Das Kommando „Bügel überschlagen“ kennen Sie ganz bestimmt noch von früher, aus Ihrer Zeit in der Reitschule. Erinnern Sie sich gerne wieder daran zurück – oder eher nicht?
Denn einfach war es nicht. Ohne die sichere Stütze unter den Füßen war das wichtigste Ziel, bloß nicht in Wohnungsnot zu geraten. Und trotzdem haben wir uns tapfer durchgekämpft. Was waren wir stolz, wenn aus unseren zittrigen Knien endlich ein ordentlicher Knieschluss wurde!
Reiten ohne Steigbügel für besseren Sitz
Reitschüler wie früher Runde um Runde ohne Steigbügel durch die Bahn traben zu lassen, ist heute seltener geworden. Doch viele Trainer schwören immer noch auf das Ohne-Bügel-Reiten als Übung für einen besseren Sitz – nicht nur für Anfänger. Auch erfahrene Reiter sollen davon profitieren, wenn sie ab und zu mal die Bügel überschlagen.
Aber tut es Reitern wirklich gut, wenn sie ohne Bügel reiten? Oder sollten sie es lieber bleiben lassen, weil es ihren Sitz eher schlechter macht? CAVALLO hat Experten nach ihrer Meinung gefragt:
„Reiten ohne Steigbügel mache die Beine länger“
Contra: Das ist ein Hauptargument für das Reiten ohne Steigbügel: Der Reiter soll lernen, sein Bein lang nach unten fallenzulassen, ohne die Knie nach oben zu ziehen.
Doch Sitzexpertin und Physiotherapeutin Frauke Behrens (www.kentauros-system.de) sagt, dass damit das genaue Gegenteil erreicht wird: „Wer ohne Bügel reitet, zieht erst recht die Knie hoch.“ Im Schritt könnten Reiter ihr Bein zwar locker nach unten fallen lassen. Doch im Trab und im Galopp reagieren sie mit einem Klammer-Reflex. Dadurch klemmen sie mit den Oberschenkeln und ziehen die Beine hoch.
Auch Physiotherapeutin Marlies Fischer-Zillinger (www.koerpersprache-des-reiters.de) glaubt nicht, dass Reiten ohne Bügel automatisch die Beine lang macht. „Dafür muss man erst einmal bereit sein. Denn wenn das Hüftgelenk die Streckung nicht zulässt, kann das Bein nicht locker herabhängen. Deshalb gehören die Füße, wenn überhaupt, erst aus den Bügeln, wenn der Reiter sich vorm Aufsitzen aufgewärmt oder schon eine Weile auf dem Pferd gesessen hat.“
„Leichttraben ohne Steigbügel verhilft zu einem sicheren Sitz“
Pro: „Früher musste ich im Reitunterricht viel und oft ohne Steigbügel leichttraben. Geschadet hat es mir bestimmt nicht“, glaubt Reitlehrerin Sibylle Wiemer (www.sibyllewiemer.de). „Damit wurden wir Reitschüler damals aufs Springen vorbereitet. Später konnte ich auch kleine Sprungreihen ohne Steigbügel bewältigen. Das hat schon geholfen, sicherer im Sattel zu sitzen. Durch die Springübungen ohne Bügel lernte ich, im entscheidenden Moment die Knie zu schließen und sie auch gleich wieder zu öffnen.“ Beim Dressurreiten jedoch sei der Knieschluss nichts Gutes, so Wiemer. „Er blockiert die Hüfte, besonders beim Aussitzen.“
Contra: Zu einem guten Sitz gehört unbedingt ein offenes Knie, sagt Marlies Fischer-Zillinger. „Deshalb bringt das Leichttraben ohne Bügel gar nichts.“ Dieser Meinung ist auch Kerstin Diacont, Autorin mehrerer Bücher zu den Themen Sitz und Hilfengebung (diacontdesign.de): „Das führt nur zum Klemmen mit dem Knie.“
„Wer ohne Steigbügel reitet, lernt, tiefer im Sattel zu sitzen“
Pro: Isabelle von Neumann-Cosel, Reitlehrerin, Turnierrichterin und Autorin mehrerer Bücher zum Reitersitz, lässt ihre Schüler gerne ohne Bügel reiten. Sie beobachtet, dass sich ein besserer Sitz dadurch oft wie von selbst ergibt, ohne dass der Reiter sich dafür besonders anstrengen muss. „Nimmt man dem Reiter die Bügel weg, kann er sich nicht mehr aus dem Sattel herausmogeln.
