Schwaben sind bekannt als Tüftler und Schaffer. Immer an besseren Lösungen knobeln, immer was zu tun haben – immer etwas schaffen. Eigentlich würde Dr. Astrid von Velsen-Zerweck dieses Bild voll und ganz erfüllen – nur, dass sie Norddeutsche ist. Und sich auch nach 17 Jahren als Landoberstallmeisterin des Haupt- und Landgestüts Marbach, mitten auf der Schwäbischen Alb gelegen, nicht der kleinste Akzent eingeschlichen hat.
Eine Schafferin ist sie aber trotz fehlender schwäbischer Geburtsurkunde. Seit 2007 leitet sie das größte und älteste staatliche Gestüt Deutschlands – und ein ziemlich einzigartiges: "So einen Betrieb wie Marbach gibt es eigentlich gar nicht mehr”, sagt Dr. Astrid von Velsen-Zerweck. Denn in Marbach gibt es nicht nur eine große Pferdezucht, die gängige wie seltene Rassen umfasst und von der Bedeckung bis zur Aufzucht reicht. Auf über 900 Hektar und drei Gestütshöfen mit vier Vorwerken wird ökologischer Landbau betrieben. Die Jungpferde werden in Marbach angeritten, verkauft oder zur weiteren Zucht eingesetzt. Dazu kommen die baden-württembergische Landesreit- und -fahrschule und das Kompetenzzentrum Pferd Baden-Württemberg. Über 40 Auszubildende lernen im Gestüt, das damit die größte Ausbildungsstätte für Pferdewirte in Deutschland ist.
Als wäre das Leben genau auf diese Stelle zugelaufen
So vielfältig wie die Aufgaben sind, die Marbach mit sich bringt: Astrid von Velsen-Zerweck kennt sich in allen Punkten aus. Was an den Stationen auf dem Lebensweg der Landoberstallmeisterin liegt. "Als ich für die Bewerbung auf die Stelle hier in Marbach meinen Lebenslauf zusammengeschrieben habe, sah es so aus, als wäre alles nur dafür passiert.”
Kenntnisse in der Landwirtschaft? Hat Astrid von Velsen-Zerweck genug. Nach ihrem Abitur macht sie zunächst eine landwirtschaftliche Lehre; Praxiserfahrung war Bedingung für ihr anschließendes Studium der Agrarwissenschaften. Kenntnisse in der Pferdezucht? Hat sie vom Elternhaus aus (ihr Vater leitete den Trakehner Zuchtverband) und aus ihrem Studium; ihre Doktorarbeit schreibt sie über die "Integrierte Zuchtwertschätzung von Zuchtpferden”. Wissen, wie man mit Presse- und Öffentlichkeitsarbeit umgeht? Kennt sie aus ihrem Nebenfach Publizistik im Studium und ihrer Arbeit als Journalistin im Anschluss. Große Events organisieren? Kein Problem; zusammen mit Hans Günther Winkler stellt sie internationale Turniere auf die Beine oder kümmert sich beim Hamburger Derby um Organisation und VIP-Zelt.
Auf der pferdepraktischen Seite sah es nicht anders aus. Von Kindesbeinen an begleiten Pferde die heute 56-Jährige. Auf dem Hof der Familie Lührs wuchsen Astrid und ihre drei jüngeren Geschwister mit Ponys, Pferden und anderen Tieren auf – und in den Herbstferien ging es zum Ponyhof Forsthaus Tiergarten der Familie Klein in der Lüneburger Heide.
Während ihrer landwirtschaftlichen Lehrjahre in Südniedersachsen, in Holstein und während des Studiums in Göttingen ritt sie bei verschiedenen Pferdezüchtern; in den Semesterferien zusätzlich auf dem Klosterhof Medingen bei Hengstleistungsprüfungen. An der Hannoverschen Reit- und Fahrschule in Verden legte sie die Prüfung zum Reitwart ab und unterrichtete Schüler und Studenten in Reitvereinen der Universitätsstadt Göttingen.
