Mit gespitzten Ohren verfolgt Wallach Feivel, wie vor seiner Klinikbox Elektroden und deren dazugehörige farbige Kabel sortiert werden. Hellwach sieht der 14-jährige Braune aus – und gar nicht so, als wäre er übermüdet und hätte nicht gut geschlafen. Doch genau das herauszufinden, ist der Grund für Feivels Besuch in der Tierklinik Lüsche.
Die Klinik in Niedersachsen, ungefähr auf halber Strecke zwischen Osnabrück und Bremen gelegen, besitzt als einzige Privatklinik in Deutschland ein Schlaflabor: Wie gut Pferde nachts ruhen, kann so genau analysiert werden. Sonst ist das nur an der Ludwig-Maximilians-Universität München möglich. Quasi das Verbindungsglied zwischen München und Lüsche ist die Tierärztin, die gerade vor Feivels Box die Kabel entwirrt: Dr. Christine Fuchs.
Sie schrieb ihre Doktorarbeit an der Uni München, Thema: Schlafstörungen bei Pferden. "Wir hatten damals die These aufgestellt, dass als Narkoleptiker bekannte Pferde eigentlich an einer Schlafstörung litten", erzählt sie. Narkolepsie ist eine Störung im Gehirn (siehe Absatz "Schlafmangel oder Narkolepsie?") und wird häufig Pferden zugeschrieben, die unvermittelt zusammenbrechen – dabei stimmt das gar nicht.
Viele "Narkoleptiker" sind einfach nur übermüdet
Dr. Fuchs rief gemeinsam mit Kollegin Dr. Anna-Carolina Wöhr und einer weiteren Doktorandin 2014 Besitzer von angeblichen Narkoleptikern auf, sich für ihre Studie zu melden. Sie hofften auf zehn Pferde; tatsächlich meldeten sich 177 Pferdebesitzer. 39 der Tiere und deren Schlaf untersuchten die Veterinärinnen. Das Ergebnis: Alle Pferde litten an einer Schlafstörung, genauer: an einer Störung des REM-Schlafs (rapid eye movement, Traumschlaf).
Im REM-Schlaf – neben Leicht- und Tiefschlaf eine der drei Schlafphasen – lässt der Muskeltonus nach. Daher müssen Pferde für diese Phase liegen. Legen sie sich jedoch nicht mehr hin, kann das fatale Folgen haben: Die Tiere gelangen dann vom Leicht- oder Tiefschlaf, manchmal sogar aus dem wachen Zustand in die REM-Phase. Und weil die Muskelspannung dabei nachlässt, taumeln oder stürzen die Tiere.
24 Stunden wird der Pferdeschlaf überwacht
Auch Feivel könnte diese Schlafstörung haben: Der Wallach war in der Stallgasse urplötzlich gestürzt. Was der Auslöser dafür war, ob Übermüdung oder ein Schreckmoment, der Feivel ausrutschen ließ, hat jedoch niemand beobachtet. Daher wird nun sein Schlafverhalten in den nächsten 24 Stunden genau überwacht. Doch wirkt sich der Klinikaufenthalt nicht auf den Schlaf aus?

"Wer’s hat, der hat’s", fasst es Dr. Fuchs knapp zusammen: Pferde mit gestörtem Schlaf zeigen das in der Klinik. "Und Pferde ohne Schlafprobleme schlafen überraschenderweise auch in der Klinik ziemlich gut", so die Erfahrung der Tierärztin. Selbst wenn sich die Pferde vor Aufregung nicht hinlegen, ist das für zwei, drei Nächte kein Problem: "Das führt noch nicht zu den REM-Schlafepisoden im Stehen."

Die sind übrigens durch ein ziemlich typisches Verhalten gekennzeichnet: Die Pferde dösen, der Kopf sinkt tiefer, bis sie taumeln, mit den Beinen einknicken oder ganz kollabieren. Nicht immer steckt hinter den Symptomen eine Schlafstörung: "Auch Herzprobleme, Epilepsie und andere neurologische Erkrankungen können die Ursache sein", so Dr. Fuchs. Denen kann sie mithilfe des Schlaflabors auf die Spur kommen.

