An der Senkrechte: So haben Pferde die Nase vorn

Was die Stirn-Nasenlinie beim Pferd beeinflusst
So haben Pferde die Nase vorn

ArtikeldatumVeröffentlicht am 20.12.2025
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Die Reiterin gibt die Hände vor.
Foto: Lisa Rädlein

Beim CHIO in Aachen 2018 waren einige Top-Dressurreiter und ihre Pferde unter ganz genauer Beobachtung. Wissenschaftler nahmen für eine Studie 49 Ritte im Grand Prix Special unter die Lupe. Sie verglichen Kopf-Hals-Positionen und Abwehrreaktionen der Pferde zwischen Aufwärmen und Prüfung. Dr. Kathrin Kienapfel und vier Forscherkollegen aus Deutschland und der Schweiz notierten auch, welche Wertnoten die Reiter für ihre Ritte bekamen. Nach der Auswertung kam heraus:

Beim Aufwärmen hatten die Pferde die Nase häufiger hinter der Senkrechte als in der Prüfung. Während des Aufwärmens zeigten die Pferde mehr Abwehrreaktionen als während der Prüfung. Und: Je mehr die Pferde hinter der Senkrechten gingen, desto höher fiel die Wertnote der Richter aus. Wird damit eine Reitweise, die nicht der klassischen Reitlehre entspricht, belohnt? Und wird damit sogar regelwidriges Verhalten der Reiter geduldet?

Die Richtlinien für Reiten und Fahren bieten genaue Beschreibungen, auf deren Grundlage Richter und Stewards, aber auch Ausbilder und Reiter die korrekte Kopf-Hals-Position beurteilen könnten – je nach Pferd abhängig immer von anderen Faktoren, wie etwa Ausbildungsstand, Exterieur und Versammlungsgrad. "Mich wundert es immer wieder, warum darüber überhaupt diskutiert wird”, sagt Kerstin Gerhardt, Dressurausbilderin bis Grand Prix. "Die Reitlehre ist klar und eindeutig. Da gibt es doch gar keine Diskussion!”

Das Pferd geht locker in Dehnungshaltung.
Lisa Rädlein

Fakt ist auch: Das Reiten hinter der Senkrechten widerspricht den Richtlinien der FN und der FEI. Auch im Kriterienkatalog der FN für den Vorbereitungsplatz ist festgehalten, dass die Stirn-Nasen-Linie kurz vor bzw. an der Senkrechten sein soll. Im "FEI Judging Manual”, also der Bewertungsgrundlage für Richter auf internationalen Turnieren, ist eindeutig beschrieben, dass die Nasenlinie in der Regel leicht vor der Senkrechten zu sein hat – mit dem Genick als höchstem Punkt.

Ebenfalls ziemlich sicher: Jeder Reiter weiß, dass unsere Pferde die Nase vorne haben sollten. Und trotzdem sprechen viele Bilder, ob wir sie live erleben oder sie über den TV- oder Handy-Screen flackern, eine andere Sprache. Weil sie es nicht müssen, um erfolgreich zu sein? Oder weil sie es nicht können?

Warum Pferde zu eng geritten werden

"Es liegt an der mangelnden Ausbildung der Reiter”, betont Kerstin Gerhardt. "Sie investieren zu wenig Zeit, um zu lernen. Wer nicht richtig sitzen kann, zieht sich am Zügel fest. Kommt dann Angst dazu, wird es noch schlimmer.” FN-Ausbildungsbotschafter Christoph Hess weist darauf hin, dass die modernen Pferde eine zusätzliche Herausforderung für die Reiter seien. "Wir haben inzwischen bewegungsstarke, extrem leichtrittige Pferde. Das erweckt bei vielen Reitern den Eindruck, sie müssten gar nicht viel tun. Doch gerade bei diesen Pferden, die so leicht im Genick sind und sich anbieten, darf die Entwicklung der korrekten Anlehnung nicht abgekürzt werden.”

Was wir Menschen häufig sehen, wird zur Gewohnheit. Christoph Hess und Reitmeister Martin Plewa erinnern sich an einen Artikel, der vor rund 30 Jahren im Mitteilungsblatt der Deutschen Richtervereinigung erschien. Die Überschrift: "Akzeptanz durch Gewöhnung.” "Dies gilt heute immer noch, wenn nicht sogar erst recht. Man sieht sehr selten noch Pferde in einer Dressurprüfung, aber auch auf dem Vorbereitungsplatz oder im heimatlichen Training, die in korrekter Anlehnung bzw. dressurmäßiger Beizäumung gehen”, bedauert Plewa. Richterin und Dressurausbilderin Dr. Britta Schöffmann glaubt, dass die vor allem auf internationalem Parkett gezeigten überbeweglichen Pferde mit ihren exaltierten Bewegungsabläufen im Laufe der Zeit so manchem Richter den Blick vernebelt haben. "Sie schauen mehr auf Ausdruck statt auf Ausbildung.”

