Handicaps: So gut kommen Pferde trotz Schwächen zurecht
Pferde kommen mit Handicaps zurecht

Blind, taub oder dreibeinig: Pferde kommen oft erstaunlich gut mit ihren Handicaps klar. Vor allem, wenn Reiter oder Besitzer das Manko gut handeln können, gehen solche Pferde sogar erfolgreich im Sport.

CAV Beziehung Schimmel Pflege
Foto: Rädlein

Vinti rupft wieder Gras. „Da wusste ich, mein Pferd beisst sich durch“, sagt Ulla Rittersbacher. Dem neunjährigen Spanier-Wallach fehlt ein gutes Stück seiner Zunge; das riss ihm ein anderes Pferd beim Naschen im Futtertrog ab. Manche Pferde wie Vinti kommen mit ihren Handicaps erstaunlich gut klar. Sie hören nichts, sind einäugig oder haben sogar nur drei Beine. Medizinisch lässt sich heute manches Manko beheben: Tierärzte rücken verdrehte Kiefer zurecht, passen Prothesen an und setzen künstliche Linsen ins Auge. Griffelbeine, Därme und Nieren entfernen sie ersatzlos. Doch ohne ihre Besitzer hätten die meisten Handicap-Pferde trotzdem keine Chance.

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Mit der Küchenmaschine pürierte Ulla Rittersbacher Äpfel für ihren Vinti, flöste ihm den zähflüssigen Obstbrei ein, bis er wieder feste Nahrung verspeiste. „Als Vinti zu uns kam, konnte er nicht fressen, von seiner Zunge war nur der Stumpf übrig“, sagt Dr. Wigo Horstmann, Pferdefachtierarzt von der Tierärztlichen Klinik in Ludwigshafen, der den Schimmel betreute.

Auch Wallach Leven, der auf einem Auge blind ist, der stocktaube Paint-Hengst Guntini und Hannoveraner Ronaldo, dem ein Hüfthöcker fehlt, sind Beispiele dafür, dass man Handicap-Pferde nicht aufgeben muss – und sie sogar reiten kann. CAVALLO zeigt, wie behinderte Pferde im Alltag klar kommen und was Tierärzte und Besitzer sagen.

Krankheiten, Unfälle oder angeborene Defekte kosten Pferde das Augenlicht, das Gehör oder die Zunge. Verdrehte Kiefer sehen nicht nur seltsam aus, sondern wären in der Natur für Fohlen tödlich: Sie können zwar am Euter nuckeln, aber nicht grasen. Welche Chancen haben diese Tiere?

Defektes Knorpelgewebe ist schuld am zerknautschten Ohr

Das Pferd: Der PRE-Wallach hat ein Knautsch-Ohr. Die zerknüllte Ohrmuschel ist aber nur ein Schönheitsfehler. Das deformierte Ohr bereitet dem Schimmel keine Schmerzen. Auch Pferde mit gespaltener oder fehlender Ohrspitze sehen lediglich seltsam aus, leiden aber nicht unter dem optischen Makel.

Experten-Urteil: „Der Knautscheffekt betrifft nur die Ohrmuschel des Pferds – und nicht den Gehörgang oder den Hörnerv an sich. Die natürlichen Fluchtreflexe werden dadurch nicht beeinträchtigt“, erklärt Pferdefachtierarzt Dr. Jacek Gawda vom Tiergesundheitszentrum für Kleintiere und Pferde Aggertal im nordrhein-westfälischen Lohmar. Schuld ist eine krankhafte Veränderung des Knorpelgewebes im Ohr. Der Auslöser scheint banal: „Dies kann durch eine Abwehrreaktion verursacht werden, wie sie aufgrund von Insektenstichen vorkommt“, sagt Gawda. Das Knorpelgewebe verkrüppelt und kann nicht mehr dafür sorgen, dass sich die Ohrmuschel aufrichtet.

Der Alltag: „Die Besitzer des Schimmels hat diese Missbildung nie gestört. Im Umgang und beim Reiten war der Wallach trotz des Knautsch-Ohrs nie besonders sensibel oder schwierig“, weiß Fotografin Christiane Slawik, die den Spanier ablichtete.

