Reit-Simulator: Computer gibt Reitern Sitz-Tipps
Reit-Simulator analysiert den Sitz

Ein computergesteuerter Reit-Simulator soll den Sitz auf dem Pferd verbessern und Körperschwächen gezielt aufdecken. Wie profitieren Reiter vom neuen Kunstpferd?

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Foto: Lisa Rädlein

Jean-Paul galoppiert. Und kommt dabei nicht von der Stelle. Fell hat er auch keines. Dafür einen echten Sattel und die Lizenz, den Reitersitz zu verbessern. Jean-Paul ist der neue Reitsimulator von Frauke Behrens, Sitzexpertin aus dem niedersächsischen Wesendorf. Er entlarvt, ob der Reiter schief sitzt, sein Pferd ausbremst oder unterschiedlich stark am Zügel zieht. CAVALLO-Redakteurin Cathrin Flößer wagte einen Proberitt und nahm viele neue Erkenntnissen mit nach Hause.

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Bevor es in den Sattel von Jean-Paul geht, nimmt Frauke Behrens den Reiter zunächst unter die Lupe. Ich soll mich gerade hinstellen und erzählen, wo es bei mir klemmt. Körperliche Beschwerden habe ich nicht – die beiden Bänderrisse in den Sprunggelenken liegen viele Jahre zurück. Die gelernte Physiotherapeutin stellt einen leichten Beckenschiefstand fest. "Den findet man sehr häufig, kein Mensch ist ganz gerade", sagt sie. Für meine Muskulatur bekomme ich sogar ein Lob. Glück gehabt!

Video: CAVALLO-Redakteur testet Reit-Simulator

Reit-Simulator zeigt Sitzfehler auf

Diese Bestandsaufnahme, die in der Medizin als Anamnese bezeichnet wird, ist bei Frauke Behrens üblich. Über eine Leiter geht‘s auf Jean-Pauls Rücken. Er trägt einen Dressursattel und hat Lederzügel. Der Braune bietet ein großes Gang-Repertoire. Er beherrscht Schritt, Arbeitstrab, Mitteltrab, versammelten Galopp, Arbeitsgalopp und Mittelgalopp sowie Übergänge von Schritt-Galopp, Trab-Galopp, Galopp-Schritt und Galopp-Trab.

Was er nicht kann: Die Diagonalbewegung des Rückens von hinten links nach vorne rechts in die Rotation des Pferdekörpers simulieren. Schenkelhilfen misst er nicht, dafür die Sitzund Zügelhilfen. "Ich kann seine Bewegungen so oft wiederholen, wie ich das möchte", sagt Frauke Behrens. "Das ist der Vorteil gegenüber Videoanalysen und Sitzschulungen auf dem eigenen Pferd: Man kann die Bewegungen dabei nicht eins zu eins mit dem Pferd reproduzieren", sagt Frauke Behrens.

Auf dem Monitor kann die Sitzexpertin mehrere Sitzeigenschaften messen: Der Reitsimulator zeigt, wie die Gewichtsbelastung des Reiters auf den Pferderücken in der Bewegung ist und wie gut der Reiter im Schwerelot der gedachten Linie von Ohr, Schulter, Hüfte und Sprunggelenk bleibt. Zudem zeigt er, ob man eher links oder rechts sitzt. Der Simulator misst, ob der Reiter treibend oder hemmend sitzt – also wie gut er in der Bewegung mitschwingt oder gegen die Bewegung sitzt. Außerdem zeichnet er die Einwirkung des linken und rechten Zügels auf.

Jean-Paul überträgt die Sitzfehler auf ein Diagramm. Er entlarvt so Muskelverkürzungen oder Beckenschiefstände. "Die Analyse zeigt, wie die individuellen Bewegungen des Reiters in Becken, Hand und Oberkörper zusammenhängen", sagt Behrens. Der Reiter kann die subjektive Wahrnehmung direkt am Bildschirm überprüfen und sich eine neue Wahrnehmung leichter einprägen. Dabei hilft ein Spiegel, in dem sich der Reiter von der Seite sehen kann.

