Gerade mal 230 Quadratmeter Auslauffläche für vier Pferde, keine gemeinsame Möglichkeit für die Tiere, gemeinsam zu fressen – und die Jungpferde werden separat gehalten anstatt in Gruppen: Wer von solchen Annahmen für die Pferdehaltung ausgeht, erntet heute gewiss ein Kopfschütteln. Doch diese drei Beispiele sind Punkte, die in den "Leitlinien zur Beurteilung von Pferdehaltungen unter Tierschutzgesichtspunkten" zu finden sind. Herausgegeben wurden die Leitlinien, die als "Orientierungs- und Auslegungshilfe" dienen sollen – etwa Stallplanern, aber auch Behörden und Veterinärämtern –, vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL). Die letzte Aktualisierung datiert allerdings aus dem Jahr 2009.
Leitlinien sollen Forschungsstand angepasst werden
Unser Wissen zum Pferdeverhalten und damit zu idealen, artgerechten Pferdehaltung ist da schon deutlich weiter, dank unzähliger Forschungen der letzten Jahre. Gerade weil den Leitlinien in der Praxis eine hohe Bedeutung zukomme, sollten diese auch ans heutige Wissen angepasst und regelmäßig aktualisiert werden. Eine Überarbeitung sei erforderlich, sagt Dr. Andreas Franzky, da die Leitlinien "nur noch ungenügend den gesellschaftlichen Tierwohlkriterien sowie dem aktuellen wissenschaftlichen Anspruch an eine tierschutzgerechte Pferdehaltung entsprechen". Der Tierarzt gehört ebenso wie fünf weitere Mitglieder (Dr. Miriam Baumgartner, Dr. Margit Zeitler-Feicht, Dr. Angela Schwarzer, Georg W. Fink und Stefanie Arnhard) zum Arbeitskreis Pferd der TVT. Ihr Ziel: Eine Überarbeitung der Leitlinien anzustoßen.
Positionspapier an Ministerium übergeben, bisher passierte nichts
Die TVT übergab daher ein fast 90 Seiten starkes Positionspapier im Februar 2022 an das BMEL – in der Hoffnung, dass dies eine Überarbeitung anstoßen würde. Passiert ist von Seiten des Ministeriums bislang: nichts. Bleibt zu hoffen, dass sich dies bald ändert – für ein artgerechteres Leben unserer Pferde.
Das vollständige Positionspapier der TVT mit einem lesenswerten Vorher-Nachher-Vergleich der Leitlinien finden Sie hier:
Einige wichtige Punkte aus dem Positionspapier:
- Aufzucht von Jungpferden in Gruppen: Verhaltensweisen sind angeboren, aber dass das Verstehen dieser Ausdrucksformen erlernt werden muss, gehört nach Ansicht der TVT in die Leitlinien; ebenso wie der Passus, dass es "für die soziale Entwicklung von Fohlen und Jungpferden [...] unabdingbar [ist], dass sie in einer Gruppe aufwachsen." Das sei Mindestanforderung.
- Futter-Aufnahmen: Pferde müssen die Möglichkeit haben, gemeinsam Raufutter zu fressen, so die TVT. Ein weiterer Punkt: Es solle explizit in die Leitlinien aufgenommen werden, dass Überfütterung ebenso wie Mangelernährung tierschutzrelevant ist.
- Bewegungsverhalten: In den Leitlinien heißt es bisher nur, in Pferdehaltungen sei täglich für ausreichende Bewegung der Tiere zu sorgen. Das Positionspapier fordert mehr: ausreichend groß bemessene Auslaufflächen, Bewegungsanreize, bei Boxenhaltung eine "mehrstündige Bewegungsmöglichkeit [...], möglichst im Freien". Und: Ausläufe sollten "hinsichtlich Flächenangebot und Bodenbeschaffenheit" galoppierfähig sein – ganzjährig und witterungsunabhängig.
- Witterungsabhängiges Verhalten: Bislang gibt es kein entsprechendes Kapitel in den Leitlinien; das müsse laut TVT nachgeholt werden, da die "thermoregulatorischen Fähigkeiten" des Pferds bislang nicht berücksichtigt wurden, was zu tierschutzrelevanten Fehleinschätzungen geführt habe. Aspekte in diesem Kapitel sind etwa, dass eine konstante Stalltemperatur nachteilig sei – und dass Eindecken nur eine Ausnahme sein sollte.
- Fachgerechtes Management: Egal ob Reiter, Pferdebesitzer, Stallbetreiber oder Pferdepfleger: Wer immer mit dem Pferd direkten Umgang hat, müsse die notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten haben, also sachkundig sein, so die TVT. Nur dann könnten Pferde angemessen betreut werden.
Was die größten Baustellen bei Offenställen sind, wie Pferde sich dort wirklich wohlfühlen und warum ausgerechnet die Pferdehaltungs-Leitlinien zur Misere beitragen, lesen Sie in CAVALLO 12/2023, ab 23. November am Kiosk.