Erinnern Sie sich an Momente, in denen Sie nicht die von Ihnen geforderte Leistung bringen konnten? Beim Sport etwa, wenn andere länger durchhielten, oder im Job, wenn Ihnen zu viel abverlangt wurde? Dann neigen wir dazu, unsere Schwächen zu vertuschen, so dass sie möglichst unbemerkt bleiben. Auch Pferde kennen Strategien, um zu hohe Anforderungen zu umgehen.
„Dass Pferde im Training Kompensationsmechanismen zeigen, sehe ich in meinem Unterricht und auf Lehrgängen immer wieder“, sagt Angelika Deiters, Trainerin A für klassisch-barocke Reiterei und OsteoConcept Coach nach Barbara Welter-Böller aus Euskirchen/ Nordrhein-Westfalen. „Viele Reiter sind dann ganz überrascht, wenn ich sie darauf hinweise, dass ihr Pferd beispielsweise im Sprunggelenk ausdreht und so der Lastaufnahme ausweicht.“ Deiters hat sich gemeinsam mit Pferdephysiotherapeutin Yvonne Dziallas (www.equivita-tierphysio.de) intensiv mit Kompensation beschäftigt. Diese kann ganz unterschiedliche Gesichter haben: Von einem deutlich hervortretenden Unterhals bis hin zu minimal falschen Winkelstellungen der Gelenke – Beispiele gibt es genug.

Zwei Mechanismen sorgen für effiziente Bewegungen
„Pferde sind Meister der Kompensation – und das müssen sie auch sein“, so Angelika Deiters. Als Fluchttiere sind Pferde darauf angewiesen, Energie zu sparen und die Beanspruchung von Bewegungsstrukturen gering zu halten, um bei Gefahr noch über ausreichend Reserven fürs Entkommen zu verfügen. Deshalb sind alle Gangarten auf möglichst wenig Energieverbrauch ausgelegt. Dafür besitzt das Pferd zwei Mechanismen: den Pendelmechanismus und den Federmechanismus. Die typische Nickbewegung des Pferds im Schritt entsteht durch das Pendeln von Hals und Kopf.
Ohne großen Muskelaufwand zieht sich das Pferd mithilfe dieser Bewegung gewissermaßen über das Vorderbein nach vorne und spart Energie. Auch das Schwingen der Vorderbeine gleicht einem Pendel. „Da Pferde von Natur aus vorhandlastig gebaut sind, ist diese Bewegung mit Bergablaufen vergleichbar. Und wir kennen das von uns selbst – läuft man bergab, wird man automatisch schneller und verbraucht weniger Energie“, erklärt Angelika Deiters.

Energiesparen unter dem Reiter? Ja bitte!
Im Trab und Galopp beruht die natürliche Bewegung dagegen auf dem Federmechanismus. Beim Durchtritt der Fesselgelenke werden die Sehnen in den Beinen gespannt und speichern Energie. Beim Abfußen entspannen sich die Sehnen und geben die gespeicherte Energie wieder ab. Dieser sogenannte Katapulteffekt hilft dem Pferd dabei, seine Schubkraft zu erhöhen und Muskelkraft einzusparen. Nicht nur Pferde machen sich diesen Mechanismus zunutze – auch Kängurus verdanken ihre Sprungkraft zu einem Großteil diesem Prinzip. Kompensation entsteht immer dann, wenn das Pferd seine natürlichen Bewegungsmuster nicht ausführen kann, weil im Schritt beispielsweise die Beizäumung den Pendelmechanismus unterbricht oder im Trab und Galopp ein zu schwerer Reiter oder zu viel oder zu wenig Tempo den Federmechanismus verhindern.
Neben Schmerzen (und möglichen angeborenen Fehlstellungen) die häufigste Ursache für unphysiologische, kompensierende Bewegungen ist aber Überforderung des Pferds. Herrscht ein zu großes Ungleichgewicht zwischen Belastungs- und Regenerationsphasen, haben die beanspruchten Muskeln keine Zeit, sich zu erholen. Das Pferd ist gezwungen, auf andere Bewegungsmuster zurückgreifen. Deshalb ist es so wichtig, gerade jungen Pferden genügend Zeit im Training zu lassen, damit sie sich langsam an den Reiter gewöhnen können.

