufwand im Stall nachmachen“, sagt die Trainerin. Eine Auswahl zeigt sie uns nun in der Praxis.
Den Anfang macht Warmblutstute Stella. Das Abrollen mit dem Igelball und dem „Waschmaschinen-Nudelholz“ genießt sie sichtlich. „Das ist gut für das taktile System. Die Berührung regt die Mechanorezeptoren an, die für die Wahrnehmung von Druck, Dehnung oder Berührung zuständig sind.“ Auch der „Heiß-Kalt-Stempel“ stimuliert das taktile System: „Die kalten und warmen Reize fordern die Thermorezeptoren in der Haut und beeinflussen die Durchblutung.“
Achtsamkeit schulen
Schon bei diesen ersten, einfachen Übungen wird klar, worauf es ankommt: „Es geht darum, die Körperwahrnehmung des Pferds zu trainieren, aber auch die Wahrnehmung des Menschen: Was geht bei der Übung im Pferd vor? Zeigt es Abwehr oder ist ihm die Situation angenehm?“, beschreibt die Trainerin. „Das derzeit viel strapazierte Wort Achtsamkeit – sowohl was die Emotionen als auch den Körper des Pferds betrifft – passt hier sehr gut.“
Bei jeder Übung ist es deshalb wichtig, genau zu beobachten – und entsprechend zu reagieren: „Ich beginne eine Berührung ganz sachte an einer Stelle, an der das Pferd dies gewohnt ist, zum Beispiel an der Schulter. Von da aus bewege ich mich langsam weiter. Zeigt es die geringsten Anzeichen von Unwillen, höre ich auf, gehe zurück bzw. arbeite sanfter.
Nicht um Leistung geht es
Alles erfolgt in den winzigsten denkbaren Schritten“, betont die Expertin. Denn – und auch das ist ganz wichtig: Ziel ist nicht, dass ein Pferd etwas Bestimmtes tut, zulässt oder möglichst oft oder schnell macht.
„Es geht überhaupt nicht um Leistung, sondern um das reine Ausführen der Übungen“, betont Ruth. Deshalb wird alles so niederschwellig wie möglich aufgebaut und nur ganz langsam gesteigert – so, dass das Pferd kein Problem damit hat, die „Aufgabe“ gut bewältigen kann und die Situation für Pferd und Mensch möglichst stressfrei ist: „Denn unter Stress kann man nicht lernen.“
Gleichgewichts- und Stellungssinn stärken
Was den Gleichgewichts- und den Stellungssinn stärkt, zeigen uns dann zwei Shettys. Die gescheckte Lilly-Lou setzt ihren winzigen Huf zielsicher auf das „Minipodest“, einen kippsicheren kleinen Holzsockel mit zehn Zentimetern Durchmesser. Diese Übung schult die Balance und ist ganz schön anstrengend: Lillys Rücken- und Kruppenmuskeln arbeiten sichtbar.
Für Lilly, die kein Halfter trägt, nutzt Ruth einen Clicker. „Das kann man aber machen, wie man will: mit Halfter oder ohne, mit Clicker oder ohne; je nachdem, wie man sonst auch trainiert. Und vor allem: völlig unabhängig von der Reitweise“, sagt sie.
Das Tennisball-Brett, über das Lilly danach geht, schult das dynamische Gleichgewicht. Die bunte Kinderspielmatte aus dem Möbelhaus, die kurzerhand zweckentfremdet wird, gibt dem vestibulären System der Stute beim Darübergehen oder Draufstehen mit zwei oder vier Hufen mächtig zu tun. Man merkt, dass sie die Übung gewöhnt ist und gerne macht: Sie kann’s kaum erwarten, sich auf die Matte zu stellen.
Ergotherapie soll selbstverständlich werden
Shetty Ronja hat als Nächste ihren Auftritt: Souverän stellt sie sich mit den Hinterbeinen auf eine kleine Wippe aus Holz und balanciert sich aus. Im „Stangenmikado“ demonstriert sie eine besonders anspruchsvolle Übung für das propriozeptive System: Sicher hebt sie die Beine, setzt die Hufe in den richtigen Abständen und findet so ihren Weg durch die unterschiedlich hohen, unregelmäßig gelegten Stangen. „Hier muss das Pferd höchste Koordinationsleistung bringen. Bewegungsfluss, Rhythmus und Geschwindigkeit werden optimal trainiert“, sagt Ruth.
Im Idealfall läuft übrigens der Mensch mit durchs Stangenmikado – und probiert auch die anderen Übungen selbst aus: „Dann kann man nachvollziehen, wie das Pferd sich dabei fühlt und spürt den Effekt am eigenen Körper.“
Die positiven Effekte der Ergotherapie zeigen sich nicht nur körperlich, sondern auch psychisch. Das sehen die Schwestern an den von ihnen behandelten Pferden. „Ein Pferd, das seinen Körper richtig wahrnimmt und weiß, was es kann, ist nicht nur trittsicherer und ausbalancierter, sondern auch seelisch ausgeglichener und damit letzten Endes sicherer als Reitpferd oder Freizeitpartner“, erklärt Ruth. Selbst auf Verhaltensauffälligkeiten und Unarten können die Übungen einen positiven Effekt haben, sind die Schwestern überzeugt.
Damit noch mehr Pferde in den Genuss der Ergotherapie kommen und um ihr Wissen und ihre Erfahrungen weiterzugeben, schreiben die Schwestern derzeit ein Fachbuch. Mit „Pfergo“ haben sie außerdem die erste Akademie für Pferde-Ergotherapie gegründet – damit „Ergo“ im Stall bald genauso selbstverständlich ist wie „Osteo“, „Chiro“ und „Physio“.





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