Schaden oder Nutzen?
6 Irrtümer über die Dehnungshaltung

Dehnen ja oder nein? Die Dehnungshaltung entfacht heiße Diskussionen. Unsere Experten für Pferdeausbildung und Biomechanik widerlegen die Argumente der Dehnungs-Gegner. Ein Plädoyer für die Dehnungshaltung.

Pferd in Dehnung Lisa Rädlein
Foto: Lisa Rädlein

Kaum etwas wird in der Reiterszene gerade so heiß diskutiert wie die Dehnungshaltung. Die aktuell vehementesten Gegner sind Reitausbilder Manuel Jorge de Oliveira und seine Schüler. Die Dehnungshaltung gehört zu den schlimmsten Dingen, die der Reiter seinem Pferd antun kann, ist aus den „Oliveira Stables“ im bayerischen Waal, der Wirkungsstätte des „einzigartigen Meisters“, wie ihn seine Anhänger nennen, zu hören.

Kompletten Artikel kaufen
Richtig Dehnen
Warum Dehnen Pferden gut tut
Sie erhalten den kompletten Artikel (18 Seiten) als PDF
2,49 € | Jetzt kaufen

Dort entstand auch das Filmmaterial für die unlängst erschienene DVD „Der Jahrhundertirrtum Vorwärts-Abwärts“ (erschienen bei Kosmos, Edition WuWei 2019). 143 Minuten lang ist der Zusammenschnitt eines Vortrags über Biomechanik und einer Konferenz zum Thema Vorwärts-Abwärts.

Während die Tierärztin Dr. Birgit Schock biomechanische Zusammenhänge erklärt, tritt der ehemalige Reining-Reiter Richard Vizethum als Experte für historische Reitlehren auf. Sie behaupten: Weder die Historie noch die Biomechanik erlauben den Schluss, dass das Vorwärts-Abwärts zu irgendeiner Zeit gewollt war und gutgeheißen wurde. Wir haben die wichtigsten Thesen der beiden für Sie zusammengefasst. Pferdeausbilder, Biomechanik-Experten und unser Besuch bei den Oliveira Stables widerlegen alle Argumente. Fragt sich also, wer hier einem Irrtum aufliegt.

Dehnungshaltung
Lisa Raedlein
Ausbilderin Christine Hlauscheck schwört auf die Dehnungshaltung gerade deshalb, weil sie vielen Pferden hilft, wieder fit gesund zu werden.

Irrtum #1: Es gibt keinen historischen Beleg für
 die Dehnungshaltung

(Pferdeausbilder Richard Vizethum: „Weder in den Reitlehren vor der H.Dv.12 noch in der H.Dv.12 gibt es eine Anleitung für das Reiten in Dehnungs­haltung. Nach den Alten Meistern muss das Pferd aufgerichtet werden, sobald es an das Reitergewicht gewöhnt ist.“)

Knut Krüger: „In der H.Dv.12 von 1912 ist das Reiten in die Tiefe sehr wohl beschrieben. Oft behaupten Ausbilder, dass es in der Reitlehre keine Belege für bestimmte Dinge wie zum Beispiel das Zügel aus der Hand kauen lassen gibt. Einerseits sollten wir vorsichtig sein, etwas zu verändern, das sich bewährt hat. Andererseits ist es wenig hilfreich, an einem alten Wissenstand festzuhalten.

Beispiel H.Dv.: Sie wurde bis 1937 dreimal überarbeitet. Danach wurde sie nicht fortgeschrieben, aber verändert. Das ist nur mündlich überliefert durch etwa Kurd Albrecht von Ziegner und Paul Stecken. Wahrscheinlich wäre die tiefere Dehnungshaltung und das tiefe Zügel aus der Hand kauen lassen in eine spätere Fassung aufgenommen worden – fast alle Kavalleristen lehrten das Zügel-aus-der-Hand-kauen-lassen bis auf die Schnalle.

