Unter den Wanderschuhen knirscht der Kies. Der Gedanke, bald schon darin Hufabdrücke zu entdecken, spornt uns beim Laufen an. Kühl und erfrischend ist die Luft. Durch den Regen in der Nacht riecht sie nach feuchter Erde, Nadeln, Laub und nassem Gras. Die Sonne steigt höher und entlockt dem Wald würzige Harz- und Kräuterdüfte. Der erste Blick auf Buchen, Eichen, Kiefern weckt Vertrautheit.
Pionierarbeit mit Herz und Huf
Beim zweiten fallen uns die leuchtend roten Früchte zwischen ihnen auf und erinnern daran, dass wir schon in den Vorläufern der Pyrenäen sind. "Das sind Madroños – die Früchte des Erdbeerbaums. Wenn sie überreif im Herbst herunterfallen und am Boden gären, sind manche Tiere ganz verrückt nach ihnen", verrät uns Leonor Diaz de Liaño Serra, kurz Leo genannt. Wir haben Glück, dass wir die sympathische Katalanin heute bei einer Routinetour begleiten dürfen. Ihre Mission führt uns an diesem Morgen in die Sierra de Santo Domingo, ein wald- und felsenreiches Landschaftsschutzgebiet bei Biel in Aragonien. Neben unzähligen Vogelarten, Hirschen, Alpenböcken und den scheuen Ginsterkatzen leben hier auch Tierheimtiere: Pferde sowie Esel. "Vor drei Jahren fing für sie das Abenteuer Freiheit an", berichtet Leo. Sie fand nicht nur den Ort dafür. Sie schuf und leitet auch den Tierrettungsverein "Asociación Defensa Équidos" (ADE) sowie die beiden Tierheimfarmen, aus denen die Equiden stammen.
Tiere retten ohne einen Cent vom Staat
2022 pachtete die ADE knapp ein Viertel der geschützten Landschaft und begann, die 2200 Hektar große, überwiegend waldbedeckte Fläche mit ihren Schützlingen zu besiedeln. So begann das Projekt "LiberADE". Das Wortspiel mit dem Vereinsnamen klingt nach Befreiung. "Nur kräftige, gesunde Pferde wurden ausgewählt. Den Anfang machten zehn. Schrittweise folgten mehr, auch Esel", hören wir. Ungeachtet ihrer oft sehr negativen, teils traumatischen Erfahrungen waren die Tiere bis zu diesem Zeitpunkt letztlich abhängig vom Menschen. "Dennoch lernten sie, die Geräusche und Gerüche zu akzeptieren, sich allein zurechtzufinden, in der Natur zu orientieren, Nahrung, Wasser und Ruheplätze selbst zu suchen", sagt die Aktivistin. "Ein Jahr haben wir die Auszuwildernden gefüttert und begleitet. Halsbandsender informieren uns per App bis heute über ihre Positionen und Bewegungen", erzählt uns Leo auf dem Weg zum Reservat. Immer wieder schaut sie auf ihr Handy nach den aktuellen Standorten der Tiere. Die Punkte auf der Karte sind verstreut und weit von uns entfernt.
"Zurzeit gibt es acht Gruppen zwischen drei und sieben Individuen. Doch ändert sich diese Struktur genauso wie ihre sozialen Bindungen. Am Anfang gab es viele Pferd-und-Esel-Freundschaften, aber auch Verletzungen durch Tritte. Jetzt sieht man beide Arten eher unter sich", lässt sie uns wissen. Auch, dass alle Pferdehengste kastriert sind. Eine zweite Herde, die im Reservat zur Untermiete überwintert, besteht aus circa 50 Stuten der mittelschweren Kaltblutrasse Navarro.
"Betreutes Wohnen light"
Insgesamt umfasst die Patchwork-Freilandwohngemeinschaft inklusive Gästen mittlerweile rund 100 Pferde- sowie Eselstärken und ist weitestgehend auf sich selbst gestellt – à la "Betreutes Wohnen light". Im Winter und in Notfällen wird zugefüttert.
Kontrollgänge, Beobachtung und Dokumentation sind die Routine von Jesús, dem Ranger. Er ist stets mit Kamera und Erste-Hilfe-Koffer unterwegs. Bei größeren Verletzungen und Krankheitsfällen ordnet er professionelle Hilfe an – meistens gegen Rechnung. Kostenlos springt als Vereinsmitglied Carmen Paniego Murillo ein – Mamen, wie sie alle nennen. So wie jetzt mit uns besucht die Tierärztin aus Saragossa regelmäßig ihre Lieblinge.
