Was tun gegen Reizüberflutung beim Pferd?

Standpunkt Yvonne Gutsche
Was tun gegen Reizüberflutung beim Pferd?

Veröffentlicht am 27.07.2021
Reizüberflutung
Foto: Lisa Rädlein

Ein Mädchen hängt dem Pony leere Benzinkanister über den Rücken, die bei jedem Schritt poltern. Gleichzeitig konfrontiert es das Tier mit Fahnen und Säcken. Weiter geht’s über einen Haufen mit Poolnudeln. Am Ende legt die Reiterin dem Pony noch eine Plane über den Kopf. Ist das Pferd nicht cool?

Augenscheinlich ja, es macht alles mit. Aber: Wenn man die Mimik, den Muskeltonus und die Körpersprache genau deutet, hat das Pony einfach resigniert und abgeschaltet.

Reizüberflutung ist kein Einzelfall

In den sozialen Netzwerken sehe ich gerade ständig ähnliche Videos – und bin darüber besorgt. Flooding lautet der englische Begriff für das Phänomen, wenn Reiter ihr Pferd mit Reizen überfluten, ohne es schonend und genügend vorzubereiten. Viele schießen beim Gelassenheitstraining völlig übers Ziel hinaus. Ich will gar nicht sagen, dass dahinter böse Absicht steckt. Ganz im Gegenteil!

Ich glaube, die meisten Reiter wollen eigentlich am Vertrauen arbeiten und einen verlässlichen Partner an ihrer Seite. Den gesunden Mittelweg zu finden, ist eine Gratwanderung. Natürlich ist es falsch, jeden Schreckreiz vom Pferd fernzuhalten. Für die Sicherheit beim Reiten und im Umgang mit dem Pferd sollte das Tier die Konfrontation lernen.

Aber: Wer zu schnell und mit zu vielen Reizen auf sein Pferd einschießt, macht es im schlimmsten Fall krank. Statt Coolness zu lernen, verliert das Pferd das Vertrauen in den Menschen. Das kann bis hin zur erlernten Hilflosigkeit gehen – und das ist ein tiefer Einschnitt in die Pferdeseele.

Ist es dazu erst gekommen, dauert es sogar für mich als Profi Jahre, das Vertrauen wiederherzustellen. Wenn es überhaupt gelingt. Den meisten Reitern ist die Gefahr offensichtlich gar nicht bewusst. Deshalb möchte ich für das Thema sensibilisieren – zum Wohl der Tiere. Und zum Wohl der Beziehung zwischen Menschen und Pferden.

Langsam in Reize hineinwachsen

Bitte nicht falsch verstehen: Ich haue mit meiner Bailey bei Shows auch in die Vollen. Da knallt und raucht es, ein Laubbläser springt neben ihr an und wir galoppieren in fahrende Anhänger. Aber meine Stute ist langsam und wohldurchdacht da reingewachsen. Sie zeigt Freude an der Arbeit und Leistungswillen.

Das ist das Ergebnis von vorsichtiger Gewöhnung. Mein Pferd hat dafür viel Zeit bekommen. Bailey ist nun seit 12 Jahren bei mir. Und es hat mindestens fünf bis sechs Jahre gedauert, bis wir zu dem unerschrockenen Team von heute geworden sind. Wie unterscheidet sich also umsichtige Gewöhnung konkret von riskanter Reizüberflutung?

Das passiert beim Flooding: Der Reiter überfordert das Pferd mit neuen Anforderungen und Reizen, hört nicht auf die Alarmsignale des Pferds und passt die Anforderung nicht an das jeweilige Tier, dessen Charakter und Lernverhalten an. Beim Reiten zeigt sich das, indem der Reiter zum Beispiel eine Lektion nach der nächsten fordert und sein Pferd damit überfordert – wenn es nicht ausreichend darauf vorbereitet wurde. Ich nenne das Leistungs-Flooding.

Mögliche Fallstricke im Gelassenheitstraining und bei der Gewöhnung

  1. Reiter setzen die Anforderungen zu hoch an.
  2. Sie setzen zu viele Reize gleichzeitig ein.
  3. Sie erwarten, dass das Pferd direkt alles kann.

Bombardiert man ein junges und ängstliches Pferd so lange mit Reizen, bis es nicht mehr kann, reagiert dieses wahrscheinlich irgendwann nicht mehr darauf. Aber nicht, weil es mutiger geworden ist – es hat einfach innerlich abgeschaltet. Warum passiert das?

Gelassenheitstraining strengt das Köpfchen an. Es ist mental anspruchsvoll. Zeigt das Pferd auch nur den Hauch einer erwünschten Reaktion, nehme ich als Trainer den Reiz weg. Etwa, wenn es von selbst einen Schritt auf die Fahne zugeht. Damit belohne ich den Mut und die Neugier des Pferds. Das Pferd lernt zudem, dass es den Reiz steuern kann. Das Schreckgespenst verschwindet ja, wenn es darauf zugeht.

Das Tier bekommt eine Pause und kann das Gelernte und den Stress verarbeiten. Wie wichtig Pausen für den Lernerfolg sind, belegen mittlerweile zahlreiche Studien. Ich steigere die Anforderungen Schritt für Schritt. Stress gibt es nur portionsweise. Das Pferd bekommt Zeit zum Lernen und Verarbeiten.

Bei Reizüberflutung verschwindet das Schreckgespenst nicht

Das Pferd wird über einen längeren Zeitraum durchgehend oder immer wieder damit traktiert. Der Reiter entlässt das Pferd nicht aus dem Stress. Er passt den Stress nicht an. Das Pferd lernt, dass es mit seinem Verhalten die Situation nicht beeinflussen kann. Die Kanister klappern beispielsweise weiter an seinem Körper, egal was es tut.