Nach der Kavallerie-Zeit wurde die Zucht umgestellt, sodass wir heute andere Pferde vorfinden als damals. Da wundert es nicht, dass es etwa bei der Anlehnung Schwierigkeiten gibt, wenn die Regeln der H.Dv.12 von 1937 eins zu eins übernommen werden. Im Übrigen wurde die H.Dv.12 für Kriegszwecke abgefasst – kaum werden neben unseren Pferden heute noch Granaten einschlagen. Aus beiden Gründen halte ich es für sinnvoll zu überdenken, ob die Selbsthaltung in Verbindung mit der damals geforderten straffen Zügelführung noch durchführbar und zeitgemäß ist.

Wer einzelne Punkte aus einem Reitsystem bzw. einer Reitlehre herauspickt (etwa nur in Aufrichtung reiten ohne mehrmonatige vorausgehende Arbeit am Boden), entwirft damit oft ein verzerrtes Bild eines an sich schlüssigen Ausbildungssystems. Und wer (nur) die Alten Meister zitiert, müsste viel darüber wissen, was damals als selbstverständlich vorausgesetzt wurde.“

Irrtum #2: Dehnungshaltung ist permanenter Stress fürs Pferd

(Richard Vizethum: „Die Dehnungshaltung bringt das Pferd aus dem Gleichgewicht. Deshalb ist sie für das Pferd sowohl eine psychische als auch eine physische Belastung und weder lösend noch entspannend.“)

Beatrix Schulte Wien: „Ich empfehle dringend die Literatur: “Der Reiter formt das Pferd„ der beiden Tierärzte Prof. Zietzschmann und Dr. Udo Bürger oder das “Gymnasium des Pferdes„ von Gustav Steinbrecht, der nicht nur die Reitlehre beherrscht, sondern auch Veterinärmedizin studiert hat.“

Klaus Schöneich: „Die Dehnungshaltung ist die tiefste Beruhigung für ein Pferd, denn das ist der Ausdruck dafür, dass sich 
das Pferd im Schwerpunkt befindet. Erfahrungsgemäß beginnen unsere Therapiepferde nach drei bis vier Tagen zu entspannen, weil wir sie genau über diese Haltung ins Gleichgewicht bringen.“

Sabine Ellinger: „Von Natur aus und ohne Einwirkung von außen, lässt das Pferd seinen Hals fallen, wenn es entspannt ist. Kopf und Hals in auf­ gerichteter Position nimmt das Pferd im Fluchtmodus ein. Ent­spannung ist kein Arbeitsmodus, sondern zuerst Zwanglosigkeit, aus der durch die reiterliche Einwirkung Losgelassenheit entsteht. Losgelassen ist nicht gleich entspannt, aber definitiv kein Stress. Im Gegenteil: Wenn ein Pferd in Stress gerät, dann durch falsch verstandene Versammlung. Sobald es den Hals fallen lassen kann, lässt es auch wieder los.“

Christine Hlauscheck: „Für mich sehen Pferde, die über den aufgewölbten Rücken mit langem, tiefen Hals an die Hand herantreten, ausgesprochen zufrieden aus.“

Dr. Britta Schöffmann: „Eine korrekte Dehnungshaltung nimmt ein richtig gerittenes Pferd von selbst ein. Das ist Folge der angeborenen Dehnungs­bereitschaft (die höchstens durch falsches Reiten gestört wird). Stress wäre es nur, wenn der Reiter versucht, das Pferd durch Zwangsmaßnahmen tief einzustellen.“

Irrtum #3: In der Dehnungshaltung wird der ganze Schwung der Hinterbeine von der Vorhand aufgefangen

(Dr. Birgit Schock: „Vorderbeine, Schultergürtel und Brust­muskulatur müssen die Bewegungsenergie abfangen. Die Überlastung kann zu Sehnenschäden an den Vorderglied­ maßen und Trageerschöpfung führen. Durch die Belastung der Schulter wird
die Bewegung der Vorderbeine blockiert.“)

Beatrix Schulte Wien: „Es gibt zwar auf die Vorhand gerittene Pferde und das ist falsch, aber bei der korrekten Dehnungshaltung dehnt sich das Pferd über seinen Gleichgewichts­ punkt, der im Bereich der 12. Rippe liegt. Bei dieser Zentrierung kommt das Pferd gerade nicht vermehrt auf die Vorhand.“