Beim Aussitzen können Reiter dem Schwung des Pferds ausweichen. Sie machen das, indem sie sich leicht in die Bügel stellen. Dabei kommt das Gesäß aus dem Sattel.“ Ohne Steigbügel ginge das nicht mehr, sagt von Neumann-Cosel. Die schweren Beine lassen den Reiter dann tiefer im Sattel sitzen. Den Effekt erklärt sie so: „Der Pferderücken und die Gesäßknochen des Reiters können auf einmal miteinander reden. Der Reiter kann sich auf die Bewegungen seines Pferds einlassen und ist dadurch in der Lage mitzuschwingen, ohne das Pferd zu stören. Diese Fähigkeit ist die Grundlage für einen guten Sitz!“
Marlies Fischer-Zillinger sieht’s ähnlich. Um die Bewegungen des Pferds noch deutlicher spüren zu können, empfiehlt sie, zunächst nur einen Fuß aus dem Bügel zu nehmen. „Der Reiter soll herausfinden, wann sich dieses Bein absenkt. Das ist der Moment, in dem er spürt, wie er der Bewegung des Pferderückens folgt.“ Denn genau in diesem Moment fußt das Pferd mit einem Hinterbein nach vorne. Gleichzeitig senkt sich auf dieser Seite der Pferderücken etwas ab. Der Reiter fühlt, dass sein Becken dort ebenfalls nach unten kippt und damit sein ganzes Bein.
Kann der Reiter das Bein locker herabhängen lassen, fühlt er diesen Moment gut. Mit einem hochgezogenen Bein klappt das nicht. Deshalb sollten Reiter erst komplett „unten ohne“ reiten, wenn sie entspannt im Sattel sitzen und mit der Bewegung des Pferds mitgehen können. „Denn dann hat der Reiter genug Bauch- und Rückenspannung, um seinen Sitz zu stabilisieren. Fehlt diese, besteht die Gefahr, dass die herabhängenden Beine den Reiter ins Hohlkreuz ziehen“, so Fischer-Zillinger.
Contra: Frauke Behrens glaubt nicht, dass Reiter ohne Bügel gut mit der Bewegung des Pferds mitgehen können. „Das funktioniert allenfalls im Schritt“, sagt sie. In höheren Gangarten würden Reiter mit den Oberschenkeln klemmen und sich mit den Knien an den Sattelpauschen festhalten. „Wer die Pferdebewegungen besser fühlen möchte, reitet am besten ohne Sattel, zum Beispiel mit Reitpad.“
„Reiter lernen korrekte Schenkelhilfen“
Pro: „Durchs Ohne-Bügel-Reiten im Schritt können Reiter das Timing für ihre Schenkelhilfen lernen. Denn richtig treiben Reiter, wenn sie es aus der Bewegung heraus tun. In dem Moment, in dem ein Hinterbein des Pferds abfußt, schwingt der Reiterschenkel näher ans Pferd. Diesen Impuls braucht man nur zu verstärken, wenn man möchte“, erklärt Isabelle von Neumann-Cosel. Wer fühlt, wann die Hinterbeine seines Pferds abfußen, kann also Schenkelhilfen dosiert und im richtigen Moment einsetzen. „Der Reiter muss sich vom Pferd mitbewegen lassen, ohne es nach vorne oder zur Seite drücken zu wollen“, so Kerstin Diacont.
Contra: Um Schenkelhilfen korrekt einzusetzen, brauchen Reiter aber Steigbügel. „Das Gefühl für das Abfußen der Hinterbeine des Pferds zu entwickeln, ist eine Sache – mit der Wade einzuwirken, eine andere. Die Waden können nur korrekt angespannt werden, wenn der Vorfuß vom Steigbügel oben gehalten wird“, sagt Isabelle von Neumann-Cosel.