Bislang fehlt jede Spur von ihnen – bis sich auf dem Boden endlich Hufabdrücke zeigen. "Die größeren stammen von Pferden. Die anderen haben die kleinen Esel hinterlassen", erklärt Leo. Als sie gerade auf dem Handy nach dem Standort sucht, erscheint das "Playmobil"-Eselquartett. In Spanien kennt man eher große Katalanenesel, die vier kurzbeinigen Langohren wirken wie Spielfiguren.
Sie kommen auf uns zu. Ihr Interesse gilt allein den beiden Frauen, die ihnen gut bekannt sind und obendrein Möhren, Äpfel und Massagebürsten haben. Wir beiden anderen sind nur Besucher, halten uns ans Fütterungsverbot.
Das Leben draußen macht selbstbewusster
In der Nähe eines großen Stalls entdecken wir – wie mit GPS vorausgesagt – ein Pferd mit Senderhalsband. Es ist nicht allein. Vier weitere begleiten es. Sie sind unterwegs zum Teich, der mitten in der Wiese vor uns liegt. Leon und Mamen rufen sie. Drei kehren um, als sie ihre Namen hören.
Zwei weiße Stuten – eine mit Senkrücken, die jahrelang schwere Touristen schleppen musste, und heute unbeschwert durchs Leben trabt. Die andere fand man mit ihrem Fohlen fast verhungert in einem unbewohnten Haus. Und der wunderschöne braune Ex-Hengst, den eine Reitschule versteckte und unter Schmerzen sterben lassen wollte, weil man ihn wegen eines Penis-Tumors niemandem zeigen wollte. Im letzten Augenblick wurde das arme Tier entdeckt, gerettet, operiert und auskuriert. Jetzt strotzt er vor Stärke.
Gesundheitlich gehe es allen gut so weit, sagt Mamen. Dank täglicher Bewegung verbesserten sich Kondition und Muskulatur deutlich. Dennoch sehen einige Pferde mager aus. Die Ursache sind Parasiten. "Ein Nachteil, den das Leben in der Wildnis leider mit sich bringt. Medikamente verwenden wir nur sparsam, um Resistenzen zu vermeiden", so die Medizinerin. Generell seien alle kräftiger, mutiger und selbstbewusster geworden. "Es war richtig, die Tiere der Natur anzuvertrauen", meint Leo. "Auch, wenn ich mitunter Zweifel habe, ob sie nicht lieber jeden Tag umsorgt sein wollen."
Pferd und Esel helfen Hirsch und Wildschwein
Hoch in den Himmel, wo Bart- und Gänsegeier kreisen, ragen aus der grünen Hügellandschaft steile Felsbänder aus strahlend weißem Kalkstein. Auf den Wiesen blüht der Safran, funkeln rot die Punkte der Apollofalter. Wenn Pferde Sinn für Schönheit haben, sollte ihnen diese Szenerie ein Segen sein. Ein echtes Paradies ist dieses so idyllisch wirkende Gebiet aber noch nicht.
Am Ein- und Ausgang wird das Schutzgebiet, das überwiegend Felswände begrenzen, durch Elektrodrähte eingezäunt – leider auch durch pferdeunfreundliche Viehgitter. "Man will verhindern, dass die Tiere in das Dorf gelangen. Anfangs gab es keine Barrieren. Die Tiere suchten die Menschen, bedienten sich in Gärten und auf Feldern", erklärt Mamen. "Diese Stolperfalle sollte längst entfernt oder gesichert sein. Das Leben einer Stute hat sie bereits gekostet."
Durch Jagd gab es zum Glück noch keine Unfälle. Dennoch sieht die ADE darin ein Problem und will rechtlich und mit Appellen an Moral und Mitgefühl gegen das Schießen vorgehen. Auch in Spanien darf man in Landschaftsschutzgebieten jagen. Die Jäger wissen, dass sie ihre Waffen nicht gebrauchen dürfen, wenn Esel oder Pferde in der Nähe sind. Die Wildschweine und Hirsche inzwischen auch. Sobald die Jagd beginnt, suchen sie Zuflucht bei den Tierheimtieren und warten, bis die Ballerei vorbei ist.