Sabine Ellinger: „Vorwärts-abwärts
ist keine entspannte Bummel-Haltung, sondern eine Trainingsposition. Pferde, die lediglich den Hals passiv absenken und dann gemütlich joggen, gehen nicht in einer korrekten Vorwärts-abwärts-Position.
 Sie laufen tatsächlich
auf der Vorhand.“

Irrtum #4: Ein Pferderücken kann nicht schwingen

(Richard Vizethum: „Alle wollen, dass die Pferde im Rücken schwingen. Doch der Mittelteil des Pferderückens ist unbeweglich. Was der Reiter als Schwingen wahrnimmt, ist keine Auf- und Abwärtsbewegung, sondern ein seitliches Pendeln des Rumpfs.“)

Beatrix Schulte Wien: „Selbstverständlich kann
 der Pferderücken schwingen. Es ist Unsinn, dass der Mittelteil des Pferderückens unbeweglich ist. Alleine
 der Pferderücken verfügt über mehr als 180 Gelenke. Wofür sind Gelenke wohl
 da? Ganz bestimmt nicht 
für Unbeweglichkeit.
 Die Bewegung im Raum erfolgt dreidimensional
 und ist gerade nicht nur 
ein seitliches Pendeln.“

Irrtum #5: Auf keinen Fall darf das Pferd beim Reiten seinen Hals tiefer tragen als in seiner natürlichen Position

(Richard Vizethum: „Die tiefe Kopfhaltung ist niemals eine Arbeitshaltung und auch keine natürliche Haltung, die das Pferd in der Bewegung von sich aus einnimmt. Wenn die Alten Meister vom Arbeiten in der Tiefe schreiben, ist damit die natürliche Haltung des Pferds gemeint. Das ist die Haltung, in der sich das Pferd im Trab oder im Galopp auf der Weide bewegt.“

Dr. Birgit Schock: „Nur in dieser Haltung bewegt es sich im Gleichgewicht und kann seinen Hals als Balancierstange gebrauchen.“)

Klaus Schöneich: „Als Reiter müssen wir die Biomechanik des Fluchttiers in die Biomechanik eines Athleten verwandeln. Jedes Pferd ist von Natur aus zu einer Seite händig oder dominant, also schief. Als Flucht- und Steppentier schadet das dem Pferd nicht. Doch unter dem Sattel können wir es nur gesund halten, wenn wir es geraderichten. Nur das geradegerichtete Pferd kann die Tragkraft in die Schubkraft umwandeln, die dann von der Schulter zum äußeren Hinterbein diagonal wirken kann.

Der lange Muskel (M. longissimus) ist dann nicht mehr dreigeteilt in Kopf-Nacken- und Rückenteil, sondern arbeitet als Einheit, wie ein gespannter Bogen. Eine aktive Hinterhand führt über die Hankenbeugung automatisch zu einer Dehnungshaltung: Der Rücken wölbt sich auf und der Brustkorb wird angehoben. Im Prinzip ist auch die Versammlung eine Dehnungshaltung. Den Grad der Aufrichtung bestimmt, wie stark das Pferd seine Hanken beugen kann. Die Biomechanik des Athleten ist absolut nicht widernatürlich. Ein Hengst, der seine Stuten umkreist, nimmt von sich aus eine perfekte Dehnungshaltung ein: Er tritt weit unter, wölbt die Oberlinie und trägt dabei den Hals tief und die Nase vorne. Und übrigens: Ein Pferd, das mit seinem Hals steuert, läuft auf der Vorhand.“

Dr. Daniela Danckert: „Das Pferd ist nicht als Tragtier geboren. In natürlicher Haltung wird der Brustkorb zunächst absinken, wenn ein Reiter regelmäßig darauf Platz nimmt. Um das zu verhindern, muss die rumpftragende Muskulatur trainiert werden. Dabei sollten alle Muskeln arbeiten, die als Rumpfträger wirken können, vor allem der Halsteil des Muskels Serratus Ventralis Cervicis (SVC), der optisch die Halsbasis füllt. Um den SVC als Rumpfträger zu nutzen, muss das Pferd seinen Hals tief und lang tragen. Kommt das Genick zu hoch, wirkt der SVC gegenteilig: Der cervikothorakale Übergang von der Schulter zum Hals wird gestreckt und der Rumpf sinkt ab.

