Herzschlag? 36 Schläge pro Minute. Atemfrequenz? Zwölf Züge pro Minute. Temperatur? Im Normbereich. Wo der Tierarzt für diese Daten sonst Stethoskop, Fieberthermometer, Uhr und vor allem Zeit braucht, sind sie jetzt auf einen Blick erfassbar – dank einer Art professioneller Smartwatch am Pferd.
Mehr als ein Fitness-Tracker
Dabei ist das Piavet-System mehr als ein simpler Fitness-Tracker am Handgelenk respektive Pferdefell. In dem etwa handtellergroßen Gerät steckt Hightech pur: Über 6000 Messpunkte erfassen wichtige Vitaldaten des Pferds wie Herz- und Atemfrequenz, Körpertemperatur, die Aktivität sowie über ein EKG sogar den Herzrhythmus. Und das alles, ohne das Pferd selbst zu untersuchen – oder überhaupt anwesend zu sein.
Das vereinfacht Tierärzten und Klinikmitarbeitern den Alltag. Giulia Di Garbo, Tierärztin an der Pferdeklinik Parsdorf bei München, nutzt das Gerät daher gerne. „Es ist eine sehr gute Unterstützung“, so die Erfahrungen der Veterinärin.

Kolik-Patienten werden besser überwacht
In der Klinik Parsdorf, wo wir uns das Piavet-System zeigen lassen, ist es seit knapp zwei Jahren im Einsatz. Intensivpatienten wie Koliker werden damit engmaschig überwacht, ebenso wie vierbeinige Patienten in den Isolationsboxen. Ein weiterer Vorteil bei Letzteren: Man spart sich Kleiderwechsel, Desinfektion und verringert die Ansteckungsgefahr für die übrigen Tiere.

Auch wenn die Tierärzte stehende, sedierte Pferde behandeln, liefert das System im Hintergrund Daten – etwa bei Behandlungen an Augen, Zähnen, Wunden oder während der Computertomographie. Dazu kommt: „Bei manchen Pferden ist Fieber messen sehr schwierig, mitunter sogar richtig gefährlich“, sagt Giulia Di Garbo.
Wenn Tierarzt oder Helfer sich nicht stündlich der Gefahr eines Huftrittes aussetzen müssen – umso besser. Die Daten werden zudem gespeichert, können noch nach Monaten zum Vergleich abgerufen und verschickt werden. Klingt ziemlich technisch – ist die Handhabung entsprechend kompliziert?
Einfach zu bedienen mit einem Bauchgurt
Im Gegenteil, das Gerät ist mit wenigen Handgriffen einsatzbereit. Auf der linken Bauchseite kommt etwas Alkohol aufs Fell, um die Leitfähigkeit zu verbessern. Rasiert werden muss das Pferd nur bei dickem Winterfell. Anschließend wird ein elastischer Bauchgurt angelegt, das Gerät wird darin eingeklipst – fertig.

Werden die Vitaldaten permanent gemessen, hält der Akku etwa 22 bis 28 Stunden; bei Messungen alle halbe Stunde kann das Gerät mehrere Tage in Betrieb sein. Temperatur oder Herzschlag werden dabei nicht direkt gemessen: Das Gerät erfasst über 6.000 Messpunkte und 18 Sensoren zunächst mal nur Daten. Davon aber Unmengen.
Die werden vom Gerät am Pferd via Bluetooth an die Basisstation geschickt. Die wiederum sendet die Daten aller Geräte über eine SIM-Karte oder LAN-Netzwerk in die Cloud. „Dort passiert die eigentliche Magie“, sagt Sascha Bührle, einer der beiden Piavita-Chefs, und meint: Hier werden aus Zahlen Vitaldaten des Pferds.
Die Vitaldaten sind überall und jederzeit verfügbar
Das Messgerät am Pferd erfasst den Wärmefluss – also die Wärme, die den Pferdekörper verlässt – sowie weitere Temperaturindikatoren. Aus der Kombi dieser Informationen wird dann in der Cloud die Körperkerntemperatur berechnet. Und der Herzschlag basiert auf der Spitzenerkennung des EKG-Signals, „spezifisch fürs Pferd entwickelt“, sagt Piavita-Chefin Dr. Dorina Thiess.