Einen Beruf auf dem Pferderücken hat sie aber nie ins Auge gefasst. "Ich bin ein realistischer Mensch und habe einen beruflichen Weg mit Pferden gewählt, aber nicht direkt auf dem Pferd”, sagt sie norddeutsch nüchtern. Dass ihr beruflicher Weg in die Position des Landoberstallmeisters führt, liegt nach ihrem Werdegang wie aus dem Bilderbuch zwar nahe. Trotzdem: Stringent geplant war das nicht, sagt Dr. Astrid von Velsen-Zerweck. "Manche Dinge passieren einfach.”
Sie weckt das Gestüt aus dem Dornröschenschlaf
Seit sie im Gestüt die Zügel in der Hand hält, ist allerhand passiert. "Marbach lag damals einerseits ein wenig im Dornröschenschlaf und war gleichzeitig im Aufbruch, weil es umstrukturiert werden sollte. Ich war es aus meiner Selbstständigkeit gewohnt, Projekte auf den Weg zu bringen. Und in Marbach gab es so vieles, was man umsetzen konnte. Ich war Feuer und Flamme, dieses jahrhundertealte Gestüt in die Zukunft zu führen.”
Nur die Belegschaft war nicht in allen Dingen Feuer und Flamme für neue Ideen. Was auch an den Rahmenbedingungen lag: "Der Personalstamm war damals strukturell überaltert, traditionell männlich geprägt. Und dann kam da eine junge Frau aus Norddeutschland, die keiner kannte. Dass das zu Problemen führen könnte, war mir anfangs nicht so sehr bewusst.”
Doch sie schafft es, ihre Mitarbeiter in Entscheidungen einzubinden und sie nach und nach von notwendigen Änderungen und Innovationen zu überzeugen. "Dass wir unseren Pferden viermal am Tag Raufutter geben und abends eine Kontrollrunde durch den Stall machen, ist heute selbstverständlich. Doch der Weg dahin war zeitweilig mühsam.”
Jungpferde zu früh kören? Hier sieht der Weg anders aus
Mittlerweile ist die Belegschaft jünger geworden und offen für Neues. "Die nachrückende Generation ist weiblich geprägt, und wir müssen uns einige Innovationen zum Beispiel in der Stalltechnik einfallen lassen, um die Handarbeit in den denkmalgeschützten Gebäuden zu erleichtern.” Beispiele dafür, Dinge anders anzugehen und zu denken, gibt es auch in anderen Bereichen. Teamarbeit ist der Gestütsleiterin wichtig; sie gibt ihren Mitarbeitern Freiraum, fordert aber gleichzeitig Verantwortung zur Mitgestaltung. So finden sich beispielsweise aus dem gesamten Betrieb Mitarbeiter und Azubis, die einen vielfältigen Kindertag in Marbach auf die Beine stellen.
Daneben laufen in Marbach praxisrelevante Projekte und Forschungen mit Hochschulen, sei es zur Luzernefütterung oder zum Einsatz von Künstlicher Intelligenz im Stall (die in Marbach zur Abfohlüberwachung der Stuten genutzt wird). Manches geht nicht ganz so schnell voran wie erhofft. "Aufgrund des Fachkräftemangels stocken unsere Bauprojekte gerade. Wir wollten schon längst den Schulpferdestall zu einem Aktivstall umgebaut haben, aber aktuell ist noch nicht mal ein Startschuss gefallen”, sagt sie mit einem Seufzer.
Lange hält sie sich an so etwas nicht auf. Sie freut sich stattdessen über kleine Verbesserungen; jüngst wurde eine alte Rinderweide für die dreijährigen, gerade angerittenen Pferde umgewidmet. Die können jetzt die Zeit zwischen Freitag und Montag im Herdenverband draußen verbringen. "Die Idee kam von den Mitarbeitern im Reitkommando. Ich fand sie toll, denn sie zeigt, dass sie mitdenken für das Wohl ihrer Pferde.”