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Slawik

Scheckfärbung macht Hengst taub

Das Pferd: Der siebenjährige Paint-Horse-Hengst The Great Guntini sammelte Erfolge im Westernsport und ist ein gefragter Deckhengst. Wie sein amerikanischer Vater Gunner, einer der erfolgreichsten Reining-Vererber der Welt, ist auch Guntini taub.

Experten-Urteil: Verantwortlich dafür ist ein Gendefekt, der mit der Scheck-Färbung zusammenhängt und vererbt werden kann. Wissenschaftler der amerikanischen Universität Davis in Kalifornien untersuchten die Taubheit der Paints näher. Sie stellten einige optische Risikofaktoren fest: Taub sind vor allem Pferde mit viel Weiß an Kopf und Beinen, speziellen Scheckzeichnungen sowie blauen Augen. In seiner Leistung war keines der tauben Tiere beeinträchtigt: Sie wurden soagr erfolgreich bei Turnieren vorgestellt.

Der Alltag: „Ich habe Guntini ganz normal wie jedes andere Pferd geritten“, sagt Westernprofi Grischa Ludwig, der Guntini trainierte und auf Shows präsentierte. „Der Hengst hört nichts. Dafür war er immer total cool. Da sich Pferde ohnehin an der Körpersprache des Menschen orientieren und nicht das gesprochene Wort verstehen, gab es zwischen uns nie Probleme.“

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Guni
Der Paint-Horse-Hengst The Great Guntini ist taub. Das liegt an seiner Scheck-Färbung.

Wry Nose Defekt - Nase total verdreht

Das Pferd: Fohlen mit dem seltenen „Wry Nose“-Defekt (Foto unten links) kommen mit krummer Nase zur Welt. Bei solchen Schiefgesichtern ist der Oberkiefer zwischen Schneide- und Backenzähnen um bis zu 90 Grad verbogen. Die Fohlen können zwar am Euter nuckeln, aber nicht grasen.

Experten-Urteil: „Die Krankheitsursache ist unklar, es gibt auch keine Hinweise auf eine Erblichkeit“, sagt Pferdefachtierarzt Dr. Marc Koene, Leiter der Tierärztlichen Klinik für Pferde in Lüsche. „Oberkiefer und Nase dieser Fohlen sind total verdreht, normales Fressen ist unmöglich.“ Nur eine Operation kann sie retten. Dabei wird der Kiefer gebrochen, neu positioniert und mit Platten verschraubt. Am Ende wird die deformierte Nasenscheidewand korrigiert.

Der Alltag: Fohlen, die den komplizierten Eingriff überstehen, haben gute Chancen auf ein normales Pferdeleben.

Wallach Vinti wurde die Zunge abgebissen

Das Pferd: Als PRE-Wallach Vinti seinen Kopf in die Futterluke der Nachbarbox steckte, biss sich ein Hengst an seiner Zunge fest und riss sie ab. Lange konnte Vinti nur eingeweichte Rübenschnitzel fressen.

Experten-Urteil: „Pferde, denen ein Teil der Zunge fehlt, kommen nach einer Gewöhnungsphase damit klar“, sagt Dr. Kai Kreling von der Tierklinik Binger Wald. „Ganz ohne Zunge kann ein Pferd nicht leben, weil es nur so das Futter in den Schlund befördern kann. Zehn Zentimeter können amputiert werden, mit dem Rest lernen die Pferde zu fressen und zu saufen. Wenn sie das geschafft haben, sind sie über den Berg.“

Der Alltag: „Nach gut einem Jahr kann ich Vinti jetzt wieder Bananen und mit Vorsicht sogar Leckerli füttern“, sagt Besitzerin Ulla Rittersbacher. „Auch Müsli frisst er inzwischen problemlos.“ Geritten wird der Wallach mit LG-Zaum, auf den er gut reagiert. Seine Besitzerin lernte in einem Dressurkurs bei Carlos Lopes das gebisslose Reiten.

