Pferde sehen die Welt mit anderen Augen als der Reiter. Sie erkennen die Signalfarbe Rot nicht, galoppieren im Dunkeln zielsicher über die Koppel, registrieren selbst bei gleißendem Sonnenlicht jede kleine Bewegung am Horizont und erschrecken besonders leicht bei fremden Objekten auf der linken Seite. Wer die Sichtweise des Pferds kennt, hat es beim Reiten und im Umgang mit dem Tier leichter. Reiter sollten also ihren Blick schärfen. Sie werden sehen: Es gibt viel zu entdecken.
Pferde sind als Fluchttiere darauf angewiesen, Feinde möglichst schnell zu erkennen, um sich in Sicherheit zu bringen. Ihre großen Augen, die seitlich am Kopf sitzen, bieten deswegen fast einen Rundumblick von 360 Grad. Sie nehmen unabhängig voneinander Bilder auf (monokular) und legen sie im Gehirn übereinander. Mit jedem einzelnen Auge kann das Pferd nach vorne, zur Seite und nach hinten schauen. Das linke Auge ist mit der rechten Gehirnhälfte verbunden, das rechte Auge mit der linken Gehirnhälfte. Bei der Verknüpfung hakt es jedoch. Deshalb gehen Pferde an manchen Gegenständen von der einen Seite gelassen vorbei und scheuen auf der anderen Seite. Sie erkennen den Gegenstand schlicht nicht wieder. Forscher der Universitäten Rennes in Frankreich und New England in Australien stellten fest, dass Pferde meistens auf dem linken Auge scheuen, weil rechts das emotionale Gehirnzentrum liegt. Sie konfrontierten 68 Pferde mit einem unbekannten Objekt: Pferde, die sich sehr aufregten, bevorzugten das linke Auge; ruhigere Tiere schauten sich den Gegenstand mit rechts an.

Was Pferde nur mit dem linken oder rechten Auge betrachten, sehen sie zweidimensional. „Der Bereich, in dem Pferde räumlich sehen können, liegt bei 15 bis 20 Grad“, sagt Dr. Willy Neumann, Fachtierarzt für Augenheilkunde an der Tierklinik Hochmoor in Gescher/Nordrhein-Westfalen. Dennoch ist dreidimensionales Sehen für Pferde wichtig. Wenn sie sich etwas genauer ansehen möchten, versuchen sie, den Gegenstand ins räumliche Sichtfeld zu bekommen, beobachtet Dr. Willy Neumann. Deshalb sollte der Reiter dem Pferd den Kopf freigeben, wenn es ein Objekt näher beäugen will. Pferde, die auf einem Auge blind sind, können nicht räumlich sehen. Zudem fehlt ihnen ein großer Teil des Sichtfelds. Deswegen reagieren sie oft schreckhafter und brauchen viel Kopffreiheit, damit sie mit einem Auge möglichst viel von der Umwelt wahrnehmen können.
Mit zwei gesunden Augen ist der Rundumblick nur minimal eingeschränkt. Direkt vor der Pferdenase liegt ein toter Bereich, der etwa 50 bis 80 Zentimeter groß ist. Zum Vergleich: Beim Menschen sind es 15 bis 40 Zentimeter. Auch direkt hinterm Schweif sieht das Pferd nichts, ohne den Kopf zu drehen. Deswegen stimmt die alte Reiterregel, nicht direkt von hinten auf Pferde zuzugehen, sondern sich von der Seite zu nähern. Pferde sehen die Welt weniger farbenfroh als Menschen. „Pferde haben nur zwei verschiedene Arten von Zapfen“, sagt Augenexperte Neumann. Sie sind sogenannte Dichromaten. Wissenschaftler gehen daher davon aus, dass Pferde Farben ähnlich wahrnehmen wie Menschen mit Rot-Grün-Schwäche. „Pferde können Blau und Gelb am besten sehen“, sagt Dr. Willy Neumann. Die rote Signalfarbe eines Hindernisses im Parcours springt dagegen nur dem Reiter ins Auge, das Pferd erkennt sie nicht.
Pferde sehen anders als Menschen
In der Dämmerung und im Dunkeln sehen Pferde besser als Menschen, und sie können sogar bei Mondlicht noch Farben erkennen. Sie haben eine Art Restlichtverstärker im Auge. Dieses Tapetum lucidum spiegelt nicht nur Licht, das die Netzhaut bereits passierte, sondern wirft es nochmals zurück. Auch Katzen, Hunde, Rehe und viele andere nachtaktive Tiere haben diese reflektierende Schicht hinter der Netzhaut. Zudem haben Pferde drei Mal so viele Rezeptoren auf der Netzhaut, die Helligkeitsunterschiede erfassen. Um von hell auf dunkel umzuschalten, braucht das Pferd allerdings Zeit. „Es dauert zwei bis drei Minuten, bis sich die Pupille geweitet hat“, sagt Dr. Neumann. Das erklärt, warum etwa Buschpferde immer wieder Probleme haben, wenn sie von der Sonne in ein schattiges Waldstück springen. Von dunkel auf hell kann das Pferd dagegen binnen zwei bis drei Sekunden wechseln. Die querovalen Pupillen des Pferds sind zudem optimal, um selbst bei grellem Sonnenlicht und zum Grasen gesenkten Kopf den Horizont zu überblicken.
Doch sehen Pferde ihre Umwelt glasklar oder eher verschwommen? Immer wieder heißt es, sie könnten nur unscharf sehen, weil ihnen der Ziliarmuskel fehlt. Dieser Muskel sorgt im menschlichen Auge fürs Umstellen von Nah- auf Fernsicht, was im Fachjargon akkomodieren heißt. Er stellt die Linse so ein, dass wir sowohl Objekte in der Entfernung als auch in der Nähe scharf anvisieren können. „Dass Pferden dieser Muskel fehlt, bedeutet allerdings nicht, dass sie nicht scharf sehen können“, betont Augenexperte Neumann. Pferde haben dazu vermutlich nur einen anderen Mechanismus, zum Beispiel, ihre Kopfhaltung zu verändern. Dass Pferde wie Menschen kurz- oder weitsichtig sind, dürfte die absolute Ausnahme sein. Bei Hunden gibt es Untersuchungen zur Fehlsichtigkeit. Das Ergebnis: 98 Prozent aller Hunde sind normalsichtig. Dr. Willy Neumann geht davon aus, dass das bei Pferden ähnlich ist. Nur ohne Linse wäre der Blick beim Pferd verschwommen. „Es könnte zwar sehen, allerdings nicht scharf “, sagt der Augenexperte. Defekte Linsen, etwa bei Tieren mit Grauem Star, können Veterinäre inzwischen sogar durch künstliche Linsen ersetzen. Kontaktlinsen für Pferde gibt es ebenfalls, doch sie dienen nicht als Sehhilfe. Tierärzte setzen solche Bandagelinsen bei Krankheiten ein, zum Beispiel bei Pferden mit Hornhautverletzungen.
Hintergrund: Mondblindheit bei Pferden – ERU
Mondblindheit (Equine Rezidivierende Uveitis, ERU) ist die häufigste Ursache fürs Erblinden bei Pferden. Die schmerzhafte Krankheit, auch periodische Augenentzündung genannt, wird in 95 Prozent der Fälle durch eine Leptospireninfektion verursacht. Leptospiren sind Bakterien, die hauptsächlich von Ratten und Mäusen übertragen werden. Wichtig: Rufen Sie sofort den Tierarzt, wenn Sie verdächtige Symptome wie geschwollene Lider, gerötete Bindehaut oder Tränenfluss bemerken.
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