Yvonne Gutsche galoppiert mit Amour über den Reitplatz. Der Schimmelwallach bewegt sich ebenso kraftvoll wie leichtfüßig. "Wenn ich für eine Sache in meinem Leben dankbar bin, dann dafür, dass das Schicksal Amour und mich zusammengebracht hat." Die 41-jährige Pferdtrainerin lässt die Zügel locker und umarmt Amour vom Sattel aus. "Dieses Pferd ist einfach ein absoluter Traum!"

Fünf harte Jahre haben sich mehr als gelohnt
Dass Amour überhaupt noch lebt, ist schon ein Wunder. Dass er darüber hinaus noch so toll aussieht und sich so gut bewegt, ist einfach unglaublich – vor allem, wenn man sich an die Bilder und Videos vor fast genau fünf Jahren erinnert. "Ich hatte durchaus Phasen, in denen ich zutiefst verzweifelt war, mehr Angst hatte, wo das alles hinführt, und trotz allem war etwas in mir, was mich nicht hat aufgeben lassen, egal wie schwierig und wie unmöglich das alles war", berichtet Yvonne Gutsche.

Die vergangenen Jahre waren hart, für Pferd und Mensch. "Ich startete mit einem sechsjährigen Pferd absolut bei Null, weil Amour bis zum Trainingsstart kaum Erziehung oder Muskelaufbautraining genossen hatte", so Gutsche. Doch bereits nach wenigen Monaten baute der Schimmelwallach Muskulatur auf (siehe CAVALLO 02/2018).

Den ersten Ritt hat Amour cool gemeistert
Den Rückstand hat Amour längst aufgeholt, und fünf Jahre nach seiner Rettung scheint nichts mehr an den Überlebenskampf zu erinnern. Tatsächlich trägt Amour sein Schicksal noch auf und unter der Haut: Unterm Schimmelfell sind Narben übriggeblieben, am Kopf, an der Kruppe. "Seine Narben machen ihn auch aus. Sie sind ein Teil von ihm", sagt Yvonne Gutsche.

Im Mai 2018, rund eineinhalb Jahre nach Amours Rettung, saß die Pferdetrainerin zum ersten Mal auf Amours Rücken. "Das war ein sehr emotionaler Moment für mich", sagt Gutsche. "Wer hätte überhaupt gedacht, dass Mouri und ich diesen Augenblick erleben dürfen?" Und trotz seiner jungen Jahre habe Amour von innen heraus so eine wunderbare Grundsicherheit und Grundweisheit ausgestrahlt. "Da bekam selbst ich richtig Gänsehaut." Und wie hat er den ersten Ritt gemeistert? "Total cool war er", erinnert sich Yvonne Gutsche. "Amour stresst sich in nichts rein und ist immer offen für Neues."

"Ich glaube sogar, Amour hatte seine Vergangenheit zu diesem Zeitpunkt bereits vergessen", meint Yvonne Gutsche. "Und weil es ihm so gut ging, habe ich ihn dann zur CAVALLO Academy 2018 mitgenommen. Zu diesem Zeitpunkt war er das zweite Mal überhaupt von Zuhause weg, seit sechs Wochen erst unter dem Sattel, das erste Mal vor Publikum und in fremder Umgebung unterm Reiter", berichtet Yvonne Gutsche. "Und das hat er super gemacht!"

Der 10-Jährige geht jetzt sogar fliegende Wechsel

In den vergangenen drei Jahren hat Amour sich reiterlich nochmals enorm entwickelt. "Ich habe Amour weiter Stück für Stück aufgebaut", sagt Yvonne Gutsche. Renvers, Travers, Traversalen und sogar fliegende Galoppwechsel, all diese Lektionen sind kein Problem für den mittlerweile 10-Jährigen. "Amours Entwicklung ist für mich einfach unglaublich", sagt Gutsche. "Wer hätte je gedacht, dass das mal möglich sein würde? Ich hätte anfangs nicht mal daran gedacht, dass er überhaupt reitbar sein würde", gibt sie zu.

Dann steigt sie ab und lobt den Wallach mit einem dicken Knutscher auf seine Nase. "Du bist der beste Beweis, dass es sich lohnt, um jedes Leben zu kämpfen. Es ist eine Ehre, dich an meiner Seite haben zu dürfen", sagt Yvonne Gutsche.

Nach dem Ritt geht’s in den Offenstall. Amour lebt hier mit Yvonne Gutsches Stute Chex me, Pony Paulchen und Maultier Charly zusammen. "Eine richtig kleine Gang", lacht Gutsche. "Das klappt vom Sozialverhalten her wunderbar."

Ein bisschen wie Pipi und ihr kleiner Onkel
Während wir am Offenstall stehen, huscht Yvonne Gutsche kurz in ihre Sattelkammer. "Tadaa", sagt Yvonne Gutsche und zeigt uns das Cover ihres neuesten Buches, auf dem Amour auf einem Feld steht und Yvonne Gutsche mit einem Schirm in der Hand falsch herum auf seinem Rücken sitzt. "Das Buch heißt ,Sicher Reiten‘ und ich sitze falsch herum wie Pipi Langstrumpf auf dem Pferd", sagt Gutsche und lacht.