Vor allem zu Beginn der Ausbildung muss der SVC als Träger arbeiten. Und zwar so lange, bis die anderen Rumpfträger kräftig genug sind, um zu verhindern, dass der Rücken absinkt, auch wenn das Genick höher getragen wird. Das sollte etwa nach einem Jahr der Fall sein. Im zweiten Jahr wäre die Arbeitshaltung mit beginnender Schwungentwicklung möglich und im dritten Jahr beginnende Versammlung, die sich in den folgenden Jahren bis zur maximalen Aufrichtung bei aktiv getragenem Rücken steigern lässt.“

Beatrix Schulte Wien: „In der klassischen Reitlehre steht, dass sich die Stirn-Nasenlinie des Pferds vor und nicht hinter der Senkrechten befinden soll. Das Pferd trägt sich, wenn das Maul etwa auf Höhe des Buggelenks (Schultergelenk) ist. Im Übrigen kann jedes Tier und jeder Mensch in unterschiedlichen Haltungen im Gleichgewicht sein. Wenn ich auf einem Bein stehe, kann ich genauso gut im Gleichgewicht sein wie in der Hocke.“

Knut Krüger: „Vizethum geht von einer natürlichen Haltung aus, übersieht aber, dass ein auf dem Pferd sitzender Reiter unnatürlich ist. Dass das Pferd den Hals nicht tiefer als auf Buggelenkshöhe nehmen darf, weil diese Haltung nicht natürlich ist, widerlegen beispielsweise Hengste, die ihre Stuten treiben. Wie soll man verhindern, dass das Pferd tiefer
geht? Mit der Hand? Im schlimmsten Fall muss man mit der Position der Maulspalte auf Höhe des Fesselgelenks anfangen. Das ist ja nicht das Ziel.


Aber: Ohne die Hinterhand zu aktivieren und zu kräftigen, bleibt nur die absolute Aufrichtung – also eine Aufrichtung,
die mit der Hand erzwungen wird. Da 
ist die Entscheidung zugunsten der Hinterhand wohl eindeutig. Die Dehnungshaltung wird zudem in keiner Reitlehre in der Arbeitsphase gefordert. Dazu gibt es
 die Arbeitshaltung. Dehnungshaltung 
und Zügel-aus-der-Hand-kauen-lassen
 sind gymnastizierende und lösende Elemente; nicht zu verwechseln mit einer erzwungenen tiefen Kopfhaltung.

Wenn Frau Dr. Schock meint, dass das Pferd den langen und tiefen Hals nicht als Balancierstange gebrauchen kann, so hat sie eventuell eine falsche Vorstellung von dieser Übung. Viele Reiter haben dabei zu viel Zügelkontakt und verhindern das Ausbalancieren. Von einem Fehler darauf zu schließen, dass die Pferde dabei aus dem Gleichgewicht kommen, zeugt von wenig reiterlicher Sachkunde.“

Irrtum #6: In der Dehnungshaltung werden keine Muskeln trainiert

(Richard Vizethum: „Rückenmuskulatur wird ausschließlich in den Seitengängen trainiert. In der Dehnungshaltung werden keine Muskeln trainiert, sondern sogar abgebaut.“)

Sabine Ellinger: „Wir bauen Reha- und Ausbildungspferde am Anfang vorwiegend in Dehnungshaltung auf. Der Reiz auf die Rumpfträger ist in der Vorwärts-abwärts-Position am größten und die Muskulatur baut sehr schnell auf. In einer falschen Dehnungshaltung, bei der das Tempo untertourig ist und die Hinterbeine nicht heranschließen, ist das nicht der Fall. Dadurch könnte der Eindruck entstehen, dass in der Dehnungshaltung keine Muskulatur aufgebaut werden kann.“

