11 Mythen aus der Pferdewelt

Schräge Weisheiten
11 Mythen aus der Pferdewelt

Zuletzt aktualisiert am 04.04.2024
CAVALLO Trainingsmythen
Foto: Lisa Rädlein

Mythos 1: "Dehnungshaltung verschleißt die Vorhand"

Behauptungen, dass die Dehnungshaltung nichts anderes als ein "auf der Vorhand laufen" ist, häufen sich. Pferde sind von Natur aus vorhandlastig gebaut. Studien konnten belegen, dass Pferde selbst in stark versammelten Lektionen wie der Piaffe mehr Gewicht auf der Vor- als auf der Hinterhand tragen. Im Schnitt trägt die Vorhand 10 bis 12,5 Prozent mehr vom Gesamtgewicht als die Hinterhand. Bei einem 540 kg schweren Pferd und einem Reiter, der 75 kg wiegt, entspricht das 85 kg. Bei gesenkter Kopfposition erhöht sich die Mehrbelastung um weitere 20 kg. Es ist also korrekt, wenn behauptet wird, die Dehnungshaltung verschärfe das Ungleichgewicht zwischen Vor- und Hinterhand zusätzlich. Ein Grund zur Sorge ist das aber nicht, denn die Vorhand ist wesentlich stabiler gebaut, als oft angenommen wird: Zum einen sind die Vorderhufe größer als die Hinterhufe, wodurch sich das Gewicht besser verteilt. Zum anderen weisen die Beugesehnen der Vorderbeine ein zweites Unterstützungsband auf. Zusätzliche Stabilität gegenüber der Hinterhand gewinnt die Vorhand außerdem durch die Form der Karpalgelenke. Darüber hinaus löst die Dehnungshaltung eine Reihe von biomechanischen Kettenreaktionen aus, von denen Pferde körperlich profitieren. Eine zentrale Rolle dabei spielt das Nacken-Rückenband. Senkt das Pferd seinen Kopf, kommt das Band unter Spannung. Durch den Zug nach vorne werden die schweifwärts gerichteten Dornfortsätze im Widerristbereich auseinandergezogen, die Brustwirbel richten sich auf und der Rücken kommt hoch. Ab dem 16. Brustwirbel sind die Wirbel in Richtung Kopf geneigt. Durch den Zug des gesenkten Kopfs verschließen sich die Wirbelgelenke und stabilisieren den hinteren Wirbelsäulenbereich. Einen noch größeren Effekt hat die Dehnungshaltung im Bereich der Schulter. Durch den Zug des unteren gezackten Muskels und der vorderen Anteile des Trapez- und Rautenmuskels wird das Schulterblatt aufgestellt und das Schultergelenk gestreckt. Deshalb ist die Dehnungshaltung gerade bei jungen und untrainierten Pferden mit instabilen Schultern sehr schonend, solange deren Muskulatur noch nicht stark genug ist, um das Schultergelenk auch in anderen Halspositionen in dieser Stellung zu halten. Auch der hintere Teil des Rumpfträgers, der an den ersten acht Rippen ansetzt, wird durch die Schulterblattdrehung in eine Haltung gebracht, in der die Vorderbeine vor Überlastung geschützt sind. Der Rumpfträger funktioniert wie ein Stoßdämpfer, der das Rumpfgewicht in der Bewegung zwischen den Schulterblättern abfängt.

Mythos 2: "Wer nur ins Gelände reitet, schadet dem Pferd"

Ohne Gymnastizierung werden Pferde krank – ist diese häufig gehörte Kritik an Geländereitern berechtigt? Reiter, die regelmäßig ausschließlich am langen Zügel ins Gelände gehen und sich "tragen lassen", werden ihren Pferden nicht schaden. Vorausgesetzt natürlich, dass die Ausrüstung passt, Pausen eingelegt werden und der Reiter für sein Pferd nicht zu schwer ist. Das Gelände bietet viele Trainingsanreize, die der pottebene Reitbahnboden nicht bietet: Selbst wenn das Terrain nur leicht uneben ist, hilft bergauf und bergab reiten dabei, Bauch- und Rückenmuskeln zu stärken. Außerdem werden durch verschiedene Untergründe die Koordination und Konzentration des Pferds verbessert. Zusätzlich wird durch regelmäßige Bewegung das Herz-Kreislauf-System trainiert. Selbst Schrittrunden in angemessen zügigem Tempo können wesentlich zur Ausdauer beitragen.

