Pony Joschi: Blindheit beim Pferd muss kein Handicap sein

Ein blindes Pony zum Verlieben
Pony Joschi: Blindheit muss kein Handicap sein

Veröffentlicht am 25.01.2025
Michelle Menger sitzt mit ihrem Pony Joschi im Sand zum Kuscheln
Foto: Gottmann

Dressurprüfung? Check! Trailprüfung mit Slalom, Holzbrücke und engem Pferch? Check! Geschicklichkeitswettbewerb, Dressur-Kür, Prüfungen auf gebissloser Zäumung? Check, check, check! Check-, pardon: Scheckpony Amigo, genannt Joschi, ist unter dem Sattel und seiner Reiterin Michelle Menger ein echtes Multitalent. Was toll, aber vielleicht nicht herausragend wäre – bei Joschi aber schon.

Der 21-jährige Wallach ist nämlich blind. Da muss man schon zweimal bei ihm hinschauen, denn die tiefen, leeren Augenhöhlen sind unter einem dichten, schwarzen Schopf versteckt. Und auch ansonsten fällt nicht auf, dass der Wallach nichts mehr sieht. Dabei war das vor einigen Jahren noch deutlich anders, erzählt seine Besitzerin Michelle Menger.

Ein Pferdemädchen-Traum und ein kleiner Wildfang

Die 28-jährige Reiterin ist seit siebzehn Jahren an Joschis Seite. In einem kleinen Schulbetrieb begegneten sie sich 2007 zum ersten Mal. Joschi war ein Wildfang, erzählt Michelle Menger, mit Vorliebe für Bocksprünge; bei den Reitschülern war er deshalb nachvollziehbarerweise nicht sonderlich beliebt. Bei Michelle Menger schon. Als der Wallach verkauft werden sollte, lag die Teenagerin ihren Eltern in den Ohren – und bekam Joschi zu ihrem 16. Geburtstag geschenkt.

Ein Pferdemädchen-Pony-Traum, der wahr wurde, aber ein paar Jahre später einige Risse bekam. Eins von Joschis Augen entzündete sich; die Tierärzte diagnostizierten eine Periodische Augenentzündung. Und bemerkten bei der Untersuchung des anderen Auges, dass dieses schon erblindet war. Angemerkt hatte Michelle Menger das ihrem Schecken nicht. Wohl aber, als Joschi auf beiden Augen nichts mehr sehen konnte.

"Er traute sich kaum noch aus seiner Box heraus”, erinnert sich Michelle Menger zurück. Nach ein, zwei Wochen wagt sich Joschi immerhin wieder auf seinen Paddock – und muss lernen, mit der Blindheit klar zu kommen. Mehrmals läuft der Wallach gegen Hindernisse.

Härter trifft die Blindheit seine Reiterin. "Für mich war das vermutlich schwieriger als für ihn. Von allen Seiten habe ich zu hören bekommen, dass ein blindes Pferd überhaupt nicht lebensfähig sei”, sagt Michelle Menger. Die Tierärzte raten ihr, Joschi einzuschläfern. Michelle Menger denkt nicht dran. "Mein Bauchgefühl sagte mir, dass das falsch ist. Joschi steckte so voller Lebensenergie.”

Das blinde Pony Joschi mit seiner Besitzerin bei einem Kostüm-Wettbewerb
Gottmann

Kein Stall will zunächst ein blindes Pony aufnehmen

Die Reiterin steckt ihre Energie von da an in den Versuch, Joschi das Leben im Dunkeln so angenehm wie möglich zu machen. Was auch hieß: den idealen Stall zu finden. Denn dort, wo er stand, kam Joschi nicht mehr zurecht. "Die Pferde sind dort alleine von der Koppel in ihre Boxen gelaufen. Wenn etwa eine Schubkarre im Weg stand, war das natürlich ein Problem für Joschi.” Auch mit dem ständigen Wechsel der Weiden kommt der Schecke nicht klar.

Weil kein Stall in der Nähe ihres Wohnortes bereit ist, ein blindes Pony aufzunehmen, nimmt Michelle Menger weite Strecken auf sich: Jahrelang stand Joschi in einem Stall, der eine knappe Stunde Fahrtzeit entfernt war. Mittlerweile hat der Wallach in Michelle Mengers Wohnort Norderstedt bei Hamburg ein neues Zuhause gefunden.