Mut zum medizinischen Eingriff

Kehlkopf: „Jede Verengung im Kehlkopf vermindert die Luftzufuhr“, sagt
Dr. Aleksandar Vidovic, Fachtierarzt an der Tierärztlichen Klinik Altforweiler. Deshalb wird bei Kehlkopfpfeiffern der defekte Stellknorpel, der die Luftzufuhr regulieren soll, fixiert. „Bei dieser OP wird der gelähmte Muskel entfernt und durch ein Implantat ersetzt“, erklärt Vidovic. Dabei wird auch die Stimmtasche entfernt. Der typische Pfeiffton verschwindet, aber auch das Wiehern ist gedämpft. Vorteil der OP: Das Pferd bekommt wieder ausreichend Luft.

Zähne: „Mut zur Lücke“, rät Zahnspezialist Dr. Timo Zwick von der Tierärztlichen Klinik Gessertshausen Besitzern, deren Pferde etwa durch einen Unfall einen Zahn einbüßten. „Bei regelmäßiger Kürzung und Pflege kommen auch Pferde gut klar, die mehrere Zähne verloren haben. Hauptsache, der jeweilige Gegenspieler steht noch.“ Brücken und Zahn-Implantate werden bei Pferden nicht gesetzt. „Ein Backenzahn-Implantat im Pferdemaul müsste einem Kaudruck von rund 100 Kilo standhalten. Das ist kaum machbar.“

Augen: Kontaktlinsen gibt es auch für Pferde. Sie werden aufgelegt oder ins Auge eingepflanzt. „Linsen im Augen-innern setzen wir ein, wenn die natür-liche Linse getrübt, zerstört oder entfernt wurde“, erklärt Professor Dr. Dr. József Tóth von der Tierklinik Hochmoor. Das kann im Fall des Grauen Stars hilfreich sein, der die Linse bis zur Blindheit trübt. Eine andere Methode wurde am Veterinary Medical Center der University of Florida/USA erprobt. Dort wurden von 1993 bis 2007 ganze 206 Hornhaut-Transplantationen bei Pferden durchgeführt. Bei dieser Technik wird auf Hornhaut-Spenden zurückgegriffen, die tiefgekühlt auf ihren Einsatz warten. „Wir haben damit gute Ergebnisse erzielt und viele Augen gerettet, die andernfalls verloren gewesen wären“, erklärt Professor Dennis Brooks.

Prothesen - Pferde flott trotz Bruch

"Der Hüfthöcker ist ab"
Das Pferd: Hannoveraner-Wallach Ronaldo legte sich als Jährling in seiner Box fest; dabei brach ein Knochenstück seines linken Hüfthöckers ab. Die Folge dieser Absprengungsfraktur ist ein Beckenschiefstand nach rechts-oben und eine leichte Taktunreinheit. Auf Höhe der Flanke hat er eine Beule, dort zeichnet sich der abgesprengte Teil des Hüfthöckers ab. Ausbilderin Babette Teschen aus Lüneburg kaufte den fünfjährigen Fuchs.

Experten-Urteil: „Wenn das Hüftgelenk von der Fraktur nicht betroffen ist, ist die Prognose für eine Heilung sehr gut“, sagt Tierarzt Dr. Sibel Özgen von der Pferdeklinik Kirchheim in Baden-Württemberg. „Man kann den abgesprengten Hüfthöcker komplett entfernen, das Pferd braucht ihn nicht.“

Der Alltag: „Als er zu mir kam, hatte er massive Balanceprobleme“, sagt Babette Teschen. „Um ihn schonend zu konditionieren, habe ich an der Longe und am Boden mit ihm gearbeitet. Mit dem rechten Hinterbein nimmt er immer noch weniger Last auf, aber als Freizeitpferd beinträchtig ihn das kaum.“ Babette Teschen freut sich über Ronaldos Fortschritte. „Man darf nicht gleich aufgeben. Vieles ist machbar, um solchen Pferden gezielt zu helfen.“

„Prothese als Gehhilfe“
Das Pferd: Wegen eines Bruchs wurde der Stute Josie 1992 das linke Hinterbein unterhalb des Sprunggelenks abgenommen. Sie war das erste Pferd, bei dem der US-Prothesenspezialist Dr. Ric Redden eine Hinterhandprothese anpasste.

