Wie der Herr, so’s Gescherr: So sagt man, wenn beispielsweise Hund und Hundebesitzer erstaunliche optische Ähnlichkeiten aufweisen, aber auch charakterliche Parallelen haben. Auch bei Pferden und ihren Besitzern können wir häufig beobachten, dass vor Energie strotzende Reiter entsprechende Power-Pakete unterm Hintern haben und ruhige Menschen auf tiefenentspannten Pferden sitzen. Interessant wird die Geschichte, wenn solch unterschiedliche Typen ihre Pferde tauschen. Denn unser individueller Muskeltonus bestimmt, ob wir mit viel Spannung oder wenig Spannung durchs Leben gehen – und damit auch, wie wir mit Pferden umgehen und im Sattel sitzen.

CAVALLO-Redakteurin Nadine Szymanski kennt das Phänomen. "Ich laufe eher auf niedrigem Energielevel und habe nicht viel Körperspannung", weiß sie. "Mein eigenes Pferd ist ähnlich gestrickt und lieber lockerflockig als kraftvoll unterwegs." Als sie mal ein paar Tage nicht da war, versorgte eine Stallkollegin ihren Wallach – und die berichtete, dass der beim Longieren sofort angaloppiert sei. So kennt Nadine Szymanski ihr Pferd nicht. Umgekehrt fällt der Redakteurin auf, dass die temperamentvolle Stute ihrer Stallkollegin in ihren Händen ziemlich gemütlich unterwegs ist. "Viele Pferde kommen bei mir schnell runter. Aber dynamischer werden sie selten, wenn ich das möchte", gesteht sie.
Human-Physiotherapeutin und DIPO-Pferdeosteopathin Hanne Kattler kennt die Auswirkungen eines hohen oder niedrigen Muskeltonus bei Reitern. Gemeinsam mit ihr wollen wir herausfinden, wie sich dieser in ihrem Sitz niederschlägt und mit welchen Tipps und Übungen sie dadurch bedingte "Baustellen" und Probleme angehen können. Im CAVALLO-Experiment steigen verschiedene Reiter-Typen auf ihre Pferde – und Nadine Szymanski nimmt mit einem fremden Pferd teil. Mehr zu unserem Reiter-Check lesen Sie in den separaten Abschnitten.
Wie Menschen mit unterschiedlichem Energielevel wirken, kann jeder sich mit folgender Fragestellung aus dem Alltag bildlich vor Augen führen: "Bevor ich mit Reitern arbeite, frage ich gerne, wie viel Platz sie um sich herum haben, wenn sie mit dem Einkaufswagen an der Kasse stehen", erzählt Rebekka Pertenbreiter, die pferdegestütztes Lernen in Coachings für Reiter und Nichtreiter anbietet. Die Antworten seien meistens ziemlich eindeutig: Entweder haben die Menschen häufig den Einkaufswagen anderer in den Hacken, werden in der Schlange weggedrängelt – oder sie haben überhaupt kein Problem.
Dieses Beispiel verdeutlicht, dass nicht nur Pferde feine Antennen für die Grundspannung eines Menschen haben. Auch wir Menschen registrieren im sozialen Miteinander durchaus, wer viel oder wenig Energie ausstrahlt – und reagieren entsprechend darauf.
Ruhige Typen müssen ihren Körper aktiver einsetzen als Energiebündel
Wer eine hohe Grundspannung hat, hat in der Regel kein Problem, seinen Raum gegenüber anderen zu behaupten. Menschen mit niedriger Grundspannung dagegen werden kaum wahrgenommen. "In der Interaktion mit dem Pferd zeigen sich schon am Boden Parallelen: Den menschlichen Energiebündeln lassen Pferde den Vortritt oder sie weichen ihnen aus. Zweibeiner, die in ihrer Energie verhalten oder gebremst sind, müssen ihre Körperaktivität bewusst einsetzen, um vom Pferd besser wahrgenommen zu werden", erklärt Rebekka Pertenbreiter.
"Jeder Mensch hat einen individuellen Muskeltonus", weiß auch Isabella Caravetta aus ihrer Tätigkeit als Human-Physiotherapeutin. Wie hoch oder niedrig die persönliche Grundspannung im Körper ist, hängt von verschiedenen Faktoren ab:
Der hochtonige Typ: "Gespannter Flitzebogen"
Wie sitzen hochtonige Reiter-Typen im Sattel? Typische Hochtoner sind Energiebündel mit hoher Grundspannung im Körper.