Pferdewirtschaftsmeisterin Katrin Meyer fördert Reiter und Pferde bis Grand-Prix-Niveau. Dass das falsche Bild "salonfähig” geworden ist, liegt ihrer Erfahrung nach daran, dass richtige Bilder seltener werden. Sie glaubt, nur wenige Reiter seien schon mal auf einem korrekt ausgebildeten Pferd gesessen, um den Unterschied zu spüren und wertschätzen zu können. Dazu käme, dass viele eine nicht optimale Grundausbildung hätten. "Viele Amateure würden gerne anders reiten, aber sie werden durch einen noch nicht ausbalancierten Sitz daran gehindert", betont sie. "Ein Reiter, der nicht handunabhängig sitzen kann, wird auch kein Pferd mit der Nase vorn erfolgreich durch eine Prüfung reiten können."

Wann "hinter der Senkrechten” okay ist

Stichwort Handeinwirkung: Nach der klassischen Reitlehre ist eine Kopf-Hals-Position hinter der Senkrechten immer ein Fehler, den der Reiter korrigieren muss. Die FN unterscheidet im Kriterienkatalog zwischen einem Pferd, das sich von sich aus eng im Hals macht, und einem, das aktiv durch die Hand des Reiters hinter die Senkrechte gebracht wird. Die FEI hat den Grundsatz konstatiert, dass jede durch Kraft erzwungene Haltung unzulässig ist.

Im Laufe der Ausbildung kann es passieren, dass ein Pferd unbeabsichtigt hinter die Senkrechte kommt. "Diesen Mangel zu beheben, ist eine wichtige Aufgabe, weil ein Pferd, das hinter dem Zügel geht, auch nicht ausreichend über den Rücken geht. Es ist noch nicht in der Lage, den Schub aus der Hinterhand über den Rücken nach vorne in eine konstante Anlehnung umzusetzen”, erklärt Martin Plewa. Dass Pferde bewusst eng gemacht werden, um damit angeblich Rückentätigkeit und Durchlässigkeit zu verbessern oder es leichter kontrollieren zu können, ist für den Reitmeister deshalb aus biomechanischen Gründen falsch und nicht pferdegerecht.

Das Pferd galoppiert mit der Nase vor der Senkrechten.
Lisa Rädlein

Für Christoph Hess zählt der Gesamteindruck: "Wenn das Pferd leicht hinter die Senkrechte kommt, aber grundsätzlich dehnungsbereit und vor den treibenden Hilfen ist, bewegt es sich noch im grünen Bereich. Zieht ein Pferd aber nicht an die Hand heran bei gleicher Silhouette, wäre das für mich schon kritisch. Nicht akzeptabel ist das aktive Beizäumen mit der Hand.”

Nase wieder vor, bitte! Aber wie?

Die Wissenschaft gibt unseren Experten recht: Erst 2024 wurden in einer Metastudie 58 Studienergebnisse ausgewertet, die bestätigen, dass Pferde sich mit einer Kopf-Hals-Position hinter der Senkrechten nicht wohlfühlen, und zwar unabhängig davon, wie stark die Nase hinter die Senkrechte gerät oder vom Reiter gezogen wird. Im Klartext: Wer bewusst sein Pferd eng im Hals macht, reitet nicht pferdegerecht. Umso unverständlicher, dass das "Stretching” von Pferdehälsen in Form extremer Beizäumung – früher Rollkur, heute "Long, Deep and Round” (LDR) genannt – von der FEI nach wie vor für (nicht definiert kurze) Zeiträume geduldet wird.

Erst im Frühjahr 2025 wandte sich eine Gruppe von Tierärzten und Wissenschaftlern mit Foto- und Videodokumentationen des Pferdeleids im Sport direkt an die FEI. Sie forderten eine Neubewertung der Richterpraxis, verbindliche Grenzen für den Zügeldruck und eine klare Definition von Schmerz- signalen in den Bewertungsrichtlinien. Bislang hat die FEI nur den Erhalt der Unterlagen bestätigt. Was die FEI bislang nicht geschafft hat, hat die Schweiz längst erledigt: Dort ist Hyperflexion seit 2014 gesetzlich verboten, sowohl im Training als auch im Wettkampf.

Neben der Scheu der Verbände, ihre Richtlinien konsequent durchzusetzen, sehen unsere Experten das Potenzial für wirkliche Veränderungen vor allem bei den Richtern. "Dazu gehören Rückbesinnung auf die klassischen Ausbildungsprinzipien und ein bisschen Mut”, betont Dr. Britta Schöffmann. "Wir müssen wieder mehr die korrekte Ausbildung belohnen. Auf dem Turnier etwa das Abreiten in die Wertnote einfließen lassen. Und Prüfsteine wieder einführen, die abgeschafft wurden, zum Beispiel den Gehorsamssprung, die Schaukel, die Einerwechsel auf dem Zirkel. Ich bin mir ganz sicher, wenn wir den öffentlichen Druck aufrecht halten, wird sich etwas ändern”, hofft Kerstin Gerhardt. Ein Anfang: Wir selbst können es besser machen. Die Nase vorne zu haben, liegt – wortwörtlich – in unserer Hand.

Du willst mehr darüber erfahren, wie dein Pferd vor die Senkrechte kommt und was die Wissenschaft über zu enge Halspositionen herausgefunden hat? Hier kannst du den kompletten Artikel mit allen praktischen Übungen herunterladen: