Demenz bei Pferden
Honig im Pferdekopf

Sie erkennen ihre Freunde nicht mehr, laufen an ihrer Box vorbei und vergessen zu fressen: Manche Pferde zeigen Demenz-Symptome. Vergiss es, die Krankheit gibt es doch bei Pferden nicht! Oder doch?

CAVALLO Demenz bei Pferden
Foto: Lisa Rädlein

Wie der Ochs vorm Berg – so steht das Pferd vorm Futtereimer. Ein Fragezeichen scheint vor der Stirn des Vierbeiners zu kleben: Was soll ich damit? Die Besitzerin hilft und schüttelt den Eimer mit Müsli vor der Nase des Seniors. Endlich zuckt die Lippe – dann mampft der Wallach. Offenbar hatte er schlichtweg vergessen, was ein Futtereimer bedeutet.

Kompletten Artikel kaufen
Demente Pferde
Honig im Kopf
Sie erhalten den kompletten Artikel (5 Seiten) als PDF
1,99 € | Jetzt kaufen

Diese Szene erlebte Tierärztin Tina Wassing. Und sie ist kein Einzelfall. Im Praxis-Alltag begegnen ihr immer häufiger Pferde, die ähnliche Symptome zeigen wie demente Menschen. Bei Menschen mit Demenz sterben Nervenzellen im Gehirn. Sie werden zunehmend vergesslich, verwirrt und orientierungslos. "Das Verhalten des Wallachs erinnerte mich sehr daran", erzählt die Tierärztin aus Ahaus.

Kann es also sein, dass Pferde dement werden? Wieso wissen wir darüber dann so wenig? Und was hält das Gehirn fit? CAVALLO sprach mit Tierärztinnen, einer Lern- und Verhaltensforscherin und Menschen aus Pferdebetrieben. So viel vorweg: Es scheint, als wäre es dringend nötig, das Thema zu beleuchten. Wissenschaftlich ist Demenz beim Pferd bisher ein dunkler Fleck. Aber in der Praxis könnte es immer wichtiger werden.

Demenz ist eine typische Alterserkrankung. 70 Prozent aller Hunde über 15 sind dement

Nicht nur wir Menschen werden älter, auch unsere Pferde. Dank guter Zahnpflege und frühzeitiger Behandlung von Cushing und Co. steigt die Lebenserwartung der Vierbeiner. Tina Wassing sieht Demenz meist bei Pferden über 25 Jahren. Steht ein Senior nur noch auf der Weide, bleiben die Symptome oft verborgen. "Aber heute beschäftigen sich viele Pferdebesitzer noch intensiv mit ihren alten Pferden. Und sie kennen sie sehr gut, da sie schon lange zusammen sind. So fällt ihnen auch auf, wenn sich das Verhalten des Lieblings ändert", weiß Tina Wassing.

Kunden berichten ihr etwa, dass ihre Senior-Pferde plötzlich Schwierigkeiten haben, ihrer Routine zu folgen. Sie lassen sich etwa jahrelang problemlos am Putzplatz anbinden, dann jedoch wollen sie dort nicht mehr hin. Andere Tiere starren apathisch in die Ferne und wirken wie verloren. Oder sie sind nervös. Manche Pferde begrüßen ihre Freunde nicht mehr. Solche Verhaltensauffälligkeiten können mit Demenz zusammenhängen – müssen es aber nicht zwingend.

Demenz ist eine Krankheit, die im Alter vermehrt auftritt. Beim Menschen ist das bekannt. Auch zu Haustieren wie Hunden und Katzen gibt es zahlreiche Studien. Die zeigen: Das Risiko dement zu werden, erhöht sich im letzten Lebensdrittel immens. Die Zahlen alarmieren: Ein Drittel der 11- bis 12-jährigen Hunde leidet unter dem Caninen Kognitiven Dysfunktionssyndrom, kurz CCD. In der Altersgruppe ab 15 Jahren sind es sogar 70 Prozent. CCD ist mit der menschlichen Alzheimer-Krankheit vergleichbar, eine häufige Form von Demenz. Dabei zerstören bestimmte Eiweiße im Gehirn die Nervenzellen.

"Oft wird CCD unterdiagnostiziert, weil die Symptome als rein altersbedingt abgetan werden", sagt Dr. Nina Meyerhoff, Spezialistin für Neurologie für Kleintiere an der Tierärztlichen Hochschule in Hannover.

Und bei Pferden? Da klafft eine große Wissenslücke. Bisher gibt es keine Möglichkeit, Demenz sicher zu diagnostizieren. Dafür müsste man mit Pferden Verhaltenstests machen – was bei ihnen kompliziert ist. Beim Hund lässt sich leicht prüfen, ob er ein Kommando wie Sitz erinnert. Aber Pferde hören nicht wie Hunde prompt auf Befehle.

