Die Schublade in Julia Melanie Hahlwegs Kopf war ziemlich eindeutig beschriftet. „Tierheilpraktiker waren für mich undurchsichtige Heiler. Ich wollte nie so eine Pferdetante sein, die Kügelchen gibt“, sagt sie, lacht und schüttelt über sich selbst den Kopf. „Heute nutze ich sie selber. Schon verrückt, oder?“
Ein wenig verrückt klingt das schon. Wie wird jemand, der eine so klare „Humbug“- Schublade hat, nicht nur Tierheilpraktiker – sondern zudem Experte für eben diese homöopathischen „Kügelchen“? Und bezeichnet die Entscheidung auch noch als „die beste meines Lebens“?

Umarmungen fürs Pferd und den Besitzer
Die letzte Frage beantwortet sich, wenn man Hahlweg im Umgang mit ihren vierbeinigen Patienten und deren Besitzern sieht. „Hallo Petra“, begrüßt die 46-jährige Rothaarige die Pferdebesitzerin, nimmt sie kräftig in den Arm und fragt: „Na, wie geht es dir und Sammy?“ Sammy ist ein 18-jähriger Pinto, der auf einem Hof westlich von Stuttgart lebt.
Seit einem Unfall vor rund viereinhalb Jahren zieht der Wallach im Schritt wie ein Zinnsoldat das rechte Hinterbein nach vorne-oben. „Das kriegt man nicht mehr ganz weg“, meint Therapeutin Hahlweg. „Ich kann aber versuchen, die Verspannungen, die sich daraus ergeben, möglichst zu reduzieren.“ Vorsichtig und zielstrebig zugleich tastet sie Sammy ab. Der schwarz-weiße Wallach zieht eine Schnute. „Ja, hier tut’s dir weh, richtig? Keine Sorge, wir machen was dagegen“, beruhigt Hahlweg ihren Patienten. Für Sammy hat sie heute Blutegel dabei, die am Knie des Unfallbeins die Beschwerden lindern sollen.

Beißen die Tierchen denn bei grade mal fünf Grad über Null? „Ich hab ein gutes Blutegelkarma“, meint Hahlweg gelassen, während sie Sammys Winterplüsch am Knie vorsichtig rasiert. Dann fischt sie die Egel aus einem Schraubglas – voilà, sie beißen. Fünf Stück hängen an Sammys Knie. „Bei Spat setze ich schon mal 15 Stück ans Sprunggelenk. Damit erreicht man mehr. Außerdem sind das so richtige Stammtischtypen, die saufen am liebsten gemeinsam.“ Wer sich so volllaufen lässt, landet normalerweise in der Gosse. Hahlwegs Egel landen im Teich. Genauer: im Rentnerteich der Biebertaler Blutegelzucht. Dorthin schickt Hahlweg die Egel nach ihrem Einsatz als „Fertigarzneimittel“ zurück.
„Das kostet zwar etwas mehr, aber ich möchte auch nicht in der Tonne landen, wenn ich meine Arbeit beim Patienten getan habe“, sagt sie. Während die Egel zufrieden an Sammys Knie nuckeln, untersucht Hahlweg ihren nächsten Patienten. Der vierjährige Friesenwallach Funky „ist etwas schief in der rechten Hinterhand“, erklärt sie und lässt Funky vorführen. „Hören Sie mal. Funky tritt hinten rechts über die Hufspitze auf, das klingt etwas hohl. Hinten links tritt er über die Sohle auf, das hört sich dumpfer an.“

Verlorene Nadeln im Shetty-Winterplüsch
Hahlweg, seit 20 Jahren mit eigener Praxis, spürt nun in Funkys Muskulatur nach Blockaden. Der Wallach soll akupunktiert werden. „Ich teste in diesem Fall nicht alle Organpunkte nach der Traditionellen Chinesischen Medizin durch“, sagt sie, während ihre Hände übers Fell wandern, „sondern verlasse mich auch auf meine Erfahrung.“ Flugs wandern im Anschluss die Nadeln ins Fell. „Es ist angenehm, dass Funky noch kein so dichtes Winterfell hat“, kommentiert Hahlweg. „Mir ist es schon zwei-, dreimal passiert, dass ich ein Shetty mit Winterplüsch akupunktiert und danach nicht alle Nadeln wiedergefunden habe.“ Da helfe nur, die Nadel drin zu lassen und dem Besitzer zu sagen: „Am nächsten Tag greifst du die. Erstaunlicherweise war die Nadel dann da, obwohl wir sie am Vortag 20 Minuten vergeblich gesucht haben.“
Neben Akupunktur und Blutegeltherapie hat Hahlweg noch Phyto- (Kräuter), Myko- (Medizinpilz) und Bachblütentherapie im Portfolio – und eben die klassisch-homöopathische Konstitutionstherapie.

