Darm am Kipppunkt
Den Begriff Kipppunkt kennen wir aus der Diskussion um den Klimawandel. Er beschreibt den Moment, in dem Einflüsse von außen zu starken Veränderungen in einem System führen. Ähnliche Kipppunkte gibt es auch im Pferdedarm: Prasseln zu viele schädliche Einflüsse auf das empfindliche Verdauungssystem ein, kippt es. Es kommt zu einer Dysbiose mit Verdauungsproblemen. In solchen Fällen soll – zahlreichen Tipps im Netz zufolge – eine Darmsanierung helfen. Ist das wirklich so, und welche Hilfestellungen von uns Pferdebesitzern sind nötig? Wir checken, was belegt ist.
Miniatur-Ökosystem: Was führt zu einer Dysbiose im Darm?
Im Darm leben Billionen an Kleinstlebewesen; ein vielfältiger Mix aus Bakterien, Pilzen, Protozoen (Einzeller) und Viren. Für die Gesundheit des von ihnen besiedelten Pferds ist dieses gastrointestinale Mikrobiom enorm wichtig.
Das Miniatur-Ökosystem wird ständig und von vielen Faktoren beeinflusst: "Von der Jahreszeit, der Fütterung und Haltung, dem Alter und Hormonstatus, von Transport und Medikamenten...”, zählt Prof. Dr. Angelika Schoster auf. Sie leitet seit einem Jahr die Pferdeklinik der Ludwig-Maximilians-Universität München, war zuvor am Tierspital der Universität Zürich und forscht zum Thema Mikrobiom. "Bei Pferden konnte gezeigt werden, dass die Darmflora wenig zeitstabil ist, und auch bei derselben Haltung und Fütterung in einem Stall gibt es individuelle Unterschiede von Pferd zu Pferd.”
Das erschwert die Antwort auf die Frage: Wie sieht "das” gesunde Mikrobiom beim Pferd aus? Welche Mikroorganismen sollten hier in welcher Anzahl und Verteilung leben? "Wir wissen bislang nur sehr grob, wie eine gesunde Darmflora aussehen könnte. Von Details bei individuellen Pferden sind wir noch sehr weit entfernt”, so Prof. Schoster. Dafür weiß die Forschung aber, was zur Dysbiose führen kann.
An erster Stelle stehen bestimmte Medikamente wie Antibiotika und einige nicht-steroidale Entzündungshemmer. Antibiotika, egal welcher Klasse, führen zu einer deutlichen Dysbiose, die auch nach sechs Monaten noch teilweise nachweisbar ist, erklärt Prof. Schoster. Die Antibiotika töten zwar die Bakterien, die die Erkrankung verursacht haben, erwischen aber auch die Mikroorganismen, die im Darm leben – und die dann absterben. Auch Faktoren wie Transport, Fasten und Operationen können Dysbiosen auslösen.
Anja Beifuß von Futtermittelhersteller HBD hält auch Stress für einen Auslöser: "Der schlägt Pferden auf den Magen und sich aufgrund des veränderten pH-Werts auch im Mikrobiom des Dickdarms nieder.” Die Fütterung hat ebenfalls einen großen Einfluss. Vor allem Schadstoffe wie Schimmelpilze machten dem Mikrobiom zu schaffen, sagt Fütterungsexpertin Dr. Susanne Weyrauch-Wiegand, gefolgt von "überschießenden Zufuhren an energieliefernden Nährstoffen wie Zucker, Stärke oder Fetten”. Erhalte das Pferd zudem nicht ausreichend Mineralien, könnten sich Mikroben nicht vermehren.

Alles andere als allein auf weiter Flur: Im Pferdedarm leben Billionen von Pilzen, Bakterien und Viren.
Ursache oder Folge: Wie äußert sich eine Dysbiose?
Hier sind die drei Expertinnen unterschiedlicher Ansicht. "Blähungen, weicher Kot, Kotwasser und Durchfall können auf Dysbiosen hinweisen", sagt Dr. Weyrauch-Wiegand. Anja Beifuß ist der Meinung, dass eine Dysbiose zur chronisch schleichenden Entzündung (silent inflammation) führt. Die Konsequenzen reichen ihr zufolge von psychischen Auffälligkeiten über chronische Hufrehe bis zu Koliken, Colitis (akute Entzündung im Dickdarm) oder Inflammatory Bowel Disease (IBD, chronische Entzündung der Darmschleimhäute).
