Die Anspannung steht dem Fuchs ins Gesicht geschrieben. Immer wieder sperrt er das Maul auf, weil die Kandare schmerzhaft drückt. Seine Reiterin erlaubt ihm nicht, die Nase vorzunehmen. Er kann kaum etwas sehen. Der Schweiß tropft ihm schaumig zwischen den Beinen herunter. Ein trauriger Einzelfall? Leider nein.
Reportage des WDR auf dem CHIO Aachen 2018
Auf dem Abreiteplatz tummeln sich mehrere Reiter mit ihren Pferden. Alle geben ein ähnliches Bild ab, obwohl sie gefilmt werden. Journalistin Katharina Adick ist für den Westdeutschen Rundfunk (WDR) vor Ort. Es ist kein "Wald- und Wiesenturnier", sondern das "Weltfest des Pferdesports", der CHIO in Aachen im Juli 2018. Die Reiter bereiten sich auf den Grand Prix Spécial vor.
Warum filmt der WDR auf dem Abreitplatz? Dass es im Dressursport Trainingsmethoden gibt, die nicht pferdegerecht sind, ist schon lange bekannt. Wissenschaftler wie die Verhaltensbiologin Dr. Kathrin Kienapfel von der Ruhr-Universität Bochum haben bereits belegt, dass insbesondere die zu enge Kopf-Hals-Haltung Pferde gesundheitlich und psychisch schädigen kann.
"Uns war jedoch nicht klar, dass sie noch ein so großes Thema ist", erklärt Katharina Adick. Schon 2017 war sie gemeinsam mit Dr. Kathrin Kienapfel auf dem CHIO. Nicht, um die Prüfungen zu beobachten, sondern um zu filmen, wie die Reiter ihre Pferde darauf vorbereiten. Der Verdacht, Pferde in zu enger Kopf-Hals-Haltung zu sehen, war da – und wurde prompt bestätigt. Das entstandene Videomaterial reichte aber nicht aus, um zu belegen, dass es nicht nur einzelne Reiter waren, die ihre Pferde zu eng ritten.
Grobe Einwirkungen statt feinem Reiten
Eine genaue Dokumentation aller Reiter einer Prüfung musste her. 2018 schickte der WDR deshalb zwei Kamerateams auf den CHIO. Sie verbrachten fast sechs Stunden am Abreiteplatz. Katharina Adick berichtet: "Die meisten Pferde wurden deutlich hinter der Senkrechten geritten, und zwar über längere Zeiträume. Je länger wir am Abreiteplatz standen, desto mehr grobe Einwirkungen der Reiter haben wir gesehen – zum Beispiel massiven Sporeneinsatz oder Strafen mit der Kandare. Das war erschreckend und für mich auch überraschend. Bei Reitern der absoluten Weltklasse hätte ich erwartet, dass wir dort viel mehr feines Reiten, viel feinere Hilfengebung und vor allem viel mehr Reiter sehen, die im Einklang mit ihrem Pferd sind."
Die Rollkur war also nicht das einzige Problem für die Pferde. Sie hatten Stress. Die Reiter setzten die Tiere massiv unter Druck. "Bei Einzelnen entstand sogar der Eindruck, dass manche Konfliktsituationen mit Absicht herbeigeführt werden", erinnert sich Dr. Kathrin Kienapfel. Um ein reales Bild dieses Gruselkabinetts widerzuspiegeln und endlich gegen das Argument bestehen zu können, es handele sich nur um Einzelfälle, wertete die Wissenschaftlerin das Videomaterial vom Abreiten in einer Pilotstudie aus.
Pilotstudie zum Leiden der Pferde auf dem Abreiteplatz
Diese Studie beweist erstmals, wie sehr Dressurpferde leiden. 28 Pferde wurden hierfür erfasst. "Das waren fast alle Reiter des Grand Prix Spécial", sagt Kienapfel. Ganz leicht war es nicht, das Filmmaterial zu sammeln. Die Dreharbeiten wurden zeitweise absichtlich gestört, wie Katharina Adick berichtet: "Das Team von einem der Reiter hat versucht, unsere Aufnahmen zu verhindern, indem es sich immer wieder vor unsere Kamera gestellt hat. Ein Teammitglied hat einen unserer Kameramänner dann auch angesprochen und ihm gedroht." Die Kameraleute mussten immer wieder ihre Position wechseln, um die Pferde im Blick zu behalten.