Für eine Diagnose könnte man die Hirnströme mit Sensoren am Kopf messen. Oder die Gehirnaktivität per Magnetresonanztomographie (MRT) feststellen. Das Problem: Es fehlen Normwerte beim Pferd. So lässt sich nur schwer einschätzen, ob es bei einem Pferd Abweichungen im Gehirn gibt – oder nicht. Zudem müssten die Pferde fürs MRT in Narkose gelegt werden. "Das ist bei alten Pferden riskant. Kaum ein Besitzer möchte das seinem Senior zumuten. Zumal es bei einer Diagnose nicht einmal ein Medikament gäbe, das Demenz heilt", weiß Tina Wassing.

Demenz bei Pferden ist fast gar nicht erforscht

Die Demenz-Forschung beim Pferd befindet sich im Dornröschenschlaf. So lautet die Einschätzung von Dr. Alisa Herbst. Sie forscht am Rutgers Equine Science Center in New Jersey dazu, wie Pferde altern. Die CAVALLO-Anfrage zum Thema weckte ihr Interesse. Schon im Vorfeld räumt sie ein, dass es wenig wissenschaftliche Erkenntnisse zu Demenz bei Pferden gäbe. Aber die Forscherin wollte es genauer wissen – und erstellte eine Liste mit allen Publikationen.

Die fiel ernüchternd aus: Es gab nur sehr wenige Studien – und diese zeigten Schwachstellen. Zum Beispiel wurden kaum alte Pferde einbezogen. "Seit die Möglichkeit von Demenz bei Pferden 2011 in Artikeln erwähnt wurde, gibt es dazu so gut wie keine weiteren aussagekräftigen Untersuchungen", sagt Dr. Alisa Herbst. "Das ist ziemlich schockierend."

Sie selbst stieß kürzlich auf das Thema im Rahmen einer Umfrage zur Gesundheit und Haltung von Seniorenpferden. Daran nahmen rund 3 000 Besitzer von alten Pferden teil. Tatsächlich berichteten einige Menschen, ihr Seniorpferd baue geistig ab. "Allerdings war die Anzahl dieser Berichte gering und es handelte sich um persönliche Meinungen. Es könnte also Demenz sein – aber auch vieles andere." Wichtig zu bedenken sei aber auch: Dass Pferde möglicherweise Demenz bekommen können, haben viele Reiter gar nicht auf dem Schirm. In der Wissenschaft und in den Reiterköpfen ist das Thema schlichtweg unterrepräsentiert.

So kann sich Demenz bei Pferden zeigen

CAVALLO fragte ebenfalls bei Pensionsbetrieben nach Erfahrungen. Birgit Schuster aus Elsoff beherbergt in ihrem Bewegungsstall im Westerwald viele Ruhestandspferde. Sie erinnert sich an einen Fall, der zu Demenz passt: Eine 28-jährige Stute verhielt sich anfangs ab und zu auffällig, nach etwa sechs Monaten dann täglich. Sie stand allein und orientierungslos im Auslauf und schien nicht recht zu wissen, was sie machen sollte. Am Ende erkannte sie auch ihren Kumpel Hansi nicht mehr. Dem Schimmel war sie sonst nicht von der Seite gewichen. Im Stall von CAVALLO-Redakteurin Barbara Böke gab es ein Pferd, das plötzlich seine Box nicht mehr fand, obwohl der Wallach zuvor jahrelang wie von selbst abends vom Auslauf dort hinlief. Ein anderes Pferd verhielt sich plötzlich aggressiv, als es in die Box geführt werden sollte.

Einige Tierärzte gehen davon aus, dass Pferde ähnliche Demenz-Symptome zeigen wie Menschen und Hunde. Die Crux: Die Symptome von kognitiven Einschränkungen sind unspezifisch. Sie können bei verschiedenen Krankheiten auftreten. Dr. Alisa Herbst stieß auf eine spannende Tabelle aus der Hundeforschung. Diese nennt häufige Anzeichen von kognitiven Einschränkungen beim Hund – die auch für Pferde gelten könnten: Orientierungslosigkeit, verändertes Verhalten gegenüber Menschen oder anderen Tieren, gestörter Schlaf-Wach-Rhythmus, Wechsel der Aktivität von unruhig bis apathisch.

Die Tabelle zeigt auch, welche Krankheiten möglicherweise noch hinter solchen Symptomen stecken. "Diese gilt es zuerst auszuschließen", meint Dr. Alisa Herbst. ""Verlieren Tiere ihr Hör- oder Sehvermögen, kann dies zum Beispiel auch zur Orientierungslosigkeit führen. Ebenso können Arthrose und andere schmerzhafte Erkrankungen das Verhalten verändern." Die Expertin rät: Zeigt das Pferd Verhaltensänderungen, sollte immer ein Tierarzt die Ursache abklären.

Viele andere Krankheiten lösen ähnliche Symptome aus wie Demenz

Das kann ein langwieriger Weg sein. Tierärztin Tina Wassing geht per Ausschlussverfahren vor und spricht intensiv mit den Besitzern. Sie checkt etwa folgende Fragen: Hört und sieht das Pferd noch gut? Wie läuft es? Fühlt das Pferd sich in der Herde wohl? Legt es sich noch hin? Hat es Zahnschmerzen? Das alles gibt Hinweise auf Erkrankungen.