Experten-Urteil: „Für Pferde, die aufgrund eines Beinbruchs massiv Blut verlieren, kann die Amputation die letzte Chance sein“, erklärt Dr. Ric Redden, Leiter des Equine Podiatry Centers in Versailles/Kentucky, der schon einige Pferde in den Staaten operierte. Nicht das Bein abzunehmen, ist das Problem, sondern das künstliche Bein. „Pferde kommen mit einer Hinterhandprothese leichter zurecht, sie dient nur der Balance. Dagegen lastet auf einer Vorderbeinprothese ständig Gewicht“, so Redden.

Der Alltag: „Josie ist 20 Jahre alt und verbringt den Tag auf der Weide. Wenn sie
keine Lust hat, lässt sie sich nicht einfangen und galoppiert immer wieder davon“, sagt Tierarzt Redden. „Den Galopp meistert sie auf drei Beinen, dabei nutzt sie ihre Prothese nur, um sich auszubalancieren.“

„Griffelbein gebrochen“
Das Pferd: Durch einen Huftritt auf der Koppel zog sich Warmblutstute Glücksklee einen doppelten Griffelbeinbruch am rechten Hinterbein zu. Der Knochen musste entfernt werden. Nach einer Reha-Phase von sechs Monaten wird die Stute jetzt wieder unter dem Sattel leicht gearbeitet.

Experten-Urteil: „Pferde benötigen nur ein Drittel des Griffelbeins, um die zugehörigen Gelenke zu stabilisieren“, sagt Dr. Inka Kreling von der Tierärztlichen Klinik Binger Wald. „Das äußere Griffelbein des Hinterbeins kann bei einer Trümmerfraktur sogar komplett entfernt werden. Dadurch wird das Sprunggelenk bei der Lastaufnahme aber mehr gefordert.“

Der Alltag: „Wir haben Glücksklee mit viel Geduld antrainiert und achten darauf, dass wir rechtsrum keine engen Wendungen reiten“, sagt Besitzerin Anke Engelbert. „Sie galoppiert wieder zufrieden über die Koppel. Nur Cavaletti-Sprünge sind gestrichen.“

Pferde können auf manche Organe verzichten

Dünndarm: Der Dünndarm eines Pferd kann, abhängig von der Größe des Tiers, bis zu 25 Meter lang sein. „Bei einer Kolik-Operation können im Notfall abgestorbene Teile des Dünndarms entfernt werden. Sogar bis zu einem Drittel des gesamten Darms können entnommen werden“, erklärt Dr. Inka Kreling von der Tierklinik Binger Wald in Waldalgesheim. „Auch die Blinddarmspitze kann entfernt werden, ohne dass sie dem Pferd fehlen würde.“

Penis: Bösartige Tumore der Penisschleimhaut können der Grund für eine Kürzung des Glieds sein. „Dabei werden Teile des Penis entfernt, ein neuer Harnweg und eine künstliche Öffnung zum Urinieren angelegt. Das Pferd kann trotzdem ausschachten und mit diesem Handicap leben“, erklärt Professor Jörg Aurich von der Veterinärmedizinischen Universität in Wien.

Niere: „Wie wir Menschen können auch Pferde lediglich mit einer Niere leben. Deshalb kann das Organ entnommen werden, wenn ein Pferd beispielsweise an einem bösartigen Tumor leidet“, sagt Dr. Henning Schlumbohm von der Pferdepraxis in Waldenbuch bei Stuttgart. „Diese Operation verläuft meist unproblematisch. Nach acht bis zehn Wochen Stehzeit und einer Schrittphase kann das Pferd bereits wieder vorsichtig gearbeitet werden.“

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Erscheinungsdatum 17.05.2023