Womit wir wieder bei der Frage wären: Wie kam Skeptikerin Hahlweg zu den „Kügelchen“? Ihre ursprünglichen Berufswünsche sahen auf den ersten Blick anders aus. „Ich wollte Juristin oder Archäologin werden“, erzählt Hahlweg. „Bis ich merkte, dass Archäologie wenig mit Indiana Jones zu tun hatte.“ An der Juristerei fasziniert sie das „Fälle knacken“: Lösungen für knifflige Angelegenheiten zu suchen und zu finden. Weil ihr das Studium zu lange dauert, macht sie eine Ausbildung zur Bürokauffrau – und ist nach ein paar Jahren kreuzunglücklich im Beruf. Ihr Freund schlägt vor: Werde doch Tierheilpraktikerin!

Ein großer Haufen kann ein Symptom sein
„Total abwegig“ fand Hahlweg das. Trotzdem informiert sie sich an der Akademie für Tiernaturheilkunde in Bad Bramstedt/ Schleswig-Holstein und merkt: Da gibt’s eine Gemeinsamkeit mit der Juristerei. „In dem Beruf findet man Lösungen für Pferde, denen keiner helfen kann.“ Genau ihr Talent, wie sie entdeckt: „auf Dinge zu kommen, auf die sonst keiner kommt“, Zusammenhänge herzustellen, die keiner sieht. „Setzt Funky immer so einen großen Haufen ab?“, fragt sie etwa, als der Friesenwallach nach der Behandlung äppelt. „Das kann ein Zeichen dafür sein, dass irgendwas nicht im Einklang ist.“ Wenn sie einen neuen Patienten anschaut, nimmt sie solche, mitunter unspezifischen Symptome auf. „Schulmedizinisch gibt es für viele meiner Patienten keine Erklärung“, sagt Hahlweg. Vielleicht arbeite sie gerade deshalb gut mit Tierärzten zusammen, „weil wir uns therapeutisch nicht ins Gehege kommen“.

Zwei bis drei Stunden dauern Untersuchung und Anamnese. Die eigentliche Arbeit findet danach in Büro und Wohnzimmer statt, wie uns Hahlweg beim CAVALLO-Termin zeigt – nachdem sie die volltrunkenen Egel eingepackt und (alle) Akupunkturnadeln entfernt hat. In ihrem Büro stapelt sich die homöopathische Fachliteratur. „Ich mach’s mir dann mit Büchern im Wohnzimmer gemütlich und notiere, welche Mittel zu den Symptomen passen könnten.“ Das dauert zwei, drei Abende.
Steht der Behandlungsplan, kauft der Pferdebesitzer die Homöopathika und gibt fünf Kügelchen einer Sorte. Schlagen die nicht wie gewünscht an, werden eine Woche später die nächsten fünf gegeben. Von Homöopathika ist Hahlweg überzeugt, seit sie ihr eigenes Pferd behandelte. Ihre Stute hatte nach einem Umzug einen Blähbauch, stumpfes Fell, fraß kaum noch, war apathisch.

Das verschwand nach einer Kügelchengabe. „Ich hätte es nicht geglaubt, wenn ich es nicht erlebt hätte.“ Hahlwegs eindrucksvollster Fall war jedoch ein Pferd, das immer wieder massive Elefantenfüße bekam. Zwei Jahre waren nötig, bis die Tierheilpraktikerin den passenden Kügelchen-Mix fand; ab da blieb das Pferd gesund. Medizinisch gesehen, so Hahlweg, „ist das Hokuspokus, das ist mir als Wissensmensch klar. Aber es funktioniert.“