Überhaupt, an die Jungpferde denken: Sie so pferdegerecht wie möglich aufwachsen zu lassen und vorzubereiten auf ihre Aufgaben, die sie altersgemäß erfüllen können, steht im Gestüt Marbach traditionell im Fokus der täglichen Arbeit und Berufsausbildung. Die Junghengste gehen schon lange nicht mehr zweijährig zur Körung. "Wir sind vor Jahren schon mal in der Vormusterung durchgefallen, weil unsere Zweijährigen keine Saltos geschlagen haben”, sagt Astrid von Velsen-Zerweck trocken.
Das Gestüt geht einen anderen Weg: Die Jungtiere werden dreijährig im Winter aufgestallt, langsam angeritten – und präsentieren sich erst nach dem 50-Tage-Test zur Körung. "Denn die jungen Pferde sollen genügend Zeit zu reifen haben und sachgemäß nach der Skala der Ausbildung aufgebaut werden.”
Sie sieht Marbach und alle Gestüter in der Vorbildrolle zu zeigen, wie guter Umgang mit Pferden aussieht. "Wir streben täglich das Ideal an, Pferde nach klassischen Grundsätzen auszubilden. Das gelingt uns nicht immer, aber wir arbeiten täglich darauf hin.” Die klassische Ausbildung begleitet sie selbst von Anfang an: mit Reitlehrern, die von der Kavallerieschule Hannover geprägt waren, mit ihren Eltern als Lehrmeister, die wiederum bei Paul Stecken und Fritz Tempelmann ritten. Und weil ihre Eltern mit Klimkes befreundet waren, "war ich in den Ferien zu Besuch in Münster und lernte allein durch das Zuschauen beim Training unglaublich viel”. Ganz abgesehen davon, dass sie einmal Ahlerich Schritt reiten durfte.
Reiter sollten sich selbst kritisch hinterfragen
Kein Wunder, dass sie Gründungsmitglied bei Xenophon ist – und bei der Kampagne #doitride. "Ein Umdenken bei Reitern anzustoßen, anzuregen, dass man sich selbst und seinen Umgang mit dem Pferd kritisch hinterfragt, das ist mir wichtig.” Auch wenn das von ihrer Zeit abgeht, die mit ihren unzähligen Aufgaben auf dem Gestüt, ehrenamtlichen Engagements, Zucht- und Marbacher Veranstaltungen gut gefüllt ist.
Fürs Reiten ist da kein Platz mehr. "Ich bin nicht der Typ, der einmal die Woche ausreitet. Lieber würde ich wieder ein Pferd kontinuierlich ausbilden, aber dafür bin ich zu viel unterwegs.” Zwischen Arbeit und Freizeit unterscheidet sie nicht. "Diese Aufgabe hier ist mein Leben. Ich wohne auch hier, denn ein Bauer gehört auf den Hof, finde ich.” Und das klingt fast schon wieder schwäbisch.
Haupt- und Landgestüt Marbach
Auf dem HuL Marbach in Baden-Württemberg sind (auf sieben Standorte verteilt) über 500 Pferde zuhause. Die Aufgaben des Landesbetriebs sind vielfältig: Dazu zählen der Gestütsbetrieb mit Stuten- und Hengsthaltung (neben Vollblutarabern und Warmblütern auch die bedrohten Rassen Schwarzwälder Kaltblut und Altwürttemberger), Aufzucht, Anreiten und Verkauf der Jungpferde, der landwirtschaftliche Betrieb, die Bereiche Bildung sowie Kulturpflege, Veranstaltungen und Tourismus mit mehreren hunderttausend Besuchern im Jahr. Mehr Infos finden Sie unter www.gestuet-marbach.de