Es gibt Wochen, da klingelt bei Anika Hederer in jeder Nacht das Telefon. Sie steht dann auf, nimmt ihre Tasche und fährt mit dem Auto in die Dunkelheit hinaus. Anika Hederer ist Landtierärztin. Sie wohnt im bayerischen Wiesau, behandelt seit mehr als zehn Jahren Pferde und bietet – im Gegensatz zu vielen Kollegen – einen 24-Stunden-Notdienst an.
Kein Wochenende ohne Notfall
Für ihren Einfrau-Betrieb ist das eine Belastung. Denn ein Wochenende ohne Notfall gibt es quasi nie. "Manchmal habe ich das Gefühl, ich bin die Einzige, der tierärztliche Vollversorgung noch wichtig ist", sagt die 41-Jährige. Wie Anika Hederer geht es derzeit vielen Tierärzten: Sie bekommen zu spüren, dass ihre Kollegen keinen Notdienst mehr anbieten. Das liegt einerseits am Tierarztmangel auf dem Land, andererseits an der Einstellung vieler junger Nachwuchstierärzte zur Wochenendarbeit. Und nicht zuletzt am Arbeitszeitgesetz.

Das schreibt für Angestellte Arbeitszeiten von acht bis maximal zehn Stunden mit elf Stunden Ruhezeit zwischen den Schichten vor. Bei Verstößen drohen Bußgelder. Tierärzte können kaum noch Notdienste leisten – auch wegen der Gewerbeaufsicht. Seit die Gewerbeaufsichtsämter strenger kontrollieren, ob Tierarztpraxen das Arbeitszeitgesetz einhalten, ist deren Notdienst kaum noch finanzierbar.
Personalfresser Notdienst: Sechs Tierärzte für ein Wochenende
Dr. Maren Hellige, Vizepräsidentin der Gesellschaft für Pferdemedizin, schildert die Situation so: "Bislang boten Tierärztinnen und Tierärzte Nacht- und Wochenenddienste mit großem ideellen Einsatz an. Mit zunehmender Überwachung können sie Notdienste unter Beachtung des Arbeitszeitgesetzes wirtschaftlich wie personell kaum noch leisten." Das führe dazu, dass immer mehr Kliniken ihre Zulassung zurückgeben. "Sie nennen sich in ‚Tiergesundheitszentrum‘ oder ‚tierärztliche Praxis‘ um, um einen Notfalldienst nicht mehr anbieten zu müssen."

Und auch nicht so viel Geld: Um einen 24/7-Dienst anbieten zu können, müsse eine Klinik pro Monat etwa 60 000 Euro zusätzlich erwirtschaften, so Dr. Faulstich. Nicht nur die Überwachung, auch die Einstellung des Personals hätte sich geändert, berichtet Faulstich. "In meiner Anfangszeit habe ich sieben Tage die Woche von acht Uhr morgens bis ein Uhr nachts gearbeitet. Das war vielleicht bekloppt. Aber es war normal."
Kein Job, sondern Berufung
Heute, so der 61-jährige Klinikchef, erkundigten sich Anwärter im Bewerbungsgespräch "nicht zuerst nach dem Gehalt, sondern nach der Anzahl der Urlaubstage und Wochenenddienste. Und ob sie Notdienst machen müssen." Die Work-Life-Balance sei wichtiger geworden, "die jungen Leute haben keine Lust auf Notdienst", schildert Faulstich seinen Eindruck. "Vielleicht zu Recht. Es ist eben nicht attraktiv, mitten in der Nacht da draußen irgendwo rumzukrauchen."
Was andere unattraktiv finden, gehört für Anika Hederer zum Beruf. "Die Rosinenpicker, die sich weigern, nachts eine Kolik zu behandeln, weil sie nur impfen und Wurmkuren verkaufen wollen, entsprechen nicht meinem Berufsverständnis", so die Landtierärztin. "Wenn die jungen Leute mir was von Work-Life- Balance erzählen, denke ich: Das ist eine Berufung, kein Job!" Sogar nachts Leben zu retten, ist für Hederer selbstverständlich – und erfüllend. "Ich freue mich, wenn ein Notfall gut ausgeht."