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Lisa Rädlein
Nach dem Ritt auf dem Simulator steht eine physiotherapeutische Behandlung auf dem Programm.

Video: CAVALLO-Redakteur testet Reit-Simulator

Aktivität der Sitzbeinhöcker wird geprüft

Wir beginnen mit einer Schrittsequenz, und ich soll den Bewegungen von Jean-Paul folgen. Sie sind ungewohnt, kommen aber den echten Pferdebewegungen recht nah. In meinem Becken spüre ich die liegende Acht, die den Schritt charakterisiert. Ungewohnt ist allerdings, dass die Nickbewegung fehlt. Der Hals von Jean-Paul ist starr, und mir fällt es schwer, mit den Händen mitzugehen. Die
Zügel schlackern leicht. Das Diagramm zeigt: Mein Gewicht belastet den Rücken von Jean-Paul recht gleichmäßig, es gibt nur ein paar kleinere Ausschläge, die Frauke Behrens auf meine verkürzten schrägen Bauchmuskeln zurückführt. Die zweite Linie zeigt, dass ich mit dem Oberkörper etwas hinter der Bewegung sitze.

Die Rechts-Links-Belastung der Sitzbeinhöcker spiegelt das, was meine Reitlehrerin in jeder Trainingseinheit korrigiert: Ich sitze mehr auf dem rechten Sitzbeinhöcker und knicke in der linken Hüfte ein. Meine Hände zeigen eine gleichmäßige Linie, obwohl ich ein anderes Gefühl habe. Die letzte Linie im Diagramm deckt auf: Ich sitze treibend. Dann geht es an den Trab und den Galopp. Hier werden die Sitzprobleme deutlicher: Der rechte Sitzbeinhöcker ist stärker belastet, die Vor- und Zurückbewegung meines Beckens könnte im Trab viel besser sein.

Der Oberkörper ist stabil, bewegt sich aber nicht in Abschnitten. Frauke Behrens Resümee: "Der Schwung der Pferdebewegung geht sehr gut durch Ihren Körper, aber Ihre Muskeln übernehmen zu viel Arbeit." Ich muss also lernen, die Mittelpositur loszulassen. Damit das leichter gelingt, muss ich auf die Matte. Bei Frauke Behrens steht bei jeder Sitzschulung eine präventive Behandlung auf dem Programm.

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CAVALLO Redakteurin Cathrin Flößer im Sattel von Reitsimulator Jean-Paul. Das Diagramm auf dem Bildschirm zeigt, wie gleichmäßig sich die Reiterin bewegt.

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Körpergefühl des Reiters neu ermitteln

Die Physiotherapeutin löst meine verkürzten schrägen Bauchmuskeln und versucht die Spannung rauszunehmen. Auch mein Schulter- und Nackenbereich ist eine Problemzone. Das betrifft viele Reiter, die beim Job am Schreibtisch sitzen. Im nächsten Schritt mobilisiert Frauke Behrens meine Gelenke, vor allem im Becken. Die ganze Prozedur ist nicht schmerzhaft, aber auch nicht immer angenehm. Ihre Handgriffe gehen zum Teil tief in die Problemzonen. Nach etwa einer halben Stunde werde ich erlöst und darf zwei Runden durch den Raum laufen, um zu spüren, wie es sich anfühlt. "Man hat nach so einer Behandlung ein neues Körpergefühl", sagt Frauke Behrens.

Ich fühle mich etwas wackelig, als wäre ich gerade frühmorgens aufgestanden. Aber irgendwie gut. Mein Becken fühlt sich beweglicher an, ich kann mich leichter drehen. Solche Präventiv-Behandlungen für Reiter bieten mittlerweile viele Sitzexperten an, sofern sie einen physiotherapeutischen Hintergrund haben – auch ohne Sitztest auf dem Simulator. Dann darf ich noch einmal auf Jean-Paul, bevor es schließlich aufs echte Pferd geht. Die Diagramme zeigen: Ich sitze gleichmäßiger auf den Sitzbeinhöckern und schwinge besser in der Bewegung mit.

