Abreiten auf internationalen Springturnieren
„Erschreckend viele springen mit Schlaufzügeln“

Dr. Kirsten Tönnies ist Tierärztin mit eigener Praxis im hessischen Hattersheim. Sie ist Mitglied in der Tierärztlichen Vereinigung für Tierschutz (TVT), und war lange Zeit Mitglied bei Xenophon, der Gesellschaft für Erhalt und Förderung der klassischen Reitkultur. Mit CAVALLO beobachtete sie bereits 2012 das Abreiten beim Internationalen Pfingstturnier in Wiesbaden. Nun war sie auf mehreren Springturnieren für RTL unterwegs. Im Interview kritisiert sie scharf, dass dort mit Schlaufzügeln gesprungen wird.

Zusammengezogenes Pferd mit Schlaufzügeln
Foto: Tönnies
CAVALLO: Frau Tönnies, Sie waren in diesem Frühjahr auf einigen Springturnieren in Deutschland unterwegs – und haben dabei immer wieder Schlaufzügel im Einsatz gesehen. Was genau haben Sie beobachtet?

Dr. Kirsten Tönnies: Zum einen habe ich gesehen und fotografiert, wie Reiter ihren Pferden mit den Schlaufzügeln teils hemmungslos den Kopf bis an die Brust zogen. Außerdem sah ich das, was die FEI als "Low deep and round" bezeichnet, aber allgemein als Rollkur tituliert wird: also Abreiten in einer tiefen Kopf-Hals-Haltung mit der Stirnlinie hinter der Senkrechten. Eine Reiterin hat ihr Pferd 18 Minuten in ununterbrochener Rollkur geritten. Ich hatte es dokumentiert, kein Aufsichtspersonal schritt ein. Ich wandte mich an das Turnierbüro, das mich wiederum an den Chefsteward des Abreiteplatzes verwies. Der weigerte sich, sich mit dem Sachverhalt überhaupt zu befassen. Meine Meldung wies er als falsch zurück, mit der Begründung: "Die Springreiter wollen, dass ihre Pferde den Kopf hoch halten, damit sie über die Balken kommen." Seinen Namen wollte er mir nicht sagen. Neben der Rollkur konnte ich "Riegeln" beobachten, also das Ziehen des Pferdekopfes im schnellen Wechsel von rechts nach links. Und: Erschreckend viele Reiter gingen auf dem Abreiteplatz der Turniere sogar mit Schlaufzügeln über die Sprünge.

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Laut Leistungs-Prüfungs-Ordnung (LPO) der FN ist Springen mit Schlaufzügeln verboten.

Ja. Doch es gibt eine Krux. Beobachtet habe ich das Springen mit Schlaufzügeln beim Abreiten für international ausgeschriebene Prüfungen, für die das Regelwerk der Internationalen Reiterlichen Vereinigung FEI gilt. Das hält sich in diesem Punkt bedeckt und verbietet Schlaufzügel nur in der Wettkampfarena. Festgelegt ist allerdings, dass das Wohl des Pferds jederzeit oberste Priorität haben muss. Was das bedeutet, ist Auslegungssache. Meiner Meinung nach schließt es das Springen mit Schlaufzügeln bereits aus. Und offenbar vertritt auch die FN die Auffassung, dass Springen mit Schlaufzügeln nicht akzeptabel ist; sie hat den Einsatz dieser Hilfszügel über dem Sprung in ihrem eigenen Regelwerk schließlich untersagt. Dennoch kann man auf deutschen Abreiteplätzen mit Schlaufzügeln offenbar unbehelligt springen – wenn man in einer international ausgeschriebenen Prüfung startet. Die FN schob die Verantwortung dafür auf meine telefonische Anfrage auf die FEI und deren Regeln ab. Ich finde, der nationale Verband müsste hier seine Sichtweise klar benennen und für Turniere, die in Deutschland stattfinden, durchsetzen. Auch über die FEI-Stewards, die in Deutschland nur auf Vorschlag der FN-Landeskommissionen diese Laufbahn einschlagen können. Ein von mir auf das Springen mit Schlaufzügeln angesprochener Steward schob die Verantwortung auf die Amtstierärzte ab; die stehen aber nicht am Abreiteplatz und nicht jeder Amtstierarzt kennt sich in Details des Reitsports aus. Anscheinend wird genau darauf spekuliert. Leider wagt sich bislang kein zuständiges Veterinäramt an die Sache ran. Auch in Wiesbaden hat man Anzeigen nicht ordentlich bearbeitet. Man will solche großen Veranstaltungen nicht stören, da geht es um Geld und Sponsoren. Dieses Prinzip der Verschiebung von Verantwortung funktioniert seit Jahrzehnten aus Sicht der Nutznießer hervorragend. Und die Leiden der Pferde werden ignoriert oder schöngeredet.