Dass eine Dysbiose oft mit lebensgefährlichen Erkrankungen einher geht, sieht auch Prof. Schoster so: "Man weiß, dass bei Erkrankungen wie Colitis, Grass Sickness, Hufrehe und Equinem Metabolischen Syndrom das Mikrobiom gestört ist.” Nur: Was war zuerst da, die Dysbiose oder die Erkrankung? Typische Dysbiose-Symptome wie Durchfall zeigen sich erst dann, "wenn das Pferd schon in eine Dysbiose hineingeraten ist. Es ist daher noch unklar, ob eine Dysbiose eine Folge dieser Erkrankungen ist oder sie erst auslöst”, erklärt Prof. Angelika Schoster. Blähungen, Schlechtfuttrigkeit oder auch Kotwasser sieht die Professorin nicht als Belege für eine Dysbiose: "Hier konnte die Forschung bisher in punkto Darmflora keine Unterschiede bei gesunden und betroffenen Pferden feststellen.”
Eine gestörte Darmflora hat aber noch andere Folgen. Aus der Humanforschung ist die sogenannte Darm-Hirn-Achse bekannt, ein Zusammenspiel zwischen Darm, den darin lebenden Mikroorganismen sowie dem Gehirn und dem Nervensystem. Parkinson, Alzheimer oder Autismus könnten durch eine Dysbiose im Darm ausgelöst werden, über die Darm-Lungen-Achse möglicherweise auch Asthma.
Beim Pferd sind die Forschungen noch nicht so weit vorangeschritten. Zwei Studien (Bulmer et.al., 2019, und Destrez et.al., 2015) geben aber erste Hinweise, dass es auch beim Pferd ein solches Zusammenspiel geben könnte. Vierbeiner, die etwa in der Studie von Destrez stärkereich gefüttert wurden, waren wachsamer, nervöser, angespannter und hatten höhere Herzfrequenzen als die Tiere, die eine rohfaserreiche Ration erhielten. Die wissenschaftliche Bestätigung des Reitersprichworts "Den sticht der Hafer” also.
Differenzen: Wie aussagekräftig sind Kotanalysen?
Weiß man, was hinten aus dem Darm rauskommt, könnte man Rückschlüsse auf das ziehen, was vorne im Darm fehlt. Weil man aufgrund der Forschung, die noch in den Kinderschuhen steckt, aber eben noch gar nicht weiß, was vorne fehlt (oder vorhanden sein sollte), kann man aus einer Kotanalyse kaum Rückschlüsse auf eine Dysbiose ziehen. Die Erfahrung hat auch Anja Beifuß gemacht: "Selbst von Laboren, die mit einer Kotanalyse werben, bekam ich oft nur unzureichende Ergebnisse.”
Prof. Dr. Angelika Schoster sieht nach derzeitigem Forschungsstand noch keinen Nutzen in Kotuntersuchungen beim einzelnen Pferd. Zumindest nicht in der breiten Praxis: "In der Forschung arbeiten wir natürlich damit, aber da gehen wir anders vor und vergleichen Gruppen von Pferden in Zusammenhang mit Einflussfaktoren, nicht individuelle Pferde.”
Wird ein Pferd beispielsweise in der Klinik mit akutem Durchfall behandelt, wird dessen Kot speziell nach Erregern durchforstet, die diesen auslösen könnten. Salmonellen zählen beispielsweise dazu, aber auch Bakterien wie Clostridium difficile oder Equines Coronavirus. In solchen Einzelfällen und mit gezieltem "Suchauftrag” können Kotanalysen hilfreich sein.
Ein gutes Umfeld: Was bringt den Darm wieder in Balance?
Die wichtigen Mikroben im Darm können nur wachsen, wenn das Umfeld passt, davon ist Dr. Susanne Weyrauch-Wiegand überzeugt und zitiert den Mediziner Claude Bernard: "Die Mikrobe ist nichts, das Milieu ist alles.” Sprich: "Gute Grundfutterqualitäten entlasten Darm und Leber. Zusammen mit einer passenden Spurenelementversorgung kann sich dann das Milieu zum Guten ändern, denn durch das Heu erfolgt ständig ein Eintrag von Mikroorganismen”, erklärt die Fütterungsexpertin.
