CAVALLO: Frau Wilsie, auf der Equitana 2019 sah ich Sie in einem Ring mit einer Stute und deren Besitzerin. Sie standen recht weit von dem Paar entfernt, sprachen mit der Besitzerin und dem Publikum. Dennoch entstand der Eindruck, dass Sie und das Pferd da etwas gemeinsam tun, auf ganz anderer Ebene verbunden sind. Besonders eindrücklich war es, weil es aus so großer Distanz geschah. Was passierte da?
Sharon Wilsie: Ich hatte ein Gespräch mit Besitzerin und Pferd gleichzeitig, das geht auch auf Distanz. Man muss dazu die kleinen Zeichen der Pferde lesen. Sie halten Kopf und Nacken bewusst in die eine oder andere Richtung, sie nutzen ihre Lippen, kräuseln sie, machen sie lang, das Kinn ist mal angespannt, mal locker, sie atmen auf unterschiedliche Arten durch die Nüstern. Das alles passiert nicht zufällig. All das sind komplexe Botschaften. Jeder Schritt, jedes Versetzen eines Hufs hat eine Bedeutung.
Und diese einzelnen Signale kombinieren Pferde zu ganzen Sätzen?
Sozusagen, es sind Gesten, mimische Signale und Kombinationen daraus, die Pferdesprache ausmachen. Ein Pferd kann etwa erst die Lippe kräuseln, mit dem Auge blinzeln, dann den Kopf leicht zur Seite nehmen, dabei einen Schritt mit dem Fuß vorgehen und den Schweif schlagen lassen. Jedes Element hat eine Bedeutung, zum Beispiel ist das Blinzeln eine Form von Stressreduktion. Aber je nachdem, wie das Pferd etwas genau macht, ist die Bedeutung unterschiedlich. Das Schweifschlagen könnte heißen: Ich bin fertig mit diesem Prozess, mit dieser Handlung. Oder, wenn es ein heftigeres Schweifschlagen ist: Ich bin mitten in einer Sache.
Wie antworten Sie auf solche Botschaften des Pferds?
Mit meiner Atmung, meiner Körperhaltung, aber auch über meine Hände. Pferde reagieren auf ganz winzige Handbewegungen. Häufig haben sie erfahren, dass Menschen auf ihre Hände nicht achten und daher schenken sie deren Bewegungen auch keine Beachtung mehr. Aber wenn ein Pferd feststellt, dass ich bewusst mit ihm über meine Handbewegungen kommuniziere, dann öffnet es sich dem ganz schnell wieder.
Wie muss ich mir ein Gespräch zwischen Ihnen und einem Pferd konkret vorstellen, haben Sie ein Beispiel?
Auf der Equitana schaute ich einer Reiterin zu, die spät abends noch ihren Hengst ritt. Der Hengst war guckig in einer Ecke und ich konnte sehen, wie gestresst er war. Als das Paar an mir vorbeiritt, atmete ich tief aus, um dem Pferd zu signalisieren: Ich bin da und bemerke dich. Gleichzeitig schaute ich in die gruselige Ecke und atmete auf eine Weise, die ich "blow the boogie" nenne. Es ist ein lautes Ausatmen. Dabei zeigte ich in die Ecke, vor der sich der Hengst fürchtete. Ich leckte mir meine Lippen und kaute, als ob ich einen Kaugummi im Mund hätte. Das bedeutet: Ich sehe es. Ich sehe die Angstecke, die für dich wie ein Bär ist und ich denke, sie ist okay. Pferde sind dankbar, wenn sie sich nicht mehr allein fühlen. Der Hengst richtete daraufhin ein Ohr in meine Richtung. Und er ging zur Ecke.
Beeindruckend. Und hat die Reiterin das bemerkt?
Nein, nur, dass das Pferd plötzlich in die Ecke ging. Aber das Pferd begann mich anzuschauen, statt auf sie zu achten, da bin ich lieber gegangen.
Pferden sagen: "Hab keine Angst!" Wie machen Sie das im Sattel?
Wenn man es am Boden geübt hat, funktioniert es auch im Sattel. Bleibt ein Pferd vor Angst stehen und friert ein, dann kann man zum Beispiel in die scheinbar gefährliche Richtung zeigen und dann mit der gleichen Intensität pusten, wie man eine Kerze ausblasen würde. Dann noch dreimal schmatzen, fertig. Die meisten Pferde schütteln sich dann und entspannen wieder.
Ihre Methode nennen Sie Horse Speak. Inwiefern unter- scheidet sie sich von anderen Horsmanship-Methoden?
Was ich mache, ist kein Training. Natural-Horsemanship- Methoden sind grundsätzlich Methoden, um zu trainieren. Bei Horse Speak geht es um ein Gespräch, wir sind nicht in einem Workout! Bei einem Training versuchst du etwas zu erledigen, ein Ziel zu erreichen. Bei Horse Speak geht es darum, herauszufinden, was für die Pferde wichtig ist. Was ist für sie wertvoll? Wovor fürchten sie sich?
Was ist Pferden denn vor allem wichtig?
