Blickfang: Darf man Pferden in die Augen schauen?
Da schau her!

Das Pferd fühlt sich durch den Blick des Menschen eingeschüchtert, denken viele Reiter. Alles Unsinn, behaupten jetzt amerikanische Wissenschaftler.

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Foto: Astrid Gast

Eine Studentin der Veterinärmedizinischen Universität Pennsylvania/USA läuft auf einer riesigen Weide einer Shetlandpony-Herde ent­gegen. In der rechten Hand trägt sie einen Strick, mit dem sie ein braunes Shetty einfangen will. Ihre Augen fixieren die Augen des Shettys. Das Pony, das zu­frieden inmitten seiner Herde grast, lässt sich geduldig den Karabiner des Stricks in sein Halfter hängen. Fertig. Bleiben weitere 177 Testkandidaten.

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Die Studentin experimentiert mit den Pferden für eine wissenschaftliche Studie. Nach mehreren Wochen steht fest: Es liegt nicht am menschlichen Blick, ob sich ein Pferd einfangen lässt oder nicht. Verstärkt hatten Pferdetrainer in den letzten Jahren behauptet, man solle den Vierbeinern nicht in die Augen sehen, da man sie sonst in Angst und Schrecken versetze.

Wie Pferde sehen: Forscherin leistet Pionierarbeit

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Ohne Zwang mit Pferden umgehen: „Natural Horsemanship“-Instrukteur Berni Zambail.

Die Frage, ob sich Pferde durch den Blick des Menschen eingeschüchtert fühlen, ging bislang noch kein Wissenschaftler auf den Grund. Dr. Sue McDonnell aber wollte Klarheit schaffen. Sie hatte als Kind gelernt, ihr Pferd stets im Auge zu behalten. Dass es den menschlichen Blick missverstehen könnte, wurde ihr nicht beigebracht. Verwirrt durch die Meinungen verschiedener Pferdetrainer, plante sie diese Studie.

Probanden waren halbwilde Shetlandponys und ein bunter Mix aus Pferden verschiedenster Rassen, die täglich Kontakt zu den Studenten der Universität hatten. Jedes Pferd nahm an zwei Durchläufen teil. Im ersten fokussierte die 22jährige Studentin den Kopf des Pferds, im zweiten vermied sie, ihm ins Gesicht zu schauen.

Halbwilde und domestizierte Pferde ließen sich vergleichbar gut einfangen, egal, ob die junge Frau ihnen dabei in die Augen blickte oder nicht. Das Ergebnis überrascht Michael ­Geitner, Pferdeausbilder aus Recht­meh­ring/ ­Bayern, nicht: „Ich habe meinen Kursteilnehmern nie verboten, ihren ­Pferden in die Augen zu schauen. Viel wichtiger ist die Basis zwischen Mensch und Pferd. Und die lässt sich nicht auf den bloßen Augenkontakt reduzieren.“ Michael Geitner ist überzeugt: „Die ­Studie stellt einen Schritt in die richtige Richtung dar.“

Ähnlichkeit: Blick von Mensch und Raubtier gleicht sich

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Raubtierblick: Das Einfangen kann zur Geduldsprobe werden.

Der französische Freiheitsdompteur Jean-François Pignon versteht nicht, warum ein Pferd vor ihm Angst haben sollte, wenn er es betrachtet. „Ich bin doch kein Raubtier“, betont Pignon, der durch seine zwanglosen Pferdedressuren für Furore sorgt. Dieser Aussage widerspricht der Schweizer Berni Zambail, Vier-­Sterne-Senior-Instrukteur nach Pat Parelli: „Unsere Augen sitzen im Gesicht dicht nebeneinander, anatomisch vergleichbar mit der Anordnung der Augen eines ­Tigers. Es kann sein, dass das Pferd uns verwechselt.“

In der Tat: Im direkten Vergleich sind deutliche Parallelen in den Gesichtern von Mensch und Tiger erkennbar. Der Pferdekopf wiederum zeigt augenfällige Abweichungen – Unterschiede zwischen Jägern und Gejagten, die sich im Laufe die Evolution herauskristallisiert haben.

Aber nicht nur die Anordnung der Augen im Gesicht scheint das Pferd zu verleiten, in uns Menschen einen potenziellen Feind zu sehen. Es kommt ebenso darauf an, wie der Mensch dem Pferd in die Augen blickt.

Für Peter Deicke, Tiertrainer aus Holle/Niedersachsen, stellt der direkte Augenkontakt unter ­Tieren in der freien Natur „meist das Vorspiel einer aggressiven Handlung“ dar: „Die Beteiligten erkennen an den Augen, ob der ­andere angriffslustig ist oder sich lieber zurückzieht.“

Deicke schlägt den Bogen zur Be­ziehung zwischen Mensch und Pferd: „Will ich das Pferd zurücktreiben, schaue ich ihm direkt in seine Augen, nicht jedoch beim Einfangen. Es soll sich schließlich nicht fürchten, zu mir zu kommen.“ Jedes Prinzip hat seine Ausnahmen: „Bin ich in mein Pferd verliebt, schaue ich ihm gerne liebevoll in die Augen“, schmunzelt Deicke, der schon viele seiner Tiere zu Fernsehstars gemacht hat.