Die Ergebnisse der Studie sind erschreckend. Bei mehr als einem Drittel der Pferde beträgt die Abweichung von der Stirnlinie zur Senkrechten im untersuchten Zeitraum mehr als 15 Grad. 14 Prozent der Pferde tragen die Nase mehr als 20 Grad hinter der Senkrechten. Etwa ein Drittel der Pferde (36 Prozent) haben innerhalb von drei Minuten mehr als 150 Unmutsäußerungen gezeigt. Nur sieben Pferde äußerten weniger als 50 Mal ihren Stress. Drei Pferde zeigten sogar mehr als 200 Stressanzeichen. Im Durchschnitt kamen pro Pferd 100 Unmutsäußerungen zusammen.
"Ich war bei der Auswertung entsetzt, wie viele Stressanzeichen wir entdeckt haben", erzählt Dr. Kathrin Kienapfel. "Denn direkt nach meinem Besuch in Aachen war mein Eindruck weniger schlimm als bei den Auswertungen. Oft habe ich kleine Details übersehen und nur das Gesamtbild wahrgenommen. Ich habe versucht, alle Pferde im Blick zu behalten. Aber das war unmöglich."





Anzeichen von Stress, aber keine Aggression
Ihren Stress äußerten die Pferde häufig mit Schweifschlagen. Einige gehen fast permanent mit einem unruhigen Schweif. Um starkem Zügelzug wenigstens ein bisschen zu entgehen, sperren sie häufig das Maul auf, sodass die Zähne zu sehen sind. "Sperren, sichtbare Zungen und hektisches Kauen mit offenem Maul haben wir als ungewöhnliches orales Verhalten zusammengefasst und pro Sekunde als ein Ereignis gezählt", erklärt Kienapfel.
Die Pferdeethologin Dr. Margit Zeitler-Feicht (Technische Universität München), der das Filmmaterial zur Verfügung gestellt wurde, weist darauf hin, dass ein geöffnetes Maul auf Schmerzen hinweist. Außerdem beobachtet sie nach unten weisende Ohrmuscheln, also seitlich gestellte Ohren. Dies sei ein Zeichen für Angst und das Pferd signalisiere damit seine Unterlegenheit – nach dem Motto "Ich mache alles, was du möchtest, aber hör’ bitte wieder auf." Heftige Reaktionen wie Buckeln oder Steigen zeigen Pferde jedoch kaum. Warum wehren sie sich nicht deutlicher gegen ihre Reiter?
Viele Pferde resignieren: "Learned Helplessness" nennt man das (erlernte Hilflosigkeit). Wissenschaftler haben herausgefunden, dass Tiere in für sie unkontrollierbaren Situationen mit Resignation und apathischem Verhalten reagieren. Bei Pferden wurde diese innere Haltung beobachtet, wenn sie ausschließlich durch Strafe ausgebildet wurden (Hall et al. 2007) oder wenn ihr Verhalten keinen Einfluss auf den Reiter hat (Caanitz 1996).
Dr. Kathrin Kienapfel untersuchte 2011 das Ausdrucksverhalten von Pferden bei verschiedenen Halsstellungen. Die Verhaltensstudie zeigt, dass die Missfallensäußerungen der Tiere zunehmen, je enger der Hals eingestellt wird. Dabei reagieren die meisten Pferde jedoch weder unkooperativ noch aggressiv.
Demütigung fürs Pferd
Doch die Rollkur ist nicht nur eine Demütigung fürs Pferd. Inzwischen belegen einige Studien, dass die enge Kopf-Hals-Haltung nicht nur für Stress sorgt, sondern auch die Atmung behindert sowie Bewegungsabläufe und Muskulatur negativ beeinflusst. Kienapfel zum Beispiel fand mit aufwendigen Messungen heraus, dass mit der Rollkur die falsche Halsmuskulatur trainiert wird. Der Kopf-Arm-Muskel ist daueraktiviert und kann schmerzhaft verkrampfen. Ein Nebeneffekt: Dieser Muskel zieht die Vorderbeine vor. Arbeitet er mehr, wird die Vorhandbewegung ausdrucksstärker – das Pferd kann "Lampen austreten".
Was wollen Reiter mit Rollkur und grober Einwirkung erreichen? Dr. Kathrin Kienapfel und Prof. Holger Preuschoft haben errechnet, dass bei der Rollkur die Hebelverhältnisse für den Reiter so günstig sind, dass die Pferde aus dieser Haltung kaum entkommen können. Dazu müssen die Pferde noch weit mehr ertragen: Reiter ziehen teilweise mit ganzem Oberkörpereinsatz an den Zügeln, riegeln den Pferdekopf extrem zu beiden Seiten und stechen im schlimmsten Fall bei jedem Tritt mit den Sporen zu. "Die Pferde verrichten ihren Dienst leider auch, weil sie Strafen vermeiden wollen", bedauert Kienapfel.