> Sie neigen dazu, im Hohlkreuz zu sitzen und kommen teilweise in einen stoßenden Sitz mit zurückgeneigtem Oberkörper.
> Nackenpartie, Schultern, Arme und Handgelenke sind eher starr und angespannt.
> Da die Mobilität im Becken fehlt, fällt es diesen Typen schwer, tief im Sattel einzusitzen. Sie sitzen vermehrt auf den Oberschenkeln als auf den Sitzbeinhöckern und können schlecht in der Bewegung mitschwingen.
> Die Schenkel machen zu viel Druck. Das Durchfedern der Absätze im Steigbügel ist kaum möglich.
Wie wirkt sich der hohe Mukeltonus auf das Pferd aus?
Eine hohe Körperspannung und ein hohes Energielevel können sich negativ aufs Pferd übertragen:
> Das Pferd geht eher eng und "stellt sich oben hin". Eine korrekte Anlehnung ist schwierig, da die Zügelverbindung oft starr ist und blockierend wirkt. Das Pferd geht tendenziell hinter dem Zügel, dehnt sich schwer an die Hand heran und möchte den Hals nicht fallen lassen.
> Es fällt dem Pferd schwer, sich loszulassen. Es bleibt fest im Rücken oder drückt den Rücken weg. Seine Tritte sind kurz oder spannig oder es eilt davon.
Der niedrigtonige Typ: "Schlaffi" mit wenig Körperspannung
Wie sitzen niedrigtonige Reiter-Typen im Sattel? Reiter mit niedrigem Muskeltonus sind typischerweise Energiesparer und haben wenig Grundspannung im Körper. Sie neigen zu folgenden Sitzfehlern:
> Niedrigtonige Reiter sitzen häufig nicht aufrecht, der Rücken ist rund und nach vorne gebeugt. Die Schultern fallen nach vorne. Weil die Muskeln zu langsam reagieren, bleiben sie im Sattel hinter der Bewegung.
> Weil ihr Rumpf wenig Stabilität hat, sind Hände, Schenkel und Oberkörper unruhig. Korrektes Treiben und die diagonale Hilfengebung fallen deshalb schwer.
> Sie haben Probleme, eine konstante Zügelverbindung zu halten, drücken die Arme herunter. Die Zügel schlackern. Die Fäuste sind offen, eingedreht oder verdeckt.
Wie wirkt sich das aufs Pferd aus? Wer zu entspannt im Sattel sitzt, hat meistens auch ein zu gechilltes Pferd:
> Das Pferd kann kaum positive Spannung aufbauen. Es geht vorhandlastig und neigt dazu, auf der Hand zu liegen.
> Die Bewegung fließt nicht von hinten nach vorne in die Hand. Es fällt dem Pferd schwer, den Rücken aufzuwölben. Seine Hinterhand ist schleppend und wenig aktiv oder schaufelt nach hinten heraus.
> Das Grundtempo ist niedrig und schwunglos. Das Pferd wird tendenziell langsamer oder fällt aus. Es lässt sich schwer treiben und motivieren.
Der Misch-Typ mit kleinen Baustellen
Wie sitzen Reiter, die weder einen sehr hohen noch einen sehr niedrigen Mukeltonus haben, im Sattel? Reitern mit einem nicht so extremen Muskeltonus in die eine oder andere Richtung fällt die schwierige Balance zwischen der nötigen Stabilität und Mobilität leichter.

> Sie können idealerweise ihren Rumpf sowohl stabil halten als auch geschmeidig den Bewegungen des Pferds folgen.
> Sie sind eher in der Lage, eine konstante und weiche Zügelverbindung aufrechtzuhalten.
> Sie sind für Sitzfehler weniger anfällig.
> Auch wenn sie nicht durch einen sehr hohen oder sehr niedrigen Muskeltonus beeinflusst sind, haben auch sie – wie jeder Reiter – hin und wieder oder dauerhaft muskuläre Verspannungen in bestimmten Körperbereichen.
Wie wirkt sich der Sitz dieser Reiter aufs Pferd aus? Je stabiler und mobiler der Reiter im Sattel sitzt, desto leichter fällt es seinem Pferd, sich korrekt und gesund zu bewegen.
> Es rennt dann weder unter dem Sattel davon noch zieht es im Schneckentempo die Hufe durch den Sand.
> Das Pferd kann loslassen und sich in die Tiefe dehnen.
> Es fällt ihm leicht, eine positive Spannung aufzubauen, wenn der Reiter den Rahmen verkürzen möchte.
> Die Bewegung kann ungehindert von der Hinterhand über den locker schwingenden Rücken nach vorne in die Reiterhand fließen.
Übungen für jeden Muskel-Typ
Was beeinflusst unseren Muskeltonus? Lesen Sie in unserem Artikel zum Download mehr über Anatomie, Emotionen und Tätigkeiten im Alltag. Außerdem finden Sie dort passende Übungen für einen besseren Sitz und Einwirkung für jeden Typ.