Christine Hlauscheck: „Diese Aussage halte ich für schlichtweg falsch und ich kann, dank meiner Erfahrungen der letzten 20 Jahre, unzählige Gegenbeweise antreten. Unter anderem das Beispiel einer Stute, die viele Jahre eben nicht in Dehnungshaltung geritten wurde. Das Ergebnis war eine massive Trageerschöpfung und daraus resultierende Kissing Spines. Ein kompletter Neustart, von einer sehr tiefen Dehnungshaltung über die Dehnungshaltung in Selbsthaltung bis hin zu beginnender Versammlung, brachte hier die messbare Wende. Durch die deutlich verbesserte muskuläre Situation und den nun angehobenen Rumpf hat das Pferd vier Zentimeter an Stockmaß zugelegt.“

Beatrix Schulte Wien: „Jeder Physiotherapeut, Sporttherapeut und Sportlehrer lernt die Grundlagen des exzentrischen und konzentrischen Muskeltrainings. Beim exzentrischen Muskeltraining wird der Muskel gedehnt und muss in seiner Dehnung Arbeit leisten. Das ist das denkbar intensivste Muskeltraining.“

Dr. Britta Schöffmann: „Wenn ich mir die vielen im Hohlkreuz dahinschlurfenden Pferde von Followern selbsternannter Gurus anschaue, dann sehe ich da keine Rückenmuskulatur. Ein alter Leitsatz besagt: Bewegung steht vor Form! Erst muss das Pferd in allen Gangarten seine Bewegungen fließen lassen können und dabei eine stabile Ober- und Unterlinie entwickeln, bevor der Reiter seine Form verändern kann. Denn dies erfordert eine Beugekraft der Hanken, die ein junges Pferd unter dem Reiter noch nicht hat.“

Die Dehnungshaltung aus verschiedenen Blickwinkeln

Ecole de Légèreté (Gunnar Wieder): „Auch für die Reiterei gilt: Alles, was extrem ist, ist nicht gut. Nur in Dehnunghaltung zu reiten, ist genauso wenig sinnvoll wie nur in Aufrichtung zu reiten. Unumstritten ist, dass Muskelaufbau
 über wechselseitiges Anspannen und Ent­spannen funktioniert. So sollten wir auch unsere Pferde trainieren: Ihnen immer wieder die Möglichkeit geben, sich nach einer anstrengenden Lektion zu strecken und zu dehnen.“

Klassische Reitkunst (Anja Beran): „Ich reite meine Pferde nicht mit tiefem Hals in Dehnungshaltung, mache jedoch viele Pausen am hingege­benen Zügel. Wenn ein Pferd dann den Kopf hochreißt oder wegrennt, war die Arbeit vorher nicht gut. Dies ist also zum einen ein Test für mich und zum anderen Pause und Belohnung fürs Pferd. Wichtig ist mir, dass die Pferde sich immer wieder im Hals lang machen dürfen. Das mache ich vornehmlich im Schritt, mit einigen wenigen Pferden auch mal im Trab. Das Ziel der Ausbildung ist ein Pferd, das ohne Handeinwirkung in Selbsthaltung geht. Dafür muss es jahrelang gymnastiziert werden. Es kann sich erst dann selbst tragen, wenn es kräftig genug ist, seine Hanken zu beugen. Bis das Pferd von der Remontenhaltung, wie in der H.Dv.12 beschrieben, zur Selbsthaltung kommt, dauert es mindestens sechs Jahre.“


Aus dem klassischen deutschen Ausbildungsstem nach den den Richtlinien der FN (Dr. Britta Schöffmann): „Dehnung ist kein Zustand, sondern ein Vorgang. Es geht nicht darum, dass sich ein Pferd in der Dehnung nach unten AUF die Hand legt, sondern dass es nach vorwärts­abwärts AN die Hand herantritt. Das Dehnen (bzw. die Dehnungsbereit­ schaft) ist kein Ausbildungsziel, sondern eines von vielen Puzzleteilen im Gesamt­ konzept Ausbildung. Das Ziel ist, das Pferd über die Jahre systematisch ins Vorwärts­Aufwärts zu kräftigen, sprich in die Versammlung. Zum Lösen und Ent­spannen ist aber auch hier das vorüber­ gehende Entlassen in die Dehnung (Reiten in wechselnden Kopf­Hals­ Einstellungen) ein wichtiger Baustein.“

Unsere Ansicht: Reitkunst sieht anders aus

Manuel Jorge de Oliveira lehnt die Dehnungshaltung ab, hält sie sogar für schädlich – und will stattdessen wahre Reitkunst zeigen. Redakteurin Nadine Szymanski hatte davon in den Oliveira Stables einen ganz anderen Eindruck.