"Das können wir nicht bringen, hat damals der Verlag gesagt. Das wäre doch nicht sicher. Ich habe das mitunter etwas anders gesehen, denn Amour wurde nach dem von mir über viele, viele Jahre hinweg entwickelten Trainingssystem Sicher Reiten ausgebildet – und genau deswegen kann ich das jetzt mit ihm machen, ohne ein unnötiges Risiko für ihn, mich oder andere einzugehen." Und welcher Pferdebesitzer wünsche sich denn bitte nicht ein Pferd, das so sicher sei und dem man so vertrauen könne?, fragt Gutsche. "Mit diesem Argument wurde es dann doch noch abgesegnet und genehmigt."
Wir verabschieden uns von Amour. Es ist schön zu sehen, dass es ihm wieder richtig gut geht. "Ich freue mich so sehr für ihn. Er hat das sowas von verdient", sagt Yvonne Gutsche.
Wie aus Amour wieder ein gesundes Pferd wurde
Nur noch Haut und Knochen, müdes Gesicht und überall Wunden, so stand Amour zusammen mit fünf anderen Pferden im Dezember 2016 in einer dunklen, dreckigen Scheune im Main-Tauber-Kreis. Die Tiere fraßen ihren eigenen Kot. Fünf der Pferde waren in einem einigermaßen akzeptablen Zustand, Amour jedoch war völlig abgemagert und schwer dehydriert. Der damals Vierjährige brauchte sofort Hilfe. Yvonne Gutsche (www.yvonne-gutsche.de) kaufte die Pferde frei, brachte Amour in eine Klinik.
Gerade mal 300 Kilo wog der Wallach damals, 500 Kilo wären für ein Pferd dieser Größe normal gewesen. Der Zustand des Wallachs war laut Tierärztin lebensbedrohlich, und sie hatte noch nie zuvor ein Pferd in so einem schlechten Zustand in der Klinik gehabt. "Amours Überlebenschancen waren sehr gering, aber ich konnte ihn doch so nicht stehenlassen, geschweige denn ihn aufgeben. Ich musste ihm helfen", erinnert sich Yvonne Gutsche.
Rund sechs Wochen verbrachte Amour in der Klinik. Er war sehr schwach. Ein Hebekran half ihm beim Aufstehen, weil seine Muskeln dafür zu schwach waren. Mit kleinsten Spaziergängen und Futterportionen halfen ihm die Ärzte und Yvonne Gutsche ganz langsam auf die Beine. "Das war eine sehr schwierige Zeit", erinnert sich Gutsche. "Er reagierte mit Koliken aufs Anfüttern."
Nach vier Wochen Klinik-Aufenthalt dann ein erster Erfolg: Amour schaffte es, aus eigener Kraft aufzustehen. "Das war ein ganz toller Moment für uns alle", so Yvonne Gutsche. Bis dahin hatte die Behandlung rund 25.000 Euro verschlungen. Die Pferdetrainerin ging an die Öffentlichkeit und rief die Facebook-Seite "Pray for Amour" ins Leben. Dort berichtete sie über Amours Entwicklung und sammelte Spenden.
Zwei Wochen später konnte Amour in sein neues Zuhause, auf die Double Divide Ranch von Yvonne in Bad Wimpfen bei Heilbronn.
"Selbst alte, verwahrloste Pferde blühen oft wieder richtig auf"

Dr. Friederike Hänsch ist Amtstierärztin und stellvertretende Vorsitzende des Arbeitskreises Pferde der Tierärztlichen Vereinigung für Tierschutz, www.tierschutz-tvt.de
CAVALLO: Sie retten regelmäßig Pferde aus schlechtesten Haltungsbedingungen. Erholen sich viele Pferde so gut wie Amour?
Hänsch: Zunächst denkt man oft: "Oje, ob das je wieder wird?" Aber meiner Erfahrung nach erholen sich sehr viele Pferde wieder – selbst nach erheblicher Verwahrlosung. Die meisten Pferde können sogar wieder richtig aufblühen und kommen gut in Form, wenn sie einen Menschen haben, der sich richtig um sie kümmert, sie gut aufpäppelt, artgerecht hält und tierärztlich versorgen lässt.
Gibt es Langzeitschäden? Körperliche Probleme können natürlich Langzeitfolgen mit sich bringen, beispielsweise wenn ein Pferd über lange Zeit hinweg eine schlechte Hufpflege hatte. Die Fehlstellungen, die sich daraus entwickelt haben, kann man oft nicht komplett wieder zurückdrehen. Hier kann dann nur noch symptomatisch geholfen werden. Auch chronische Atemwegsprobleme, etwa wenn Pferde in schlecht belüfteten Scheunen gehalten wurden, können auftreten.
Gibt es Unterschiede zwischen jungen und älteren Pferden? Ja, grundsätzlich kann man sagen, je älter ein Pferd ist, desto schwieriger ist auch die Regenerationsfähigkeit.
Und was macht Verwahrlosung mit dem Pferdekopf? Depressionen gibt es auch bei Pferden, aber meiner Erfahrung nach geht es vielen Pferden wieder gut, sobald sie wieder adäquat gehalten werden. Das ist wirklich faszinierend. Pferde können uns Menschen ganz schön viel verzeihen. Sonderfälle gibt es dabei natürlich immer: Wir hatten mal einen Fall, bei dem ein altes Pony ganz lange allein gehalten wurde und dann wieder in einen Offenstall mit anderen Pferden durfte. Das Pony hat tatsächlich viele Wochen gebraucht, bis es sich umgestellt hatte. Anfangs wollte es nie vom Stall weg. Die Herde war auf der Weide, das Pony blieb am Stall. Dann kam der Tag, an dem es sich getraut hat, sich der Herde anzuschließen und mit rauszugehen. Das war so schön zu sehen!
Es ist toll, dass viele alte Pferde nochmals richtig aufblühen, wenn sie plötzlich wieder artgerecht gehalten werden. Es gibt aber auch Sonderfälle, bei denen man mit viel Fingerspitzengefühl vorgehen muss, um sie mit den neuen Haltungsbedingungen nicht zu überfordern.