Hier steht er mit drei Pferden und Ponys in einem Offenstall. "Futter und Wasser sind immer an den gleichen Stellen, damit Joschi es einfacher findet”, sagt Michelle Menger. Am Eingang des Stalls ist ein PVC-Vorhang befestigt; so findet der Schecke leichter hinein und heraus. Geht’s auf eine neue Koppel, führt Michelle Menger Joschi einmal am Zaun entlang und klopft dagegen. Das reicht, damit Joschi sich zurecht finden kann. "Ich glaube, er prägt sich die Wege ein, als hätte er eine Landkarte im Kopf”, meint Michelle Menger.

Michelle Menger sitzt mit ihrem Pony Joschi im Sand zum Kuscheln
Gottmann

Erst nach einem Jahr Pause steigt sie wieder in den Sattel

Die Landkarten scheint Joschi auch auf dem Reitplatz oder im Gelände im Kopf zu haben – und eine große Portion Vertrauen im Herzen dazu. Mit seiner Reiterin geht er auf Lehrgänge oder Turniere. Fremde Umgebung? Check!

Dass sie Joschi einmal wieder so reitet wie vor seiner Erkrankung, war für Michelle Menger allerdings alles andere als klar. Sie arbeitete mit Joschi vorwiegend vom Boden aus – bis ihr Gefühl nach einem Jahr Reitpause spontan zu ihr sagt: Steig mal auf. Tut sie. Einerseits sei das "zuerst ein komisches Gefühl gewesen”; andererseits ist das Reitgefühl dann doch so wie zu den Zeiten, als Joschi noch sehen konnte. "Ich musste nur gezielter lenken als früher.”

Michelle Menger mit Pony Joschi bei der Bodenarbeit
Gottmann

Langsam tasten sich die beiden wieder ans Reiten heran. Neben Gewichts-, Schenkel- und Zügelhilfen setzt Michelle Menger ergänzend auf Stimmkommandos. "Weil bei Ausritten immer mal ein Ast oder Baumstamm auf dem Weg liegen kann, musste ich Joschi begreiflich machen, dass er die Beine heben muss.” Sie übte das Stück für Stück mit ihm; aufs entsprechende Signal hebt der Schecke nun brav die Beine. "Joschi lernt zum Glück echt schnell”, sagt Michelle Menger. "Und wenn er einmal verstanden hat, was man von ihm möchte, dann sitzt das auch."

Blindenbonus in der Erziehung

Und wenn Joschi etwas möchte, dann setzt er sich damit auch durch. Meistens zumindest. Will er irgendwo hinkommen, marschiert er los – im blinden Vertrauen darauf, dass ihm der Weg schon freigeräumt wird. Wenn nicht, bekommt man als Umstehender mitunter eine Kopfnuss verpasst; manchmal, weil der Schecke den Menschen schlicht nicht sieht. Und manchmal, weil der Wallach absichtlich Knüffe verteilt. Selbst schuld, wenn man ihm nicht aus dem Weg geht oder ihm kein Leckerli gibt. "Vielleicht ist das der Blindenbonus, dass ich ihm etwas zu viel habe durchgehen lassen”, meint Michelle Menger.

Joschi mit der Siegerschleife am Kopf und einer strahlenden Besitzerin daneben
Gottmann

Joschis frechem Selbstbewusstsein hat das Handicap jedenfalls nicht geschadet. Der Beziehung zu seiner Besitzerin auch nicht – im Gegenteil, meint die. "Das kennt vermutlich jeder, dessen Pferd eine längere Krankheitsgeschichte durchgemacht hat.” Durch die Erkrankung habe sie viel mehr Zeit mit Joschi verbracht als zu den Zeiten, als der Wallach noch sehen konnte. In den mehrfachen Stallwechseln war Michelle Menger die Konstante für ihr Pferd. "An diesen Herausforderungen, die wir gemeinsam bewältigen mussten, sind wir gewachsen”, sagt sie. "Und Joschi muss mir ganz besonders vertrauen, dass ich ihn nicht irgendwo dagegen lenke. Ich kann mir nicht vorstellen, nochmal so eine enge Bindung zu einem Pferd aufzubauen wie zu ihm.” Blindes Vertrauen? Doppel-Check!