Tierärzte können nur die Symptome lindern bei Demenz. Tina Wassing gibt gegen Stress und Unruhe Nahrungsergänzungsmittel wie Magnesium, Baldrian, Tryptophan und das Tierarzneimittel Nurexan. Besitzer beobachteten auch, dass es manchen Pferden im Winter besser ging als im Sommer. Woran lag das? "Der einzige Unterschied war die Decke", sagt die Tierärztin. Tatsächlich machte sie gute Erfahrungen damit, wenn demente Pferde eingedeckt werden.

CAVALLO Demenz bei Pferden
Lisa Rädlein
Bewegung und ein aktives Leben halten das Gehirn fit. Training mit Bändern fördert die Körperwahrnehmung.

Einen ähnlichen Zweck erfüllen auch Körperbänder: "Wenn die Reizwahrnehmung schlechter wird, dann hilft es, wenn das Pferd weiß, wo es anfängt und aufhört. Das leisten die Bänder", meint sie. Auch Balance Pads, Massagen, Ttouch nach Linda Tellington-Jones und Physiotherapie können Demenz-Patienten guttun. Kann man Demenz vorbeugen? Ja, das zeigen Studien zu Menschen und Hunden. Bewegung und ein aktives Leben halten das Gehirn fit. Kleintierspezialistin Dr. Nina Meyerhoff rät bei Hunden zu Suchspielen, interaktiven Spielzeugen, zum Einüben von Tricks und viel Bewegung. "Das alles innerhalb einer Routine im Alltag, die Sicherheit vermittelt."

CAVALLO Demenz bei Pferden
Lisa Rädlein
Lerntraining fördert die Fitness im Kopf.

Auch Pferde profitieren von Lerntraining und Bewegung. "Neuronale Bahnen im Gehirn sind wie Straßen: Je öfter das Pferd sie benutzt, desto breiter werden sie. Training fürs Köpfchen spricht solche neuronalen Bahnen an", erklärt Pferdewissenschaftlerin Dr. Vivian Gabor, die das Institut für Verhalten und Kommunikation in Greene leitet.

Je besser das Gehirn trainiert ist, desto besser ist es auch gegen Degeneration gewappnet. Was Suchspiele für Hunde sind und Kreuzworträtsel für Menschen, gibt es auch für Pferde. "Man kann Pferden etwa beibringen, Symbole zu unterscheiden", sagt die Lernforscherin. Wie das geht? Klicken Sie mal online in den CAVALO-Artikel unter: www.cavallo/intelligenz

Anregungen gibt es auch im Buch von Dr. Vivian Gabor: "Mein Pferd kann’s. Lerntraining für Pferde." Was toll ist: Wer solche Tests mit seinem Pferd schon übt, wenn es noch fit ist, kann damit später auch immer wieder die Gedächtnisleistung prüfen und Veränderungen leichter feststellen.

CAVALLO Demenz bei Pferden
Lisa Rädlein
Langsam über den Stangensalat gehen: Das hält alte Pferde fit. Solche Aufgaben fordern den Körper und das Köpfchen. Das Pferd bildet neuronale Bahnen im Gehirn, wenn die Koordination gefordert wird.

Auch motorische Aufgabe sind wichtig fürs Köpfchen: Alte Pferde können noch über Stangen gehen, durch ein Stangen-Labyrinth laufen oder ins Gelände gehen. "Ich bin neulich seit Langem wieder mit meinem 24-jährigen Wallach Pablo ausgeritten. Der Untergrund verändert sich, was unterschiedliche taktile Reize bringt. Pablo hat am Waldboden geschnuppert und seine Sinne genutzt. Er war viel wacher als sonst im Alltag", erzählt Dr. Vivian Gabor. Abwechslung tut Seniorenpferden also durchaus gut.

Und was ist, wenn Tiere bereits orientierungslos sind? "Dann sollte man sie nicht mehr reiten, aber auch nicht nur wegstellen", rät Tierärztin Tina Wassing. Routinen können helfen: etwa täglich zur gleichen Zeit die gleiche Spazierrunde einlegen, Striegeln und Fütterungszeiten einhalten. Außerdem sollte man Wechsel in der Herde vermeiden. Denn das bringt dem Pferd zusätzlichen Stress. Es gibt also durchaus Möglichkeiten, Pferden mit Demenz-Symptomen das Leben zu erleichtern.

Und noch eine gute Nachricht zum Schluss: Über demente Pferde gibt es zwar wenige Studien. Dafür aber zeigen wiederum mehrere wissenschaftliche Untersuchungen, dass Pferde einen positiven Einfluss auf Menschen mit Demenz haben. Die Patienten lächelten mehr nach dem Kontakt zum Tier – und sie ärgerten sich weniger.

Die aktuelle Ausgabe
4 / 2023

Erscheinungsdatum 15.03.2023