Frauenanteil könnte zum Problem werden
Manche erklären das Notdienstproblem damit, dass der Tierarztberuf so weiblich ist. "Zu Großvaters Zeiten waren Tierärzte meist Männer", sagt Carolin Mantel, Betriebswirtin von der Bayerischen Landestierärztekammer. "Jetzt sind die meisten Frauen. Mutterrolle und Kinderbetreuung lassen sich schwer mit Notdienst vereinen. Das ist der Hauptgrund für die große Not." Der Frauenanteil unter den Tierärzten ist hoch – und ein mögliches Problem.
42 147 Tierärzte gibt es laut Bundestierärztekammer in Deutschland, rund 25 880 davon (also etwa 61 Prozent) sind Frauen. Blickt man in die Hörsäle der Universitäten, ist der Frauenanteil noch höher: Im Wintersemester 2018/2019 waren 6 367 Tiermedizin-Studenten eingeschrieben. Davon waren nur 927 männlich – das ergibt einen Frauenanteil von 85 %. Lassen sich jene künftigen Tierärztinnen lieber in Teilzeit anstellen, könnte dies das Notdienstproblem tatsächlich weiter verschärfen.

Anteil der Tierärzte auf dem Land sinkt
Sollen sich Pferdehalter darauf verlassen können, dass ein Tierarzt kommt, wenn sich ihr Pferd beim Sonntagsritt verletzt, muss sich etwas ändern. "Es wird eng", sagt etwa Astrid Behr vom Bundesverband Praktizierender Tierärzte. "Der Landtierärzteanteil sinkt, der Notdienst geht den Bach runter." Man könne natürlich nicht die Uni-Absolventen zwingen, aufs Land zu ziehen. "Doch wir sind mit der Politik im Gespräch, um mehr Anreize für die Niederlassung in ländlichen Gegenden zu schaffen."
Auch beim Arbeitszeitgesetz müsse etwas passieren, so Behr, "aber nicht auf dem Rücken der Mitarbeiter". Eine zusätzliche Notdienstgebühr, die Tierhalter möglicherweise ab 2020 bezahlen müssen, könnte laut Behr "eine kleine Hilfe" sein: wenn Pferdehalter seltener gedankenlos den Notdienst rufen und die Tierärzte fairer entlohnt werden könnten. "Sie wird das Problem aber nicht komplett lösen." Laut Dr. Maren Hellige von der Gesellschaft für Pferdemedizin ist sie durchaus "ein Schritt, um den Notfalldienst zu sichern".
Preise für Notdienste müssen steigen
Derzeit liege ein Gesetzesentwurf über die Erhöhung der Gebührenordnung (GOT) außerhalb der regulären Praxiszeiten vor. "Die Gesellschaft für Pferdemedizin unterstützt diesen", so Hellige. In Oberfranken müssen die Tierärzte verpflichtend Notdienste übernehmen. Für Dr. Andreas Faulstich sind höhere Preise nicht die beste Lösung, aber die einzige.
In seiner Klinik stieg die Arbeitsbelastung stark an. "Da wir weiterhin einen qualitativ hochwertigen Notdienst aufrecht erhalten wollen", steht auf der Website, "müssen wir die Preise in der Notdienstzeit sowie an Wochenenden und Feiertagen auf den zweifachen Satz erhöhen." Er glaubt, dass die nächste GOT den drei- bis vierfachen Satz erlauben wird. "Sobald das der Fall ist, werden wir unsere Preise erneut anpassen. Nur dann kann ich meine Tierärzte angemessen bezahlen."
Notdienst-Pflicht in Oberfranken
Der Tierärztliche Bezirksverband Oberfranken hat eine Lösung gefunden: Seit Sommer 2018 müssen seine Tierärzte verpflichtend Notdienst-Schichten schieben. Anika Hederer findet die Idee gut: "Wenn alle Notdienst machen, würde das die Situation verbessern. Aber ich habe schon gehört, dass Kollegen dann mit Attesten ankommen, die sie vom Notdienst befreien."