Reizüberflutung
Lisa Rädlein

Dies ist ein Training unter ständiger Angst. Wenn man das stetig wiederholt, kann das Pferd in die erlernte Hilflosigkeit rutschen. Diese Art des Trainings macht das Pferd psychisch platt. Das Pferd erträgt die Angst.

Aber: Es ist nicht entspannter. Es handelt sich eher um eine Art Selbstaufgabe. Solche Pferde resignieren und zeigen ein ähnliches Verhalten wie depressive Menschen. Sie sind apathisch, teilnahmslos, ohne Freude und funktionieren einfach nur. Das sind die langfristigen Folgen.

Reizüberflutung
Lisa Rädlein

Welche Reaktion zeigen Pferde auf Überforderung?

Der aktive Typ geht in die Konfrontation, wenn er dauerhaft gestresst wird. Er dreht völlig über die Uhr, reißt die Augen auf, hat einen hohen Muskeltonus. Das Tier sucht die Interaktion mit seinem Umfeld. Oft werden diese Pferde aggressiv und richten ihren Frust gegen den Reiter. Sie widersetzen sich den Hilfen, drohen oder beißen.

Der passive Typ ist abwartend bis hinnehmend. Äußerlich wirken die Tiere ruhig und eher in sich gekehrt. Die Pferde ergeben sich in die Lage. Der Frust der Tiere ist nicht so offensichtlich wie beim aktiven Typ. Deshalb gilt für den Reiter: Er muss bei solchen Pferden noch genauer hinschauen. Eine Überforderung ist weniger offensichtlich. Das Pferd schaltet ab, seine Augen scheinen leer.

Ein offensichtliches Beispiel sind für mich die "tot" trainierten Quarter Horses, die Kommandos nur noch hinnehmen. Ihre angeborene Neugier ist verloren gegangen. Lektionen und Manöver führen die Pferde zwar technisch korrekt, aber ohne positive Ausstrahlung und Freude aus.

Muss Stress jetzt in jedem Fall vermeiden?

Nein. Kurzeitiger Stress gehört beim Training dazu. Aber: Ich gebe ihn in kurzen, verdaulichen Portionen. Das entspricht dem Lernverhalten der Pferde und ist meines Erachtens vertretbar – und zwar aus Sicherheitsgründen.

Beim Ausritt etwa kann eine Plane wehen. Habe ich das Pferd zuvor daran gewöhnt, passiert es diese gelassener. Auf einem umzäunten Platz oder in der Halle habe ich das Pferd eher unter Kontrolle. Zudem kann ich dort bewusst mit Nähe und Distanz spielen. Und ich kann die Anforderungen von leicht zu schwer steigern.

Ich persönlich halte das Stress-Level beim Gewöhnen an neue Gegenstände und Geräusche anfangs so niedrig, dass Pferde zwar eine Reaktion zeigen und vielleicht etwas Angst haben, aber nicht flüchten wollen.

Will ich ein ängstliches Pferd an einen Sack gewöhnen, nehme ich diesen einfach beim Führen in die Hand und gehe damit vor dem Pferd her. Ich will ihm den Sack gar nicht unbedingt zeigen. Das Pferd darf selbst entscheiden, wie nah es dem Gegenstand kommen möchte. Die Tiere sehen dreidimensional und können den Abstand einschätzen.

Meine Erfahrung zeigt: Irgendwann werden die Pferde von selbst neugieriger und möchten den Gegenstand erkunden, indem sie etwa daran schnuppern. Das ist ein gutes Zeichen. Das Pferd öffnet sich. So ein gewünschtes Verhalten belohne ich, in dem ich den Reiz entferne und mein Pferd entspannen lasse.

Mein Vorgehen ist kein Dogma! Jeder kann Dinge mit seinem Pferd ausprobieren. Es ist nur einfach wichtig, das Pferd gut zu beobachten. Dann erfahre ich auch, welche Lernstrategie gut funktioniert. Ich sollte beim Gelassenheitstraining immer einen guten Abschluss finden. Breche ich zu früh ab, verstärke ich die Angstreaktion – und das Pferd erwartet Böses.

Das Pferd muss immer wieder runterkommen können. Aber dafür muss ich es nicht stundenlang mit einer Aufgabe traktieren. Der bessere Weg: Zurück zu einer leichten Stufe gehen, die das Pferd bewältigen kann. Das reicht als positiver Abschluss.

Wir machen alle Fehler, ich auch. Das dürfen wir uns auch eingestehen. Wir lernen daraus, wenn wir uns bei Unsicherheit Hilfe von einem Profi holen. Und bitte: Stellen Sie Fragen. Das ist erlaubt. Ein guter Trainer kann begründen, warum er was tut. Und er schult das Auge des Schülers mit. Das hilft dem Pferdebesitzer, sein Tier besser zu verstehen. Davon profitieren letztlich alle.

DIe Autorin

Reizüberflutung
Lisa Rädlein

Yvonne Gutsche ist bekannt für actionreiche Shows und Spezialistin für pferdegerechtes Gelassenheitstraining und sicheres Reiten. Die Trainerin arbeitet reitweisenübergreifend, oft beschäftigt sie sich mit Jungpferden und traumatisierten Pferden. Sie betreibt den Double Divide Trainingstable in Bad Wimpfen bei Heilbronn. www.yvonne-gutsche.de