Wichtige Muskel sind sichtbar und unsichtbar
Damit das Pferd seinen Reiter langfristig tragen kann ohne Schaden zu nehmen, braucht es die richtige Muskulatur. Wichtig ist dabei der Unterschied zwischen Bewegungs- und Tiefenmuskulatur. Während erstere für die Bewegung des Pferdes zuständig und auch von außen sichtbar ist, ist die Tiefenmuskulatur fürs Auge nicht erkennbar. Diese skelettnahe Muskulatur ist für die Statik zuständig, also für Körperspannung und Körperhaltung.
Mal ein Selbstversuch, um Ihre eigene Tiefenmuskulatur bewusst zu spüren: Stellen Sie sich auf eine weiche Matte und heben Sie ein Bein an. Schwieriger wird es, wenn Sie zusätzlich einen schweren Gegenstand in die Hand nehmen. Um das Gleichgewicht zu halten, muss jetzt Ihre skelettnahe Muskulatur aktiv sein. Eine ganz ähnliche Übung kann auch Pferden helfen, ihre Tiefenmuskulatur zu stärken: das Stehen auf Balancepads aus Schaumstoff.

Tiefliegende Muskeln für eine schöne Körperform
Eine gut ausgeprägte Tiefenmuskulatur kann Exterieur und Haltung eines Pferds stark verändern: Die Oberlinie ist runder, die Bauchmuskeln haben eine positive Grundspannung. Der Grund: Sind die Tiefenmuskeln gestärkt, tragen sie zu einer besseren Form der sichtbaren Bewegungsmuskulatur bei. Auch Probleme wie rückständige Vorderbeine (Vorderhufe im Stand Richtung Hinterhand versetzt) können sich auflösen. Wer bei seinem Pferd also Kompensationsbewegungen egal welcher Art entdeckt, sollte vor allem die Tiefenmuskulatur stärken – dann ist schummeln nicht mehr nötig.

Rittigkeit: Diese „Unarten“ sind oft echte Alarmzeichen
Am deutlichsten treten Kompensationsbewegungen meist unter dem Reiter zu Tage. Hinter Verhaltensweisen, die häufig als Unartigkeit oder Folge mangelnder Durchlässigkeit verstanden werden, können sich mitunter ernstzunehmende Alarmzeichen verstecken. Rittigkeitsmängel weisen nämlich häufig darauf hin, dass das Pferd unter dem Reiter in seinen natürlichen Bewegungsabläufen gestört wird oder sich noch zu schlecht ausbalancieren kann.
- Eilen/Durchgehen/ Triebigkeit
- Buckeln
- hochgestreckter Kopf/ sehr tiefer Kopf
- Steigen
- Einrollen
- Unwilliges Rückwärtsrichten
- Zähneknirschen
- Gurtzwang
- Kopfschlagen
- Konzentrationsstörungen/Schreckhaftigkeit

