CAVALLO-Coach: Reiten trotz Kissing Spines?

CAVALLO-Coach: Bleibt mein junges Pferd unreitbar?
Reiten trotz Kissing Spines?

Zuletzt aktualisiert am 21.06.2019

Aurelius ist ein Sorgenkind. In den letzten vier Jahren hat der achtjährige Lusitano-Wallach einige Tierärzte, Pferde-Physiotherapeuten und -Osteopathen gesehen. Besitzerin Beate Eder ist inzwischen mit ihrem Latein am Ende. Ihr Brief an die CAVALLO-Redaktion ist so lang wie die Patientengeschichte ihres Pferds und klingt verzweifelt. „Welcher Trainer kann uns helfen?“, fragt sie.

Gemeinsam mit Dressurausbilderin Sabine Ellinger, die ein Pferdereha-Zentrum im schwäbischen Murrhardt betreibt, besuchen wir Aurelius in seinem Heimatstall. Was ist in den letzten vier Jahren passiert?

Beate Eder hat ihr Pferd 2014 als Vierjährigen bei einem Züchter in Frankreich gekauft. „Ich bin dort zehn Pferde geritten. Aurelius stach heraus, weil er total rittig war und einen angenehmen Vorwärtsdrang hatte“, erinnert sie sich. Die Röntgenbilder der Ankaufsuntersuchung zeigten in der Sattellage leichte Engstellen zwischen den Rückenwirbeln. Eder legte die Bilder einer deutschen Tierklinik vor. Deren Urteil: Die Kissing Spines müssen nicht zwangsläufig problematisch werden. Also holte Beate Eder ihr Traumpferd nach Hause.

Zunächst lernte der Jungspund mit Horsemanship gute Umgangsformen. Die spätere Ausbildung unter dem Sattel begleitete eine Légèreté-Trainerin. „Aurelius war sehr brav und lernte schnell“, erzählt Beate Eder. „Aber sein schöner Vorwärtsdrang war weg. Er lief untertourig und ohne Schwung. Heute ist mir klar, dass er nie über den Rücken ging“, gesteht sie.

Vergangenes Jahr hörte Beate Eder auf zu reiten, denn Aurelius wollte sich gar nicht mehr bewegen. „Nach vielen Behandlungen und intensivem Training am Boden ist er nun wieder etwas munterer“, sagt Eder. „Doch er bleibt nach wie vor beim Führen einfach stehen und will nicht mehr weiter – sogar im Gelände. Das macht mir große Sorgen.“

„An seinem Exterieur liegen die Probleme nicht“, urteilt Sabine Ellinger. Der hübsche Kerl hat ein korrektes Gebäude und eine gute Hinterhand. Doch Aurelius lässt sich ganz schön hängen: „Sein Brustkorb ist abgesunken und die Schultern rollen sich nach vorne.“ Die Trainerin bittet Beate Eder, ihr Pferd ein Stück geradeaus zu führen, erst im Schritt, dann im Trab. Der unbeschlagene Aurelius fußt gerade, aber er tritt vorsichtig und gebunden. „Vielleicht würde es ihm helfen, wenn man ihn vorne mit Kunststoffeisen beschlagen würde“, rät Ellinger. „Pferde, die fühlig sind, treten nicht richtig auf und halten sich zurück“, erklärt sie. „Kunststoffbeschläge puffern die Bewegungen gut ab.“

Auf dem Reitplatz checkt die Trainerin, wie es um Aurelius' Muckis steht. Beate Eder meint, dass die Trapezmuskeln seitlich hinter dem Widerrist atrophiert (geschrumpft) sind. Ellinger widerspricht: „Das liegt am hängenden Rücken.“ Sie greift mit der Hand in Aurelius’ Kopf-Arm-Muskel im unteren Halsbereich. Daraufhin senkt der Wallach den Kopf. „Schon besser“, kommentiert die Trainerin. „Sobald Aurelius den Kopf hochnimmt, sackt er im Rücken ab. Diese Haltung ist Gift für ein Kissing-Spines-Pferd.“

Sabine Ellinger drückt mit der Hand leicht von unten gegen Aurelius‘ Brustkorb. Dann aktiviert sie die Hinterhand des Wallachs: Mit den Fingern fährt sie die Kruppe entlang, bis Aurelius sein Becken abkippt. Guck mal, jetzt hast du ein anderes Pferd!„, freut sich die Trainerin. Aurelius’ Besitzerin sieht sofort, was passiert ist: Der Rücken ihres Pferds hängt nicht mehr durch. “Das kannst du im Halten üben„, empfiehlt Ellinger. Wichtig bei dieser Übung ist die Reihenfolge: Zuerst muss das Pferd den Hals fallen lassen, danach soll es den Brustkorb anheben und zum Schluss das Becken abkippen. Aurelius soll dabei die Unterhalsmuskulatur entspannen. Wie tief er den Hals fallen lassen soll, zeigt sein oberer Halsmuskel: Tritt dieser deutlich hervor, ist das die richtige Position. “Nur in dieser Haltung kann er die Rumpfträger aufbauen. Da hat er noch ein Loch„, stellt die Trainerin fest.

