Ein paar Runden im Galopp, schon schnaubt Holsteiner-Wallach Leven wie ein Vollblüter nach dem Rennen. „Bereits bei geringer Belastung gerät er außer Pus-te, atmet kurz und schwer“, erzählt Regina Johannsen, FN-Trainerin B, die sich auf der Reitanlage van Gunst nahe Hamburg auf die Arbeit mit Handicap-Pferden spezialisierte.
Das Handicap des zehnjährigen Wallachs ist Atemnot. „Ich glaubte zunächst an einen Herzfehler oder ein Lungenproblem, weil er schon bei geringer Stellung und Anlehnung ans Gebiss hustete“, sagt Johannsen.
Die Lungenspiegelung (Bronchoskopie) zeigte eine glasklare Lunge – und enthüllte beim Rückzug des Endoskops, was dem Wallach tatsächlich den Atem raubt: „Er hat einen linksseitig gelähmten Kehlkopf, was als Kehlkopfpfeifen bezeichnet wird, und ein abgesenktes Rachendach“, sagt Tierarzt Dr. Clemens Hayessen aus Salzhausen/Niedersachsen, der Leven spiegelte.
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Wenn Pferden die Luft ausgeht
Der Kehlkopf (Larynx) ist ein komplexer Schließklappenapparat. Sein Knorpelskelett formen Kehldeckel (Epiglottis), Stellknorpel (Aryknorpel), Schildknorpel (Thyroid) und Ringknorpel (Cricoid).
Der Kehlkopf verhindert, dass das Pferd beim Atmen Luft schluckt und umgekehrt sein Futter einatmet. Denn Futter- und Luftweg kreuzen sich beim Pferd, wobei Kehldeckel und Gaumensegel die Weichen stellen (siehe auch „Gaumensegelverlagerung“ im CAVALLO Medizin-Kompendium Spezial).
„Beim Einatmen liegt der Kehldeckel über dem Gaumensegel. Die Luft strömt aus den Nasengängen in den geräumigen Nasenrachen und weiter durch den Kehlkopf in die Luftröhre“, sagt Dr. Aleksandar Vidovic, Fachtierarzt für Pferde und Chirurgie an der Tierärztlichen Klinik für Pferde in Altforweiler/Saarland. „Aufgrund dieser Anatomie können Pferde nicht durchs Maul atmen und gesunde Tiere auch nicht schnarchen.“
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Atemnot durch Engpass im Luftkanal
„Laut dem Poiseuill’schen Gesetz beeinflusst der veränderte Radius eines Rohres das Flüssigkeitsvolumen nicht linear, sondern es steigt oder sinkt mit der vierten Potenz“, erklärt Vidovic. „Das heißt, dass jede noch so kleine Verengung der Atemwege die Luftzufuhr hoch vier vermindert.“
Die Atemstörung hat zwei Formen und viele Ursachen. Die erste ist die statische Obstruktion. „Sie entsteht durch raumfordernde Prozesse wie Zysten, Tumore (Plattenepithelkarzinome) oder Absenkungen des Rachendachs aufgrund von Veränderungen im Luftsackbereich“, erläutert Aleksandar Vidovic.
Die dynamische Obstruktion wiederum ist Folge einer eingeschränkten Stabilität etwa bei Gaumensegelverlagerungen. „Sie verschlimmert sich bei Belastung, da die eingeatmete Luft einen starken Sog ausübt und so die losen Abschnitte des Kehlkopfs in die Atemwege hineinzieht“, sagt der Arzt.
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Symptome: Kehlkopfpfeifen und Leistungsabfall
„Raumfordernde Prozesse können Anlehnungsprobleme verursachen: Das Pferd will sich entziehen, indem es ständig den Kopf nach vorne streckt“, schildert Vidovic.
Ist die Luftzufuhr vorübergehend komplett unterbrochen oder verschluckt sich das Pferd, gerät es schlimmstenfalls in Panik – und im Galopp stetig aus dem Takt. Denn die Atemfrequenz gleicht den Galoppsprüngen; bei jedem Sprung wird einmal ein- und ausgeatmet.
Nicht nur krankhafte Veränderungen kosten Luft. „Schon bei normaler Anlehnung wird der Rachenraum um bis zu 50 Prozent verkleinert“, betont der Veterinär Vidovic. Gesunde Reitpferde bringt das nicht aus dem Tritt. Wer sein Pferd allerdings nach Rollkur-Manier überzäumt, raubt ihm im Wortsinn den Atem.
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