Das Gangbild: So erkennen Sie Kompensation in der Bewegung
- Ausdrehen der Sprunggelenke: Entsteht dadurch, dass die Zehe des Pferds in der Bewegung zu stark nach innen zeigt. Grund ist fehlende Muskelkraft bei zu viel Schub aus der Hinterhand.
- Stolpern: Sinkt das Pferd im Rumpf ein, kommt die Vorhand tiefer – das Pferd schiebt sich in der Bewegung sozusagen in den Boden hinein. Durch diese Abwärtsbewegung und Überlastung der vorderen Strukturen stolpern die Pferde öfter.
- Breitbeiniges Treten der Hinterhand: Hier liegt das Problem im Hüft und Kniegelenk. Die Pferde laufen seitlich ausgestellt, vergleichbar mit OBeinen beim Menschen. Ursache ist häufig zu viel Versammlungstraining für noch junge Pferde.
- Streichen: Die Fesselköpfe berühren sich in Bewegung. Das liegt daran, dass die Beine des Pferds aufgrund einer Dysbalance zwischen Abduktoren zuständige Muskeln fürs Heranziehen der Beine an den Körper) und Adduktoren (zuständig für die Bewegung vom Körper weg) vermehrt nach innen gezogen werden.
- Eisen abziehen und Ballen treten: Spricht nicht etwa für besonders gutes Untertreten, sondern signalisiert, dass das Pferd die Vorderbeine nicht schnell genug vom Boden lösen kann, die Hinterbeine aber schon nachfolgen.
- Galopp: Funktioniert der Federmechanismus nicht richtig, sind die Galoppsprünge laut zu hören. Kreuzgalopp deutet oft auf einseitig verhärtete und zu schwache Bauch- und Rückenmuskeln hin.
- Passverschiebung im Schritt: Oft hindert eine zu starke Handeinwirkung das Pferd an seiner natürlichen Nickbewegung. Das stört Gleichgewicht, Takt und Losgelassenheit.
Lektionen und Training: korrekt oder überfordernd?
- Schulterherein: Häufigste Fehlerquelle ist, dass die Pferde nicht richtig „spuren“ und entweder innen oder außen am Schwerpunkt vorbeitreten. Sichtbar ist das an „Sandstürmen“, also von den Hufen aufgewirbeltem Sand, wie Angelika Deiters erklärt. Bei korrekter Ausführung sind diese sehr klein.
- Schenkelweichen: Unbemerkt kreuzen manche Pferde im Schenkelweichen nicht ehrlich, sondern stellen ihre Beine nur bei, das heißt, sie ziehen das eine Bein an das andere heran. Auch ein Ausweichen nach vorne oder hinten, das oft für Unwilligkeit gehalten wird, kann auf Kompensation hindeuten.
- Speichelfluss: Pferde, die auffällig stark speicheln, sind im Training höchstwahrscheinlich zu angestrengt, um noch richtig schlucken zu können. Ein „Cappuccino- Mäulchen“, so Angelika Deiters, ist absolut normal, aber wenn der Speichel schon vom Maul tropft, ist das ein Hinweis auf Überanstrengung.
- Husten: Anders als im Schritt und Trab ist die Atmung des Pferds im Galopp an jeden einzelnen Sprung gekoppelt. Deshalb kommt es besonders in dieser Gangart häufig zum Abhusten, was ein Indiz dafür ist, dass die Pferde zuvor die Luft stressbedingt angehalten haben.
- Rückwärtsrichten: Tritt das Pferd nicht korrekt im Zweitakt, also immer gleichzeitig mit den jeweils diagonalen Beinpaaren nach hinten, spricht das für Kompensation. Setzt das Pferd jeden Huf einzeln, entsteht ein Viertakt. Das spricht für Verspannungen im Rücken und in der Kruppe.
- Longieren: Auch ohne Reiter stellen Wendungen oft eine Herausforderung dar. Nicht nur das Hochreißen des Kopfs, sondern auch die Nase im Sand zeigt, dass das Pferd nicht über genügend Kraft verfügt, um seinen Hals zu tragen.
- Piaffe: Sinkt das Pferd im Rumpf ein, drückt das zusätzliche Gewicht auf die Strukturen des Vorderbeins, wodurch der Fesselträger gut sichtbar durchgedrückt wird. Dadurch, dass das Pferd im Rumpf einsinkt, treten die Hinterbeine zum Ausgleich nach hinten raus und fußen nicht unter das Iliosakralgelenk, sondern kommen schon davor auf.
So stärken Sie die Tiefenmuskulatur Ihres Pferds
Koordination
Um das Körpergefühl zu verbessern, eignen sich Übungen, die viel Konzentration und Geschicklichkeit verlangen:
- Stangenarbeit im Schritt
- Vor- und Hinterhandwendungen
- Rückwärtsrichten – wichtig ist, dass das Pferd korrekt im Zweitakt, also in diagonaler Fußfolge zurücktritt und nicht jeden Fuß einzeln setzt
- Rückwärts über eine Stange
- Volltraversale über eine Stange (Pferd tritt komplett seitwärts)
- Balancepads aus Schaumstoff
Kraft
Kräftigend für skelettnahe Muskelpartien sind all jene Übungen, bei denen die Pendelbewegung des Pferds kurz unterbrochen wird, zum Beispiel:
- Schritt-Halt-Übergänge
- Übergänge Halten-Rückwärts
- mittiges Stehenbleiben über einer am Boden liegenden Stange (Während des Stehens über dem Hindernis spannt das Pferd automatisch seine Bauchmuskulatur an. Darf es wieder losgehen, wird zudem die Pendelbewegung besonders gebraucht, damit es die Stange nicht streift.)