Anja Beifuß plädiert ebenfalls für Heu bester Qualität. Sie empfiehlt ihren Kunden zudem, in der Fütterung auf Getreide, Zuckerzusätze und Kräuter zu verzichten. Denn Getreide hat Auswirkungen aufs Mikrobiom: Faserreiches Futter wie Heu wird vor allem von Bakterien der Gruppen Fibrobacter spp., Ruminococcaceae und Lachnospiraceae zerlegt. Studien (Daly et.al., 2012, Zhu et.al., 2021, oder Warzecha et.al., 2017) zeigten, dass diese Bakteriengruppen abnahmen, wenn Pferde eine getreidereiche Ration bekamen.
Sehr gutes Heu sowie ein aufs Pferd und dessen Bedarf gut abgestimmtes Mineralfutter sind also die Basis, damit sich die Darmflora erholen kann. "Sanieren” kann man den Darm nicht, meint Prof. Angelika Schoster. Aber die Forschung verfolgt verschiedene Ansätze, wie sich die Darmflora bei einer Dysbiose unterstützen lässt. Zum Beispiel durch Probiotika, "aber hier haben wir noch keinen durchschlagenden Erfolg etwa bei Durchfall oder positive Veränderungen der Darmflora gesehen.”
Für einen interessanten Ansatz hält die Forscherin Symbiotika, also Stoffe, die den "guten” Bakterien im Darm zu wachsen helfen. "Aber auch hier wissen wir noch zu wenig darüber, was überhaupt gute Bakterien sind.”
Bei Pferden mit massiver Dysbiose hat Prof. Schoster recht gute Erfahrungen mit Fäkaltransplantationen gemacht. Hierfür wird der Kot eines gesunden Pferds aufbereitet und dann per Nasenschlundsonde dem kranken Tier verabreicht. "In zwanzig Jahren sind wir vielleicht so weit, genau die Bakterien geben zu können, die das Pferd braucht”, prognostiziert Prof. Schoster.
Die Rolle des Mikrobioms
Damit das Pferd einen Großteil seines Futters überhaupt verdauen kann, braucht es das gastrointestinale Mikrobiom. Die Mikroorganismen bzw. die von ihnen produzierten Enzyme spalten nämlich die Futterbestandteile Cellulosen und Hemicellulosen und wandeln sie in flüchtige Fettsäuren um. Damit deckt das Pferd einen wesentlichen Anteil seines Energiebedarfs. Auch ein Großteil der Immunzellen sitzt im Darm.
Schätzungen beim Menschen gehen davon aus, dass bis zu 10¹⁴ Mikroorganismen in ihm leben; "das entspricht 22 000-mal der Weltbevölkerung”, ordnet Prof. Schoster ein. Beim Pferd dürften es nicht weniger sein.
Im Pferdedarm leben vor allem anaerobe Bakterien der Gruppe der Enterobacteriacaea. Auch wenn derzeit über 1 000 Bakterienspezies bereits bekannt sind: Schätzungsweise 95 Prozent sind es noch nicht. Erst seit einigen Jahren gibt es die "next generation sequenzing”-Methode, die es erlaubt, Millionen von DNA-Fragmenten der Darmbakterien gleichzeitig zu analysieren.
Pro-, Prä- und Post-Biotika
Präbiotika sind unverdauliche Kohlenhydrate, erklärt Maike Rakebrandt, Produktmanagerin bei der Firma Leiber. Sie gelangen bis in den Dickdarm, dienen dem Mikrobiom als Nahrung und der Produktion von gesundheitsfördernden Metaboliten wie Butyrat. Präbiotika sind Bierhefezellwände (MOS), inaktivierte Bierhefe oder das aus Topinambur gewonnene Inulin.
Probiotika sind lebende Organismen wie Lebendhefen; nur sehr wenige sind für Pferde zugelassen. Ihre Wirkung ist umstritten. "Die Kernfrage ist: Gelangen Probiotika tatsächlich vermehrungsfähig in den Dickdarm, und ist eine Vermehrung dort überhaupt gewünscht? Wohl eher nicht.”
Postbiotika sind inaktive Organismen, ihre Fragmente oder Stoffwechselprodukte (Metaboliten). "Die European Food Safety Authority hat diese Definition bisher nicht autorisiert”, so Rakebrandt, weil diese zu ungenau sei: Alle Präbiotika und im Darm inaktivierte Probiotika seien somit auch Postbiotika. Es fehlten ausreichend Studien zu Abgrenzung und konkretem Nutzen.