Locken statt Fixieren: Die Neugier im Pferd wecken

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Das Pferd soll sich für den Menschen interessieren.

Kurd Albrecht von Ziegner, Kavallerieoffizier im Zweiten Weltkrieg und klassischer Pferdeausbilder, sieht seinen ­Pferden sehr gern in die Augen: „Natürlich ist das situationsabhängig. Will ich ein Pferd beispielsweise verladen, ist es förderlich, in die Richtung zu blicken, in die ich gehen möchte, und das Pferd nicht mit meinen Augen zu fixieren.“

Wie das Pferd den Menschen wahrnimmt, hängt nicht bloß von der Ana­tomie des menschlichen Gesichts und dem menschlichen Augenaufschlag ab, sondern auch vom Charakter des Pferds und der Situation, in der Mensch und Pferd aufeinandertreffen. Der US-Studie zufolge ist aber keiner der genannten Faktoren dafür verantwortlich, dass das Pferd den Menschen als Raubtier wahrnimmt.

Kreinberg, Zambail und Co. können diesem Ergebnis nicht ausnahmslos zustimmen. Ist ein Pferd verunsichert oder ängstlich, habe es sich bislang bewährt, den direkten Augenkontakt zu meiden, sagen sie.

Dem Pferd einen Augen-Blick schenken

Die US-Wissenschaftlerin Dr. Sue McDonnell hat bereits konkrete Ideen für Folgestudien: Unterschiedliche alltägliche Szenarios gälte es zu beobachten sowie Pferde in ­Arbeit mit ­unterschiedlichen Menschen zu ob­servieren. Auf die Bedeutung der menschlichen Körperhaltung sollte in diesem Zusammenhang ebenfalls ein stärkeres Augenmerk gelegt ­werden. So beo­b­achtete Dr. Sue McDonnell während ihrer Ex­perimente, dass ­der Gang der Studentin weniger ­entspannt wirkte, wenn sie die ­Pferde mit ihren Augen fixierte.

Berni Zambail stellt Ähnliches bei seinen Kursteilnehmern fest. Er rät ihnen deshalb, zunächst das Pferd nicht mit den Augen zu ­fixieren: „Die Körpersprache hat Vorrang. Ist man in der Lage, diese kontrolliert einzu­setzen, kann man seinem Pferd durchaus auch einen Augen-Blick schenken.“

Catch me if you can

Das Pferd will sich im Paddock oder auf der ­Koppel ­partout nicht fangen lassen, und der Führstrick ist zu kurz, um ihn als Lasso zu benutzen? Einfacher geht’s mit folgenden Tricks.

Westernreiter Peter Kreinberg rät, sich dem Pferd keinesfalls frontal zu nähern: „Die besten Erfolge konnte ich erzielen, wenn ich mich dem Pferd seitlich näherte, am besten sogar von links, und den Augenkontakt voll­ständig mied.” Ausbilder Michael Geitner beobachtete dasselbe Phänomen: „Pferde erschrecken auf der rechten Seite leichter und drehen dann sofort den Kopf, um das ­Geschehen mit dem linken Auge abschätzen zu können.” Die Erklärung, warum eine Annäherung auf der linken Seite des Pferds oft ohne heftige Fluchtreaktionen klappt, liefert der irische Wissenschaftler Jack Murphy: „Das räumliche Sehen wird von der rechten Gehirnhälfte ­gesteuert, die für die linke Körperseite verantwortlich ist. Möglich, dass das linke Auge dadurch dominanter ist als das rechte” (CAVALLO berichtete in Heft 5/2005).

Dauerhafter Erfolg kann sich einstellen, wenn der Mensch den Spieß umdreht. „Die Kunst des Einfangens”, ­beschreibt der Natural-Horsemanship-Instrukteur Berni Zambail, „besteht darin, ein Interesse beim Pferd zu wecken. Es muss seine Idee sein, zu mir zu kommen. Wenn das Pferd dies mit etwas Positivem verknüpft, zum Beispiel einer Belohnung, wird es immer wieder gern zu mir kommen.”

Pferdeausbilder Kurd Albrecht von Ziegner beginnt mit dieser Konditionierung bereits bei seinen Fohlen: „Ich belohne meine Pferde von klein auf, wenn sie herkommen. Sie merken sich das und lassen sich auch später immer wieder gerne einfangen.”

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4 / 2023

Erscheinungsdatum 15.03.2023

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