Dabei hilft der Blick in den Spiegel. "Achten Sie darauf, dass der Oberkörper und die Beine unterhalb des Oberschenkels ruhig sind und Sie sich nur in der Körpermitte bewegen." Auch diesen Sitztipp habe ich schon häufiger von meiner Trainerin gehört: Ich soll nicht so viel mit dem Oberkörper arbeiten, sondern in der Lende und im Becken beweglich bleiben. Weil Jean-Paul auf der Stelle geht, kann ich mich sehr gut im Spiegel beobachten und diesen Sitztipp endlich umsetzen. Dass das Training gefruchtet hat, bestätigt der kleine Testritt auf Frauke Behrens Friesenhengst Ymte.

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Zum Schluss darf die Reiterin ihr neues Körpergefühl auf Friesenhengst Ymte prüfen.

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Reit-Simulator ist einmalig in Europa

Reitsimulator Jean-Paul ist in Europa einmalig, noch gibt es keine vergleichbaren Reitsimulatoren auf dem Markt. Der Reitsimulator steht im niedersächsischen Müden, wo die Sitzexpertin Sitzschulungen für Reiter anbietet (www.kentauros-system.de). Eine zweistündige Erstbehandlung kostet 110 Euro. Frauke Behrens wird bei der Messe Pferd & Jagd 2012 in Hannover zum Expertenkreis am CAVALLO-Stand gehören.

Für einen guten Sitz nutzt Jean-Paul auf jeden Fall. Auch wenn dem Braunen das Fell und die weiche Nase fehlen. Die britische Firma Racewood hat als erste Reitsimulatoren auf den Markt gebracht – zunächst für den Rennsport. Mittlerweile gibt es auch einen Dressursimulator. Er bietet dem Reiter eine Rückmeldung zum Sitz sowie zur Bein- und Zügelhaltung. Der Reiter kann Hilfen und Sitzpo sition auf dem Bildschirm verfolgen. Ähnlich wie bei einem Computerspiel simuliert das Gerät Dressurlektionen. Das Programm bietet Reitern eine schnelle Fehleranalyse und hilft Anfängern, die Balance zu finden. In Deutschland gibt es noch keines der rund 50.000 Euro teuren Geräte.

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Der Sitzsimulator zeigt, ob der Reiter im Becken klemmt, schief sitzt oder locker in der Bewegung mitschwingt.

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Wenn das Bild schief ist

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Reiten kann das Körpergefühl verbessern.

Das Körpergefühl des Menschen prägt sich im Alter von 0 bis 12 Jahren am stärksten aus. Von der Geburt an kämpft der Mensch gegen die Schwerkraft. Erst hebt er den Kopf, dann kann er sich drehen, schließlich krabbelt er, steht und lernt Laufen.

Das Körpergefühl entwickelt sich bei jedem Mensch anders und unterscheidet sich in der Fremd- und Selbstwahrnehmung. Es ist abhängig von mehreren Faktoren, zum Beispiel den Hautrezeptoren: Sie entscheiden, wie der Mensch Kälte/Wärme und Druck/Schmerz empfindet. Der nächste Faktor ist seine visuelle Wahrnehmung. Der Mensch leitet jede größere Körperbewegung mit den Augen ein und versucht, sich im Raum zu orientieren. Hinzu kommt die auditive Wahrnehmung, die akustische Geräusche ortet.

Im Innenohr sitzt auch das Gleichgewichtsorgan. Es hilft, den Körper gegen die Schwerkraft aufzurichten. Im Laufe der Entwicklung speichert jeder Mensch für sich ab, was er als aufrecht, gerade oder schief empfindet. Die gesamte Muskulatur richtet sich danach aus. Hat er eine Schiefe, die er selbst nicht wahrnimmt, arbeiten seine Muskeln einseitig. Es entstehen Ausweichbewegungen, die beim Reiten zu unruhigen Händen oder schiefem Sitz führen. Erwachsene können ein falsches Körpergefühl noch ändern. Aber es dauert länger als bei Kindern.

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6 / 20253

Erscheinungsdatum 17.05.2023