Mal sehen, was Feivels Analyse verrät. Christine Fuchs bereitet den Wallach gerade für die nächtliche Beobachtung vor und schert dafür an einigen Stellen das Fell. Sitzen die Elektroden direkt auf der Haut, empfangen sie bessere Signale.
Sekundenkleber sorgt für die nötige Haftung
Gekappt wird das Fell an zwölf Stellen: sechsmal auf der Stirn – hier sitzen die Elektroden für die Gehirnströme. Dazu muss das Fell an je zwei Stellen seitlich am Pferdekopf weichen: Hier messen die Elektroden Augenbewegungen und Muskeltonus. Die letzten zwei Stellen sind links und rechts des Widerrists: "Die sind für die Aufzeichnung des EKG, also des Herzschlags", erklärt die Tierärztin. Sie hat Feivel fertig geschoren; nun kommen die Elektroden.
Sie werden mit Elektronencreme ("das verbessert die Leitfähigkeit") bestrichen – und mit Sekundenkleber: "Keine Sorge, die lassen sich später leicht entfernen", sagt Dr. Fuchs schmunzelnd, während sie die Elektroden aufklebt. Die werden durch Pflaster davor geschützt, dass Feivel sie nachts abschubbert.

Die Kabel leitet Dr. Fuchs am Mähnenkamm entlang zu einem Kästchen (Head Box), das alle Signale bündelt. Ein einziges Kabel geht von dort weiter ans eigentliche Schlaflabor: den Polysomnographen (poly = viel, somno = Schlaf, graph = aufzeichnen). Dieses etwa handgroße Gerät zeichnet Hirnströme, Augenbewegungen, Muskeltonus und Herzschlag auf. Angebracht ist das Schlaflabor an einem flexiblen Gurt um Feivels Hals.

Damit Geräte und Kabel nachts geschützt sind, sollte sich Feivel hinlegen oder wälzen, zieht Dr. Fuchs dem Wallach einen dehnbaren, dünnen Schutzanzug über Kopf und Hals. Fertig! Die Tierärztin richtet noch die Nachtsicht-Kamera aus, die von einer Ecke aus Feivels Box überwacht.
Die Hirnströme ändern sich je nach Schlafphase
Die Bilder der Kamera werden wie die Daten des Schlaflabors an den Laptop der Tierärztin gesendet, der in einem Nachbarraum steht. Im oberen linken Eck des Bildschirms ist das Live-Bild von Feivel zu sehen. Dann folgen mehrere Linien: "Das obere sind die Augenbewegungen", erklärt Dr. Fuchs. "Beim REM-Schlaf bewegen die sich schnell hin und her, wie bei uns Menschen auch."

Darunter folgen die Linien der Hirnströme. Je nach Schlafstadium sehen diese Wellen unterschiedlich aus – mal hoch und breit, mal flach und eng –, ebenso wie die darunter folgende Linie des Muskeltonus. Ganz zuletzt wird routinemäßig der Herzschlag erfasst.