Die Werte werden anonymisiert auf einem Server gespeichert und auf eine Internetplattform gespielt. Von dort aus sind Herzschlag & Co. jederzeit für die behandelnden Veterinäre abrufbar – etwa auf dem Computer im Klinikbüro, der die Daten aller Patienten auf einen Blick zeigt, auf dem Tablet in der Stallgasse oder auf dem Smartphone von unterwegs aus.
Piavet ist aus einer Tüftelei entstanden
So viel Technik setzt versierte Köpfe hinter den Kulissen voraus. Kein Wunder, dass am Anfang der Piavita-Geschichte das Tüfteln stand, nämlich das von Sascha Bührle: Der Mountainbiker wollte eigentlich seine Federgabel besser einstellen – und entwickelte ein Gerät, das im Gegensatz zu ähnlichen Geräten auch durch Schlamm und Staub hindurch messen konnte.

Aus der Tüftelei des Mikroelektronik-Ingenieurs bei einem Automobilzulieferer wäre vermutlich nichts weiter geworden, wäre er nicht mit Dorina Thiess befreundet. „Als er mir davon erzählte, dachte ich: Spannende Sache, da kann man doch sicherlich mehr machen“, erinnert sie sich.
Erster Einsatz beim Pferd
Die BWLerin mit Schwerpunkt Elektrotechnik war damals, 2012, Gründerberaterin an der Universität Sankt Gallen/Schweiz. Beide streckten ihre Fühler aus, um auszuloten, wo man die Technik einsetzen konnte – und landeten am Tierspital Zürich. Dort sahen sie, wie aufwändig die Pferdedaten auf dem Klemmbrett erfasst wurden.
„Das war der Moment, in dem wir wussten: Hier können wir was bewegen und mit unserer Technik die Versorgung der Tiere verbessern“, erzählt Dorina Thiess. Ihr Hintergedanke: Wenn der Tierarzt weniger Zeit damit verbringen muss, Daten zu erfassen, kann er sich besser auf Diagnostik und Behandlung konzentrieren.
2015 kündigten Thiess und Bührle ihre Jobs und fokussierten sich ganz auf ihre Erfindung. „Wir wollten kein Produkt umentwickeln, sondern von Grund auf etwas machen, was den Bedürfnissen der Tierärzte gerecht wird“, sagt Thiess. Mit Erfolg: Nach zwei Jahren Entwicklungszeit wurden die ersten Prototypen an Kliniken ausgeliefert.
Das Geld für das System kommt von Investoren
Heute ist das Messsystem bereits bei 230 Veterinären in sechs europäischen Ländern und den USA im Einsatz. Das Geld dafür kommt von Investoren, die in dem jungen Start Up Potenzial sehen. „Unsere Partner haben uns zudem inhaltlich unterstützt, weil sie viel Knowhow auf dem Gebiet der Medizintechnik haben“, sagt Dorina Thiess. In drei Jahren wollen sie und Bührle mit ihrem Unternehmen profitabel sein.
Für die nächsten Jahre haben die beiden Gründer noch einiges an Weiterentwicklung geplant. Etwa einen automatisierten Alarm, wenn bestimmte Grenzwerte über- oder unterschritten werden. Auch an einer EKG-Messung in Bewegung tüfteln die Techniker gerade; damit könnte das Messgerät auch für Ankaufsuntersuchungen etwa von Renn- oder Vielseitigkeitspferden interessant werden.
Und in Zusammenarbeit mit Züchtern und Tierärzten loten Thiess und Bührle gerade aus, wo in punkto Zucht Messbedarf besteht. „Wir wollen langfristig noch mehr Hilfestellungen geben“, sagt Thiess – damit dem Doc mehr Zeit fürs Pferd bleibt.
Die Piavita AG
» 2015 von Dr. Dorina Thiess und Sascha Bührle (beide 31 Jahre alt) gegründet
» Medizintechnologisches Start Up mit 35 Mitarbeitern, Sitz in Zürich und dem Ziel, „die Veterinärmedizin zu revolutionieren“
» Mehrfach ausgezeichnet, etwa mit dem CTI Start-up-Label der Eidgenössischen Kommission für Technologie und Innovation
» Mehrere Hauptinvestoren wie ZKB und True Ventures
» www.piavita.com/de