Ellinger nimmt ein Vorderbein des Wallachs auf und dreht es weit nach innen. Auch den Huf in der Hand kann sie gut bewegen. “Je größer der Spielraum ist, desto instabiler ist das Pferd„, erklärt sie. “Aurelius hat ein schwaches Bindegewebe und einen niedrigen Muskeltonus. Solche Pferde sind eher träge und müssen beim Training oft erst mal aufgeweckt werden.„

Also: Aufwachen, Aurelius! Der joggt an der Longe gemütlich los. Viel zu langsam, kommentiert Sabine Ellinger. Der Wallach lässt sich bitten. “Du bewegst dich ja mehr als dein Pferd!„ Beim Antraben fällt der Trainerin auf, dass der Wallach einen kleinen Hüpfer macht. Das sei ein Zeichen dafür, dass er ohne Rücken läuft, erklärt sie. Aurelius muss mit den Hinterbeinen in die Spur der Vorderbeine fußen. Ist die Hinterhand nicht aktiv, kann er nicht korrekt vorwärts-abwärts laufen.

“Beim Longieren gelten die gleichen Regeln wie beim Reiten auf gebogenen Linien: Treib dein Pferd an die Hand heran, halte mit der Longe eine leichte Verbindung, stelle es nach innen und aktiviere das innere Hinterbein„, erklärt Ellinger. “Die Peitsche ist dein Schenkel, die Longe dein Zügel.„

Beate Eder staunt: So flott trabt ihr Pferd sonst nicht. “Das Tempo braucht er aber„, meint Sabine Ellinger. Und Aurelius sieht gut dabei aus. Er tritt ordentlich unter und entwickelt Schwung. Schön!

Das Tempo kann ein wenig trainiertes Pferd wie Aurelius freilich nicht lange halten. “Sobald du merkst, dass ihm die Kraft ausgeht, hörst du auf„, mahnt die Trainerin. “Denn wer ein müdes Pferd treibt, stumpft es ab.„

Da ist bei Aurelius Vorsicht geboten, der es sich gerne bequem macht. Beate Eder soll jedoch mit ihren Hilfen immer feiner werden. “Das geht am Anfang leider nur, wenn du auch mal sehr deutlich wirst„, erklärt Ellinger. “ Auf eine Hilfe soll eine Reaktion kommen. Vermeide es, ständig aktiv zu sein, um dein Pferd in Gang zu halten.„

Zum Abschluss darf der Wallach noch aufs Laufband. Auch hier ist das normalerweise eingestellte Tempo viel zu langsam. Die Trainerin wählt ein höheres Programm. “Sonst haben wir keinen Trainingseffekt„, meint sie. Beate Eder und Aurelius sind noch skeptisch. Geht das wirklich? Der Wallach wirkt verdutzt, als er raumgreifender gehen muss, schreitet aber tapfer voran. Ellinger stellt sich auf eine Leiter, um Aurelius in die richtige Haltung bringen zu können. Sie greift in den Kopf-Arm-Muskel, damit er den Hals fallen lässt. “Das hat er schon gut verstanden. Irgendwann wird es reichen, ihn an dieser Stelle zu berühren, damit er den Kopf absenkt„, erklärt Ellinger.

Das Laufband soll Beate Eder auf jeden Fall fürs Training nutzen. Aurelius muss Muskeln aufbauen, um sich besser tragen zu können. Denn außer den diagnostizierten Kissing Spines fehle dem Wallach scheinbar nichts, meint Sabine Ellinger. Aurelius konnte die Übungen gut umsetzen und wirkte dabei nicht überfordert.

“Der gesamte Aufbau der Muskulatur kann bis zu einem Jahr dauern„, weiß die Pferdereha-Expertin. Mit dem richtigen Training sollte Aurelius jedoch eine schöne Oberlinie entwickeln können. Der Plan für die nächsten Monate: Im Wechsel longieren und aufs Laufband, einen Tag in der Woche Pause, und die Länge der Trainingseinheiten allmählich steigern. Doch eine wichtige Frage hat Beate Eder noch:

Wird aus Aurelius jemals wieder ein Reitpferd? Ellinger ist optimistisch: “Kissing Spines müssen ein Pferd nicht unreitbar machen. Aber als Besitzer hat man Verantwortung: Gutes Training ist enorm wichtig. Und wenn das Pferd mal am Rücken empfindlich ist, sollte der Reiter an diesem Tag aufs Satteln verzichten.„ Dass der Sattel passen muss: logisch. Aurelius soll einen neuen Sattel bekommen, wenn er wieder fit ist. Wie es weitergeht, werden wir berichten!

Die Leserin und ihr Pferd:

Beate Eder kaufte ihren Lusitano-Wallach Aurelius als Vierjährigen angeritten von einem Züchter im Ausland. Die Röntgenbilder der Ankaufsuntersuchung wiesen zwar auf Engstellen zwischen den Rückenwirbeln hin, wurden aber als eher unbedenklich eingestuft. Beate Eder hoffte, dass die Schwachstelle durch eine korrekte Ausbildung nie zum Problem werden würde. Anfangs machte sich Aurelius auch gut. Doch sein Vorwärtsdrang ließ immer mehr nach.