Tierarzt und Biomechanik-Experte Dr. Gerd Heuschmann meint: "Mit klassischem Reiten hat das nichts mehr zu tun." Wie konnte es so weit kommen?
Fehler schon bei der Ausbildung
Das Dilemma beginnt in der Remonte-Arbeit. In den letzten Jahren habe sich die Pferdezucht erheblich verändert, erklärt Heuschmann. Die Pferde sind heute rittiger und leichter im Genick. "Ein junges Pferd, das sich im Rücken noch festhält, neigt dazu, sich eng im Hals zu machen. Nimmt der Reiter das an und hält er es fest, weil er denkt, das sei Anlehnung, nimmt das Übel seinen Lauf."
Der ursprüngliche Grund für den kurzen Hals, der verspannte Rücken, wird zum Dauerzustand. Das Pferd rennt weg vom Sitz und der Reiter muss noch mehr festhalten. "Dabei soll das Pferd im klassischen Sinne über den schwingenden Rücken an die Hand herantreten", so Heuschmann. "Das sehen wir heute leider kaum noch."
Handlungsbedarf – ja! Aber wie?
Die überwiegende Zahl der Reiter scheint tatsächlich zu wenig in ihre eigene Ausbildung und die ihres Pferds investiert zu haben. Auf dem Abreiteplatz des CHIO Aachen in diesem Jahr stechen Reiter mit den Sporen, ziehen an den Zügeln und reiten in Rollkur, was das Zeug hält – bis auf wenige Ausnahmen. "Nur eine Reiterin ist durch wunderbar harmonisches Reiten und ein losgelassenes, zufriedenes Pferd aufgefallen", erinnert sich Kienapfel. "Es geht doch, auch auf diesem Niveau."
Doch nicht nur im Profibereich wird schlecht geritten. CAVALLO war wiederholt auf Turnierplätzen in Deutschland unterwegs. Wir sahen viele Reiter, die ihre Pferde mit groben Hilfen traktierten. Vielleicht können sie es nicht anders, wollen nicht – oder es ist aus ihrer Sicht gar nicht nötig, dass sie ihre Reiterei ändern.
Wer kontrolliert, was auf dem Abreitplatz passiert?
Ein Richter, der "Steward", soll das Geschehen im Auge behalten und Reiter ermahnen, wenn sie sich nicht an die Regeln halten. Die Deutsche Reiterliche Vereinigung (FN) hat dafür einen "Kriterienkatalog" erarbeitet, der seit 2014 Bestandteil der Ausbildung für Richter und Turnierfachleute ist und auf den FN-Richtlinien basiert. Kienapfel hält diesen für eine gute Grundlage, um Pferd und Reiter zu beobachten: "Er ist vollständig, klar und deutlich."
Doch in Aachen wurde es schon zum Problem, den Steward ausfindig zu machen. Die Journalistin Katharina Adick berichtet: "Während wir am Abreiteplatz filmten, habe ich nur ein einziges Mal gesehen, dass eine Reiterin angesprochen wurde. Dabei ging es auch nur um die Sichtbarkeit ihrer Starternummer. Dass da jemand aufmerksam dem Geschehen folgt, um Regelverstöße zu ahnden, konnte ich nicht erkennen."
Kienapfel meint: "Ein Einzelner kann das gesamte Geschehen nicht überblicken." Die FN sieht die Sache so: "Der Richter am Vorbereitungsplatz sollte sich zu jeder Zeit an einem geeigneten Ort aufhalten, an dem er den gesamten Vorbereitungsplatz überblicken kann. Seine Aufgabe ist es, nicht pferdegerechtes Reiten und Regelverstöße zu erkennen und zu ahnden. Wir unterstellen nicht pauschal, dass jedes Paar auf dem Vorbereitungsplatz von vornherein unter besonderer Beobachtung stehen muss."
Der CHIO als internationales Turnier unterliegt dem Reglement der Internationalen Reiterlichen Vereinigung (FEI). Die FN weist darauf hin, dass "die internationalen Bestimmungen der FEI etwas liberaler sind". Ein Beispiel: Die "Hyperflexion" (Rollkur) ist bei internationalen Turnieren auf dem Vorbereitungsplatz für bis zu zehn Minuten erlaubt. Adick: "Die Stellungnahme der FEI zu den Videoaufnahmen ist eher oberflächlich. Offenbar hat man sich nicht mit unserem Videomaterial befasst." Die FEI äußerte sich, das Problem langfristig angehen zu wollen. Dazu würden momentan neue Richtlinien und Videohilfsmittel entwickelt.