Frauke Behrens erklärt: „Um korrekt treiben zu können, brauchen Reiter Steigbügel. Denn die Bügel ermöglichen dem Reiter, die Bewegungsenergie des Pferderückens über seine Mittelpositur und die Knie aufzunehmen und in seine Sprunggelenke fließen zu lassen. In dem Moment, in dem der Absatz des Reiters nach unten federt, spannt sich die Wade an – das ist die treibende Schenkelhilfe.“
„Die Übung taugt nur etwas für Reitanfänger“
Contra: Ganz im Gegenteil, finden die Experten. Isabelle von Neumann-Cosel nimmt manchmal auch erfahrenen Dressurreitern die Bügel weg: „Der Effekt ist oft spektakulär. Sobald Reiter nicht mehr klemmen und schieben, gehen die Pferde zufrieden und fleißig vorwärts.“
Marlies Fischer-Zillinger ergänzt: „Wenn Reiter das begriff en haben, gehen Türen auf.“ Dieses Prinzip machte sich auch Reitausbilder Eberhard Weiß zunutze. „Früher schickte ich fortgeschrittene Reitschüler auf zuverlässigen Pferden gerne ohne Bügel für eine oder zwei Stunden ins Gelände. Wenn ihnen dann irgendwann die Kraft ausging, die sie dem Pferd entgegensetzten, kamen sie erst richtig zum Sitzen“, erinnert er sich.
„Ohne Bügel lässt sich die Balance im Sattel schulen“
Pro: Kerstin Diacont ist der Meinung, dass Ohne-Bügel-Reiten Reitern hilft, die dazu neigen, sich in die Steigbügel zu stemmen, um ihren Sitz zu stabilisieren: „Der Wechsel zwischen Reiten mit und ohne Bügel ist nötig, damit der Reiter bemerkt, wann er sich wieder zuviel abstützt.“ Isabelle von Neumann-Cosel beobachtet, dass Reiter ohne Bügel schnell merken, ob sie mittig im Sattel sitzen. Das liege daran, dass sie ihre Gesäßknochen deutlicher spüren. „Die Rechts-Links-Balance verbessert sich sofort um fünfzig Prozent“, sagt sie.
„Die Absätze sollen auch beim Reiten ohne Steigbügel tief bleiben“
Contra: Der tiefe Absatz, so die Experten, darf nie erzwungen werden, ob mit oder ohne Steigbügel. Frauke Behrens: „Das Bild vom tiefen Absatz hat sich leider etabliert. Der Fuß soll waagerecht auf dem Bügel ruhen und der Bügel stabilisiert den Vorderfuß. Dann ist der Absatz immer wieder der tiefste Punkt – immer dann, wenn er nach unten federt.“
Sibylle Wiemer ist es wichtig, dass die Füße beim Ohne-Bügel-Reiten locker herabhängen. „Ich lasse vor allem Anfänger gerne mit einem Reitpad ohne Bügel reiten. Sie sollen dadurch lernen, völlig entspannt auf dem Pferd zu sitzen. Es bringt ihnen nichts, wenn sie krampfhaft die Fußspitzen hochziehen. Ist das Fußgelenk fest, ist auch das Becken fest.“ Kerstin Diacont: „Wer ohne Steigbügel reitet, darf die Fußspitzen zwar leicht anheben, um in der Wade eine gewisse Grundspannung zu erhalten. Aber niemals den Absatz aktiv herunterdrücken.“
Unser Fazit
So ganz einig sind sich die Experten nicht. Manche raten ab, im Sattel ohne Bügel zu reiten, weil dieser dazu verleitet, mit den Beinen zu klemmen. Stattdessen empfehlen sie, ganz auf den Sattel zu verzichten, um das Körpergefühl auf dem Pferd zu verbessern. Andere sind überzeugt, dass die Übung hilft, um mit Bügeln besser und losgelassener im Sattel zu sitzen.
Sie möchten es einfach mal ausprobieren? Dann achten Sie auf folgende Punkte:
- Überlegen Sie zunächst, am besten gemeinsam mit Ihrem Trainer, ob Sie Ihre Sitzprobleme durchs Ohne-Bügel-Reiten verbessern könnten.
- Wärmen Sie sich auf oder schlagen Sie die Bügel erst über, wenn sie schon eine Weile im Sattel sitzen.
- Vermeiden Sie, die Absätze aktiv herunterzudrücken.
- Wenn Sie ohne Bügel reiten, können Sie nicht korrekt treiben. Einen Vorwärts-Impuls geben Sie, indem Sie Ihr Pferd mit der Wade leicht antippen.
- Übertreiben Sie nicht. Beginnen Sie im Schritt. Sollten Sie ohne Bügel traben oder galoppieren, dann nur so lange, wie Sie sitzen können, ohne zu verkrampfen.