Zwei Reiter von hinten auf einem Waldweg
Johner Images/ Gettyimages

Mythos 3: "Pferde können sich in den Rippen biegen"

In vielen Köpfen ist noch die Vorstellung verankert, dass Pferde im Brustkorb nachgeben und sich so um den inneren Schenkel biegen. Anatomisch gesehen ist eine gleichmäßige Biegung jedoch nur bedingt möglich, da die Wirbelsäule eines Pferds je nach Abschnitt eine sehr unterschiedliche Beweglichkeit aufweist. Während sich die Halswirbelsäule bis zu 180 Grad wenden lässt, ist das Kreuzbein, welches aus fünf miteinander verwachsenen Wirbeln besteht, nahezu starr. Ebenso unbeweglich ist der Bereich der ersten acht Brustwirbel. Auch die Lendenwirbelsäule weist aufgrund ihrer langen Querfortsätze eine sehr begrenzte Mobilität auf. Was Reiter als Biegung wahrnehmen, ist weniger eine Rippenbiegung als eine Rotation der Wirbelsäule. Die Dornfortsätze rotieren nach außen, wenn das Pferd seinen Rücken aufwölbt. Drückt es ihn hingegen durch, kommt es zu einer entgegengesetzten Rotation, wodurch langfristig Senkrücken entstehen können.

Mythos 4: "Das versammelte Pferd tritt weiter unter"

Ein Pferd muss versammelt sein, damit das Gewicht von der Vor- auf die Hinterhand verlagert wird. Erst wenn sich die Kruppe absenkt und die Hanken beugen, kann die Vorhand entlastet werden. Tritt das Pferd hingegen weit unter seinen Körper, passiert das Gegenteil: Die Hanken strecken sich und die Vorhand wird nicht oder nur sehr geringfügig entlastet. Ein piaffierendes Pferd etwa verlagert seinen Schwerpunkt zwar nach hinten und nimmt vermehrt Last auf, dafür tritt es relativ gesehen aber deutlich weniger weit unter den Körper als noch im starken Trab. Der Hintergrund: Das Pferd tritt nie unter, sondern immer nur in Richtung des Schwerpunkts. Befindet sich dieser weiter hinten, besteht für das Pferd keine Notwendigkeit, noch weiter unter den Körper zu fußen. Generell jedoch sollten Reiter unbedingt darauf achten, dass das Pferd weit untertritt und "hinten nicht einschläft". Denn eine aktive Hinterhand, die weit unter den Körper fußt, wölbt den Rücken auf, macht ihn tragfähig und ermöglicht so erst eine korrekte Versammlung. Wichtig: Die Halslänge des Pferds bestimmt, wie weit es untertreten kann. Je weiter die Nase vorgestreckt ist, desto weiter kann die Vorhand vorgreifen. Daran wiederum orientiert sich, wie weit die Hinterbeine vorfußen. Denn Vor- und Hinterhand haben bei einer guten Laufmanier immer einen proportionalen Abstand zueinander.

Mythos 5: "Impulse sind sanfter als stete Anlehnung"

Mit Zugkraftsensoren am Zügel und Profireiter Peter Kreinberg im Sattel machte CAVALLO im Juli 2008 die Probe aufs Exempel: Ist das Reiten mit längeren Zügeln sanfter fürs Pferdemaul als in Anlehnung? Tatsächlich sind Impulse am langen Zügel längst nicht so leicht wie erwartet. Unterschiede resultieren vor allem aus der Ausbildung: Die Kurven der Westernpferde verlaufen in Anlehnung unruhiger als die der klassisch ausgebildeten Tiere. Rhythmus und Tempo der Bewegung bestimmen in beiden Reitweisen, wie oft die Messkurve nach oben schnellt. Höchstwerte des einfühlsamen Testreiters Peter Kreinberg: meist unter zwei Kilo.

Mythos 6: "Zum guten Sitz gehört der Knieschluss"

Wer einen korrekten, ausbalancierten Sitz hat, braucht selbst zum Springen keinen Knieschluss. Das angedrückte Knie ist beim Reiten nur störend. Wenn man die Knie schließt, blockiert die Hüfte, das Gesäß spannt sich an und der Reiter kann nicht mehr tief im Sattel sitzen und locker mit der Bewegung mitgehen. Auch wer auf dem Pferd in "Seenot" gerät, sollte nicht auf einen guten Knieschluss schwören: Selbst wenn das Pferd buckelt oder durchgeht, wird besser oben bleiben, wer die Knie nicht schließt, sondern den Bewegungen folgen kann. Und das Pferd wird sich auf diese Weise auch schneller wieder entspannen. Denn Druck bedeutet bekanntlich Stress.