Ob alles korrekt aufgezeichnet wird, kontrolliert Dr. Fuchs einmal pro Nacht. "Die Messung in der Klinik starte ich meist gegen 18 Uhr. Zwischen 23 Uhr und Mitternacht checke ich nochmal, ob alle Daten übertragen werden."
Für die Auswertung des Schlafprotokolls braucht die Tierärztin im Anschluss zwischen fünf und sechs Stunden. Nur selten bleibt die Messung vergebens: Wenn das Pferd so unruhig ist, dass es die ganze Nacht nicht oder kaum schläft. In den allermeisten Fällen lässt sich anhand der Daten jedoch eindeutig ablesen, ob das Pferd eine Schlafstörung hat – und auch, wie deutlich das Schlafverhalten verändert ist. "Manchmal ist das Pferd erst in einer Übergangsphase, sodass es den Schlafmangel im Liegen noch ausgleichen kann. Man erkennt richtige Unterschiede zwischen den einzelnen Pferden."
Gründe für Schlafmangel gibt es viele
Doch was sind die Gründe dafür, wenn Pferde sich nicht mehr hinlegen? "Das kann alles Mögliche sein, und oft ist es nicht ein Faktor allein", seufzt die Tierärztin. "Das macht die Suche nach den Gründen oft sehr frustrierend und aufwändig." Ursache können Erkrankungen wie Arthrose sein, zu wenig oder die falsche Einstreu. In Offenställen führen zu kleine oder zu wenige Liegeflächen oder Stress in der Herde dazu, dass sich Pferde nicht mehr hinlegen. Stress kann auch bei Boxenpferden ein Faktor sein, ebenso wie zu kleine Boxen. Dass eine Haltungsform vermehrt zu Schlafproblemen führt, konnte die Tierärztin bislang nicht beobachten: "Meine Patienten kamen aus unterschiedlichsten Haltungssystemen, aus Boxen- wie Offenställen."
Manchmal sind auch ganz andere Erfahrungen die Ursache. Dr. Fuchs weiß von Pferdebesitzern, die ihre Tiere nachts überwachten – und so herausfanden, dass ein Unbekannter versuchte, sie zu misshandeln. Einen der ungewöhnlichsten Fälle hörte Dr. Fuchs von einem Kollegen aus Australien: "Da legte sich das Pferd nicht mehr hin, nachdem es von einem Berglöwen angegriffen wurde." Die Besitzer brachten dem Tier daraufhin bei, sich an der Hand hinzulegen. Es schlief schon beim ersten Mal ein und legte sich von da an wieder hin.
So eine Lösung findet sich jedoch nicht immer. "Bis man das Verhalten oder erste, typische Verletzungen an Fesseloder Karpalgelenk bemerkt, vergehen meist Wochen oder Monate." Die Schlafstörung hat sich dann oft so verfestigt, dass sie sich nicht gänzlich auflösen lässt. "Daher lieber einmal zu viel als einmal zu wenig checken, ob das Pferd gut schläft", rät Dr. Fuchs. Das tut übrigens auch Feivel: Sein Schlafprotokoll war gänzlich unauffällig. Vielleicht war er doch "nur" ausgerutscht.
Schlafmangel oder Narkolepsie?
Narkolepsie ist eine angeborene, funktionelle Störung im Hypothalamus, der zwischen Großhirn und Hirnstamm liegt. Dadurch funktioniert die Schlafsteuerung nicht. Narkolepsie tritt wahrscheinlich im Fohlenalter auf; erkrankte erwachsene Pferde sind nicht bekannt. Die Störung kann zum Verlust des Muskeltonus führen (Kataplexie): Die Pferde brechen zusammen. Oft sind die Anfälle mit positiven Emotionen verbunden: Ein drei Monate altes Isländerfohlen taumelte und schwankte etwa jedes Mal, wenn man es aus dem Stall führte.
REM-Schlafmangel äußert sich im Gegensatz dazu dann, wenn die Pferde ruhen oder dösen. Lässt ihre Muskel-spannung nach, können sie straucheln und stürzen. Das ist oft nachts der Fall. Die betroffenen Pferde sind zudem ausgewachsene Tiere.
Schlaflabor auf einen Blick
Kontakt zur Klinik: Tierklinik Lüsche, Essener Straße 39a, 49456 Bakum. Tel. 0 54 38 / 9 58 50, E-Mail kontakt@tierklinik-luesche.de, www.tierklinik-luesche.de
Kosten fürs Schlaflabor: ca. 981 Euro, zzgl. Kosten für Klinikaufenthalt.
Dauer: Messung dauert 24 Stunden, Pferd sollte mindestens einen Tag zuvor anreisen.
Mobile Messungen: nach Absprache möglich.
Telefonische Beratung:
ca. 46 Euro Grundgebühr, dazu kommen ca. 20 Euro für jede angefangene Viertelstunde Gesprächszeit.
Kommentar
Schlafprobleme bei Pferden haben massive Auswirkungen. Ich habe das – leider – selbst erfahren: Mein Wallach legte sich in einem früheren Stall nicht mehr hin. Als ich gerade rätselte, woher seine Verletzungen kamen, las ich glücklicherweise die Studie von Dr. Fuchs – und kam so der Schlafstörung auf die Spur.
In den nächsten Wochen, bis mein Pferd in einen anderen Stall umziehen konnte, hatte ich regelmäßig den Tierarzt zu Gast. Seit dem Umzug besserte sich das Verhalten, ließ sich aber nicht mehr völlig aufheben. Je früher man daher als Pferdebesitzer handelt, umso besser!

Barbara Böke, CAVALLO-Redakteurin.
Die Expertin

Dr. Christine Fuchs ist Fachtierärztin für Pferde, Chiropraktikerin und FEI-Tierärztin. Sie ist auf Orthopädie, Akupunktur, Tierverhalten und Tierschutz spezialisiert. Daneben betreut sie in der Tierklinik Lüsche das Schlaflabor, analysiert dessen Daten und berät Pferdebesitzer dazu. www.tierklinik-luesche.de