Das sagt die FN zur Rollkur auf dem CHIO
Die FN hingegen wertete das Filmmaterial aus und kam zu dem Schluss, dass der Steward bei mindestens fünf Reitern hätte eingreifen müssen. Als Dachverband sieht sie sich dafür verantwortlich, "gute Regeln aufzustellen und diese auch umzusetzen". Dennoch gibt die FN die Verantwortung in die Hände der Reiter: "Bei der Umsetzung dieser Regeln kommt es immer auf den einzelnen Menschen an." Jeder Pferdesportler sollte sich selber hinterfragen und anstreben, das in den Richtlinien beschriebene Ideal zu erreichen."
Ist den Reitern bewusst, dass sie vom Ideal abweichen? Die FN hält die Vorbereitungsphase für eine besondere Situation. "Bei manchen Pferden wird noch intensiv trainiert, um die nötige Feinabstimmung zu erreichen", so die FN. Es sei erklärlich, dass in der Vorbereitung nicht ausschließlich harmonische Szenen zu sehen seien.
In Aachen gab es Reiter, die sich in eine Halle zurückgezogen haben, die für die Öffentlichkeit nicht zugänglich war, sagt Katharina Adick. Das zeigt eine gewisse Angst vor Kritik und das Bewusstsein darüber, dass ihre Trainingsmethoden nicht gut ankommen.
Doch vor Ort beobachtete Katharina Adick, dass viele Besucher sich am Abreiteplatz etwas von ihren Vorbildern abschauen wollten. "Ich habe nur vereinzelt mitbekommen, dass die Reitweise kritisiert wurde. Nur eine Jugendliche fragte laut, warum denn niemand etwas unternimmt."
Warum unternehmen die Zuschauer nichts?
Wie kommt es dazu, dass kaum ein Zuschauer aktiv wird? Psychologin Tatjana Quiring spricht von dem Phänomen "Verantwortungsverschiebung": "Menschen greifen eher dann ein, wenn sie alleine in einer Situation sind und niemand sonst da ist, der das für sie übernehmen könnte." Ihr Tipp: "Wenn Sie selbst etwas unternehmen möchten, sprechen Sie gezielt eine andere Person an, die Sie auffordern, mit Ihnen zum Richter zu gehen."
Auf dem Turnier, aber auch im eigenen Stall, ist es wichtig, die Reiter in einer ruhigen Ecke direkt anzusprechen. Doch wer sich traut, etwas zu sagen, wird meistens rüde abgekanzelt. Quiring: "Bei einer konfrontativen Ansprache fühlt sich der Reiter angegriffen. Suchen Sie sich besser einen guten Gesprächseinstieg, zum Beispiel, indem Sie das tolle Pferd loben. Geben Sie konkrete Tipps, etwa, dass es besser sei, mit der Hand mehr nachzugeben."
Keine Platzierung mehr für Rollkur-Reiter?
Die beste Lösung: Wir würden kein unfaires Reiten mehr sehen. "Ich habe den Eindruck, dass heute Geld und Business bei den Verbänden mehr im Vordergrund stehen als Ausbildung und Lehre", sagt Dr. Gerd Heuschmann. "Es dürfte kein einziger Reiter mehr platziert werden, der sein Pferd ohne Rücken und in Rollkur reitet." Dr. Kathrin Kienapfel wünscht sich intensive Gespräche, Regelveränderungen und weniger spektakuläre Anforderungen an die Pferde. "Ich bin mir fast sicher, dass ein Totilas heute gar nicht mehr so sehr auffallen würde", glaubt sie.
Einen kleinen Hoffnungsschimmer gibt es vielleicht, wenigstens auf nationaler Ebene: Die Vereinigung der Freizeitreiter und -fahrer in Deutschland e. V. (VFD) sucht das Gespräch mit der FN. VFD-Präsident Hanspeter Hartmann: "Wir möchten die FN unterstützen, Regelwerke anzupassen, und zu handfesten Verabredungen kommen. Unsere Chance ist die Neutralität. Wir sind nicht abhängig von Sponsoren oder Sportförderungen." Die FN sieht dem Gespräch "positiv und ergebnisoffen" entgegen. CAVALLO bleibt dran!





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