Dr. Maren Hellige sieht in Notdienstgemeinschaften einen Weg aus dem Dilemma: "Die Versorgung außerhalb der normalen Arbeitszeiten könnte so kollegial geregelt werden. Allerdings muss ein Pferdebesitzer dann damit rechnen, nachts und am Wochenende nicht ‚seinen‘ Tierarzt anzutreffen." Etwas unpersönlicher dürften auch Klinikverbünde sein.
Große Ketten beispielsweise aus Skandinavien kaufen in Deutschland immer mehr Praxen auf, etwa wenn ein Tierarzt keinen Nachfolger findet. Ob die Unternehmen Fluch oder Segen bedeuten? Das lässt sich noch nicht beantworten. In Sachen Notdienst-Problem sind sie möglicherweise eine Chance. In der Humanmedizin gibt es ähnliche Vorstöße. Die Kommune Büsum gründete etwa ein Ärztezentrum gegen den Landarztmangel.
Ein Vorteil sind geregeltere Arbeitszeiten für die Ärzte. Bayern hat kürzlich eine Landarztquote beschlossen: Ein Teil der Studienplätze wird für Studierende reserviert, die anschließend im ländlichen Raum arbeiten wollen. Noch sei der Notdienst bundesweit größtenteils gewährleistet, sagt Dr. Uwe Tiedemann, Präsident der Bundestierärztekammer. "Allerdings kann es in ländlichen Gebieten zu weiten Fahrten und längeren Wartezeiten kommen."
Immer weitere Fahrten zu einem Notfall legen auch Anika Hederer und die Ärzte der Klinik Seeburg zurück. "Aber wir können nicht überall hinfahren", sagt Dr. Andreas Faulstich. "Wenn jemand von sehr weit weg anruft, bieten wir den Besitzern an, das Pferd zu uns zu bringen." Wenn das denn noch möglich ist.
Praxis oder Klinik
Um sich "Klinik" nennen zu dürfen, muss eine Tierarztpraxis bestimmte Voraussetzungen erfüllen. Laut Klinikrichtlinie der Bundestierärztekammer betrifft das:
- die Organisation (Führung durch Tierärzte)
- die Versorgung (rund um die Uhr, ständige Dienstbereitschaft)
- das Personal (mindestens drei Tierärzte in Vollzeit, vier Vollzeit-Hilfskräfte)
- die Räume (einwandfreier hygienischer Zustand, Belüftung, Beleuchtung, Wasserleitungen etc.)
- die Ausstattung (muss eine dem Stand der veterinärmedizinischen Wissenschaft entsprechende Versorgung gewährleisten)
Eine Pferdeklinik muss zusätzlich besondere räumliche Anforderungen erfüllen. Unter anderem benötigt sie:
- einen Untersuchungsstand einen OP- und OP-Vorbereitungsraum mit Hebevorrichtung und OP-Tisch
- eine Aufwach- oder Narkosebox
- eine Intensivbox mit Möglichkeit der Sauerstoffgabe
- eine überdachte Longierbahn und Vortrabestrecke
- mindestens acht Pferdeboxen
- Paddocks
- eine Isolierbox
- Lagerräume für Futter, Einstreu und Kadaver
Die Zulassung zur "tierärztlichen Klinik" muss der Betreiber bei der Landestierärztekammer schriftlich beantragen; danach gilt sie für zunächst vier Jahre. Der Klinikbetreiber sollte eine Zulassung als Weiterbildungsstätte anstreben, um etwa Nachwuchskräfte zu fördern, und sich und seine Mitarbeiter regelmäßig fortbilden. Abweichungen von den Anforderungen hat er der zuständigen Tierärztekammer zu melden – auf die Gefahr hin, dass er dann den Klinikstatus verliert.