Das Thema Rollkur-Reiten im Springsport ist nicht neu. Was versprechen sich die Reiter davon?

Das Ziel ist natürlich, fehlerfrei durch den Parcours zu kommen. Dazu streben die Reiter die totale Kontrolle über das Pferd an, um Richtung und Geschwindigkeit ganz genau zu bestimmen. Man denkt, das funktioniert über den Zügel und darüber, dass der Kopf unten ist. Hinzu kommt, dass die Wahrnehmung in dieser Haltung eingeschränkt ist, es gibt weniger Ablenkung. Der Gedanke ist: Wenn wir die Kontrolle über den Kopf haben, haben wir die übers Pferd.

Was ist besonders schlimm daran, mit Schlaufzügeln zu springen?

Generelle Folgen der Rollkur sind Verspannungen in Hals und Rücken und damit in der gesamten Muskulatur. Weil die Muskeln überfordert sind, kommt es zu einer sehr schnellen Laktatanreicherung, außerdem werden in dauerhafter Rollkur-Haltung die Muskeln, Sehnen, Bänder und Faszien im Rücken überdehnt.

Beim Springen kommt hinzu, dass das Pferd in der Dehnungsphase über dem Sprung Kopf und Hals als Balancierstange nutzt. Mit Schlaufzügeln kann dieses Ausbalancieren stark eingeschränkt sein, wenn der Reiter nicht nachgibt. Springen bedeutet ohnehin eine hohe körperliche Belastung. Beim Landen muss das Pferd mit einem Vorderbein das ganze Gewicht abfangen. Ist es beim Sprung verkrampft, spannt es falsche Muskeln an, was zu falscher Belastung der Gelenke und schnellerem Verschleiß führt. Es gibt mehr Mikroverletzungen, die im Nachhinein Muskelkater verursachen. Wird das Pferd vor oder über dem Sprung durch Schlaufzügel gestört, bedeutet das also akutes Leiden und Schmerzen und Leiden im Nachhinein durch Verschleiß.

Sie sprachen von der totalen Kontrolle des Pferds. Dazu sind Ihnen weitere "Hilfsmittel" aufgefallen.

Ja, einige Reiter versuchen, die visuellen Reize fürs Pferd noch über die enge Kopf-Hals-Haltung hinaus zu beschränken, um so mehr Fokussierung auf den Reiter zu erreichen. Gesehen habe ich Masken mit halbrund geformten Scheuklappen sowie Masken mit Mesh-Gewebe über den Augen. Das Argument der Reiter ist zum Teil: Ich muss vorne dann nicht so viel gegenhalten am Gebiss. Doch das kann nicht der Weg sein. Das Sichtfeld so einzuschränken ist Manipulation, die Fokussierung auf Hindernis und Reiter wird erzwungen.

Es tut einem als Pferdefreund einfach nur leid, die gestressten Tiere in ihrer Hilflosigkeit ansehen zu müssen. Viele begeisterte Pferdemenschen schauen sich das nicht an, weil sie das Leid der Pferde nicht sehen können. Ein Funktionär des Wiesbadener Pfingstturniers sagte zu mir: "Abreiteplatz Springen? Das tu ich mir nicht an."

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6 / 20253

Erscheinungsdatum 17.05.2023