Mythos 7: "Das Pferd muss sich am Gebiss abstoßen"

Dass Pferde sich am Gebiss abstoßen sollen, wird oft als Grundregel verstanden. Viele Pferde gehen nicht reell am Zügel. Anstatt das Pferd von hinten nach vorne an die Hand heranzutreiben, werden Kopf und Hals mit der Hand in die gewünschte Position gebracht und das Pferd arrangiert sich damit. Es tritt jedoch nicht korrekt an die Zügel heran. Denn in solchen Fällen wird die Anlehnung nicht vom Reiter gewährt, sondern erzwungen. In der Reitvorschrift H.Dv.12 wird der Begriff "am Gebiss abstoßen" nur in Verbindung mit einer durchhaltenden Hand verwendet. Damit ist gemeint, dass die Zügelhände fest geschlossen werden und stehen bleiben, ohne rückwärts zu wirken. Diese Zügelhilfe wird nach der H.Dv.12 mit einem "vorgeschobenem Gesäß" und "elastisch angespanntem Kreuz" sowie treibenden Schenkeln eingeleitet. Das Pferd wird mit diesen Hilfen dazu animiert, an das Gebiss heranzutreten – etwa wenn es hinter den Zügel gerät oder bei einer halben Parade. Die durchhaltende Zügelhilfe darf aber nicht dauerhaft gebraucht werden. So steht’s auch in der H.Dv.12: In dem Moment, in dem das Pferd leicht am Gebiss wird, wird auch die Hand des Reiters leicht. Denn die korrekte Anlehnung besteht aus einer gefühlvollen Reiterhand, die eine konstante, aber leichte Verbindung zum Pferdemaul hat.

Mythos 8: "Das Pferd wird zum Loben am Hals geklopft"

Kräftiges Klopfen am Hals ist fast allen Pferden unangenehm – das ergaben Studien, in denen viele Pferde Schreckreaktionen zeigten, wenn Reiter den Hals abwatschten. Kein Wunder. In der Herde gibt es diese Art von Klopfkontakt unter Artgenossen nicht. Besser: ein sanftes Kraulen, ein Lob mit der Stimme oder eine kleine Verschnaufpause, je nach Situation.

Mythos 9: "Absätze gehören nach unten"

Das Bild vom tiefen Absatz hat sich etabliert. Richtig ist: Der Fuß soll waagerecht auf dem Bügel ruhen. Der Steigbügel dient dazu, den Vorderfuß zu stabilisieren. Dazu wird der Bügel so aufgenommen, dass der Fußballen auf der Auflagefläche ruht. Der Absatz ist immer dann der tiefste Punkt, wenn er korrekt nach unten federt. Wer dagegen auf das Reitlehrer-Kommando "Absatz tief" krampfhaft die Fußspitzen hochzieht, stellt das Fußgelenk und damit auch sein Becken fest. Ein lockeres Mitschwingen ist so nicht möglich.

Nahaufnahme eines Reitstiefels am Pferd mit Sporen
pixinoo/ Gettyimages

Mythos 10: "Join up ist gewaltfreies Pferdetraining"

Pferde zeigen beim Join up durch Kauen und Lecken, dass sie entspannt und fügsam sind, glaubt Pferdeflüsterer Monty Roberts. CAVALLO hakte schon im Dezember 2003 bei international renommierten Verhaltensforschern nach. 14 Experten kritisierten die Methode als Psychodruck, auf den das Pferd mit Kauen als Beschwichtigungsgeste reagiere. 2009 bestätigten niederländische und australische Forscher: Join up spiegelt kein natürliches Verhalten wider und kann Pferde psychisch sogar schädigen.

Mythos 11: "Dem Pferd nicht in die Augen schauen!"

Der direkte Blick in die Augen schüchtert Pferde ein, lehren manche Trainer. Die amerikanische Forscherin Dr. Sue McDonnell bewies mit einer Studie, dass Pferde sich alleine durch einen tiefen "Augenblick" nicht aus der Fassung bringen lassen. Der Versuch mit je einer Gruppe halbwilder und domestizierter Pferden zeigte: Alle Tiere ließen sich gleich gut einfangen – unabhängig davon, ob man ihnen dabei in die Augen blickte oder nicht. Und lächeln Sie dabei, das kommt bei Pferden gut an.

Märchen am Pferd

Bandagen stützen die Sehnen und helfen bei angelaufenen Beinen: Von wegen! Die Wickelei schädigt das Lymphsystem der Röhrbeine, bis es irgendwann streikt. Der Gefäß-Experte Professor Dirk Berens von Rautenfels wies nach, dass Bandagen die Lymphgefäße regelrecht abschnüren. Deutlich besser schnitten Kompressionstrümpfe ab. Das beste Training fürs Lymphsystem: Bewegung.

Dicke Gebisse sind sanfter: In Wahrheit sind sehr dicke Trensengebisse Fehlkonstruktionen: Sie haben im Pferdemaul oft zu wenig Platz und quetschen deshalb die Zunge.

Ein nasses Pferd darf man nicht satteln: Viele Profi-Reiter haben die Erfahrung gemacht, dass es nicht schadet, den Sattel aufs nasse Pferd zu legen. Vorausgesetzt natürlich, die Sattellage ist sauber und das Fell frei von Schmutz.

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