Platz um sich herum. Das ist anders als bei Hunden oder Katzen, die schon mit ihren Müttern und Geschwistern kuscheln und das auch gern mit uns Menschen tun. Ein Fohlen kuschelt während Ruhezeiten nicht mit seiner Mutter, weil das gefährlich wäre: Die zwei Sekunden, die es dauert, sich voneinander zu lösen, könnten über Leben und Tod entscheiden, wenn ein Löwe käme. Deshalb ist genügend persönlicher Platz Pferden sehr wichtig, auch heute noch und im Umgang mit dem Menschen.
Körperpflege zwischen Pferden ist aber schon ein naher Moment.
Ja, sich aneinander scheuern und sich da- durch nah sein geht auch. Sich gegenseitig Zuneigung zu zeigen, ist ein weiteres großes Bedürfnis von Pferden. Sie gehen danach aber auch wieder relativ schnell auseinander. Wie beim Säugen eines Fohlens: Das ist nah und danach trennen sich Fohlen und Stute wieder. Auf den Menschen übertragen ist das so ähnlich wie mit guten Freunden: Man umarmt sich zur Begrüßung und lässt sich wieder los. Man sitzt einander nicht den Abend lang auf dem Schoß!
Wie könnte so eine Zuneigungs-Geste zwischen Pferd und Mensch denn aussehen?
Zum Beispiel kann man mit der Handfläche drei Mal die Halsunterseite entlang streichen. Besonders Hengste mögen das, weil sie oft nicht in der Herde leben dürfen und so ihr Bedürfnis, Zuneigung zu zeigen und zu empfangen, kaum erfüllt wird. Wichtig ist, dass es für die Pferde eine vorhersehbare Bewegung ist und das Anfassen nicht zu lang dauert. Drei Mal in langen Zügen streichen und danach einen Schritt vom Pferd weg- treten, um ihm wieder persönlichen Raum zu geben, das mögen die meisten.
Für die Gesprächsmethode Horse Speak definieren Sie 13 Buttons, das sind Stellen am Pferd, die zur Kommunikation angeschaut oder berührt werden. Welche sind die wichtigsten?
Der "Geh-weg-Punkt" an der Ganasche ist der wichtigste Punkt für Alltagsunterhaltungen von Pferden. Wenn sie fragen möchten, ob ein anderes Pferd ihnen etwas mehr Platz lassen kann, dann schauen sie dorthin. Höflich und ganz leise geht das vonstatten.
Gibt es einen Punkt, den ich als Pferdehalter selbst direkt testen kann, nachdem ich dieses Interview gelesen habe?
Ja, den Begrüßungspunkt an der Oberlippe. Wenn Pferde sich begrüßen, schauen sie sich zunächst aus größerer Distanz an, heben den Kopf, die Nüstern sind weit offen. Das können wir nachahmen, indem wir den Mund wie ein O formen und ausatmen. Den zweiten Schritt, das Nüstern zusammenführen, können wir imitieren, indem wir den Handrücken zum Pferd strecken. Wir Menschen haben ja so ein flaches Gesicht, wir müssen uns mit unseren Handgesten etwas behelfen. Übrigens verstehen Pferde das sofort – sogar Wildpferde. Ich habe vergangenes Jahr in Deutschland die Dülmener Wild- pferde besucht – und die haben prompt reagiert. Das war ganz schön, schließlich hat sich ein Jungpferd sogar neben einer Teilnehmerin hingelegt, die bei diesem Ausflug dabei war; und ein anderes wollte mit uns weitergehen.
Sie selbst hat auch ein Pferd mit Wildpferdewurzeln auf diesen Weg gebracht, richtig?
Ja, Rocky, der immer noch bei mir lebt. Er hat Tarpanblut und war das schwierigste Pferd, mit dem ich je gearbeitet habe. Er war ein Wanderpokal, bevor er zu mir kam und hatte den Spitznamen Pitbull-Pony. Damals arbeitete ich für einen Pferdeschutzverein. All mein Wissen, all meine Methoden versagten bei Rocky. Ich konnte ihn nicht für mich gewinnen. Irgendwann kehrte ich den Spieß um und fragte mich: Was ist ihm wichtig? Was sind seine Werte? Heu war zum Beispiel wichtig für ihn. An einem Tag, an dem es einen Schneesturm gab, schaufelte ich das Heu für die Pferde frei – und das machte etwas zwischen uns. Er schaute mich an, pustete deutlich aus. Er war nämlich eigentlich derjenige, der darauf achtete, dass alle Stuten seiner Herde genug Heu bekamen. Jetzt sorgte ich auch für ihn. Das war der Beginn von Horse Speak.
Wie hat das Ihre Beziehung zu Rocky verändert?
Es ging nicht mehr darum, was er für mich tun konnte, sondern was wir gemeinsam taten. Auf der Weide beobachtete ich, welche Gräser er besonders mochte und zeigte sie ihm, wenn ich welche früher als er erspähte. Wir gingen in dieser Zeit spazieren und er führte mich ganz häufig zu Baumstämmen. Ich habe das anfangs gar nicht verstanden. Irgendwann bin ich auf so einen Baumstamm geklettert und von da aus auf seinen Rücken. Ich bin mir sicher, er hat das ganz bewusst gemacht, mir diese Baumstämme als Aufstiegshilfe zu zeigen – als er bereit war mich zu tragen, bot er mir seinen Rücken an.