Die Eintrittskarte klingt vielversprechend: „Veranstaltungen auf höchstem Niveau“ steht darauf. Isabella Sonntag kontrolliert mein Ticket. Sie ist Verfechterin von Manuel Jorge de Oliveira, der „wie kein anderer noch lebender Écuyer für Erfahrung auf und mit Pferden steht“ (aus seinem Lehrbuch „Vertikal 1“).

Die Stuhlreihe an der kurzen Seite der Reithalle ist noch leer. Erst kurz vor Beginn trudeln ein paar Zuschauer ein. Die meisten gehören offenbar zu den Oliveira Stables. Nun startet der Turniernachmittag der fortgeschrittenen Gruppe drei im dritten Ausbildungsjahr der „Escola de Equitao“; eine dreijährige Ausbildung bei Oliveira, die pro Jahr 30 Tage Fortbildung umfasst. Diese Reiter können mir bestimmt die einzig wahre Reitkunst zeigen, die Manuel Jorge de Oliveira lehren will. Die, die ich nicht verstehe.

Durchhängender Rücken und viel Unterhals

Denn auf Facebook habe ich schon einige Videos vom Reiten in den Oliveira Stables gesehen. Eines davon hat mich besonders entsetzt: Abteilungsreiten, bei dem Pferde mit durchhängenden Rücken und hervortretenden Unterhälsen von einem Seitengang in den nächsten geworfen werden. Anderen ging es genauso, denn es hagelte Hunderte empörte Kommentare. Manche waren so nett und fragten nach, was die Art zu reiten, die dort gezeigt wird, bezwecken soll. „Bella Domingo“, hinter der Frau Sonntag steckt, antwortet immer, dass die Fragenden noch nicht so weit seien, das, was sie sehen, zu begreifen. Man müsse sich das einfach mal live anschauen.

Gut, jetzt bin ich ja hier. Und mich schaudert’s schon. Nicht nur, weil es affenkalt in der Reithalle ist. Lusitano-Wallach Estrondo (10), Schulpferd der Oliveira Stables, wurde eben angekündigt als „speziell“. Er stoppt, schlägt aus, reißt den Kopf hoch und seine Ohren sind wie festgeklebt nach hinten geklappt. Die Zuschauer lachen. Über ihn? Während die Reiterin den Wallach während ihrer etwa 20-minütigen Prüfung auf Oliveiras Kommandos kreuz und quer durchs abgesteckte Mini-Viereck reitet (mir kommt der Begriff „schleudern“ in den Sinn), bereitet die nächste Reiterin ihr Pferd vor.

In der Prüfung lässt der sechsjährige Lusitano in manchen Momenten erahnen, was für ein tolles Pferd er ist. Doch er findet nicht den Kontakt zum Zügel in der Tiefe, den er sucht. Der Kopf muss ja oben bleiben. Und es geht gerade so weiter. Ein Pferd nach dem anderen wirkt unglücklich, schlägt mit Kopf oder Schweif, drückt den Rücken weg und den Unterhals heraus, zeigt Taktfehler in extrem kurzen flachen Gängen und kommt bei Paraden auf die Vorhand ins Straucheln.

Ob diese Pferde am Boden korrekt darauf vorbereitet wurden, was sie unter dem Sattel leisten müssen? Warum werden für diese Prüfung auch Pferde gesattelt, die erst seit Kurzem hier oder blutjung sind? Wieso machen die Tiere, die schon länger in den Oliveira Stables sind, einen schlechteren Eindruck als die, die erst vor ein paar Monaten herkamen? Das spricht nicht für eine positive Entwicklung. Und nicht für eine korrekte Ausbildung. Reitkunst sieht anders aus.

Die aktuelle Ausgabe
6 / 20253

Erscheinungsdatum 17.05.2023