Die Verantwortung für ein lebenswertes Leben
Eigentlich sollten die Haflinger den Sommer genießen. An schlechten Tagen zwickten die Knochen des 35-jährigen Wallachs und der 31-jährigen Stute zwar. An guten Tagen galoppierten sie aber munter über die Weide. Und dann kam ihr letzter Tag. Beim Veterinäramt ging eine Anzeige ein, die Haflinger seien abgemagert und vernachlässigt. Sah der Amtsveterinär vor Ort teilweise auch so und verlangte: Wallach töten lassen, Stute in einen neuen Stall umziehen. Die Besitzer wollten ihre Tiere, die 30 Jahre miteinander verbracht hatten, jedoch nicht auseinander reißen und die Stute alleine lassen. Also ließen sie schweren Herzens beide Pferde einschläfern.
Diese Leserzuschrift bewegte uns in der CAVALLO-Redaktion. Und sie warf Fragen auf. Fragen, die uns Pferdebesitzer früher oder später alle betreffen können, wenn unsere Vierbeiner älter, gebrechlicher oder schlichtweg krank werden: Was definiert die Lebensqualität eines Pferds? Gibt es allgemeine Punkte, an denen wir uns orientieren können? Und vor allem: Wo beginnt das Leiden – und wo endet die Lebensqualität?
Zäumen wir das Pferd mal von hinten auf, also: aufs Lebensende hin betrachtet. Dass wir Reiterinnen uns früher oder später, beim eigenen Pferd oder einem aus dem Freundes- oder Bekanntenkreis die Frage stellen, wie lebenswert dessen Leben (noch) ist, hat einen ethischen Hintergrund. "Denn ob und wie Pferde leben, hängt in unserer heutigen Lebenssituation von uns Menschen ab", sagt Prof. Peter Kunzmann. Er hat die Professur für Angewandte Ethik in der Tiermedizin an der Stiftung TiHo Hannover inne und erklärt: "Wir haben ganz grundsätzlich die Verantwortung für das Leben der Pferde. Wir haben aber auch die Verantwortung dafür, dass wir das Leben beenden, wenn es dem Pferd nicht mehr zuträglich ist, sondern wenn das Leben für es nur noch erträglich ist."
Das Leben ist höchstes Gut – bis zu einer Grenze
Das Leben eines Tiers als besonderes Schutzgut ist im Tierschutzgesetz verankert (siehe Abschnitt "Rechtliche Hintergründe") und darf nicht ungerechtfertigt verletzt werden. Aber das Tier darf auch nicht "irgendwie am Leben" erhalten werden, wenn sein Wohlbefinden nicht mehr gewährleistet wird und ihm das Weiterleben Schmerzen oder Leiden zufügt. "In beiden Fällen machen wir uns schuldig am Pferd", sagt der Ethik-Professor. Bleibt als moralische Aufgabe für jeden Tierbesitzer also herauszufinden, wo die Grenze zwischen "zuträglich" und "erträglich" verläuft. Diese Einschätzung, gibt Prof. Kunzmann zu, sei schwierig, in doppelter Hinsicht: Einerseits, weil die Antwort immer vom einzelnen Tier und seinen Lebensumständen abhänge. Andererseits, weil eine solche Entscheidungsfindung den Tierbesitzer emotional belasten kann. "Aber grundsätzlich gilt für diese Entscheidung – aus rechtlicher, moralischer und ethischer Sicht – immer derselbe Maßstab: Nämlich ob ich einem Tier, dem es nicht gut geht, eine wünschenswerte Zukunft einrichten kann, in dem es ihm gut geht."
Dafür müssten Tierbesitzer alle möglichen Alternativen prüfen. Welche medizinischen Behandlungsmöglichkeiten gibt es? Lassen sich die Haltungsbedingungen verändern und verbessern, womöglich gar durch einen Besitzerwechsel? "Eine mögliche Euthanasie", betont Prof. Kunzmann, "ist die ‚ultima ratio’, das letzte Mittel am Ende dieser Prüfung von Alternativen."
Gehen wir nun vom Lebensende gedanklich zwei Schritte zurück. Was sind überhaupt Anzeichen dafür, ob es einem Pferd gut geht? Amtsveterinärin Friederike Hänsch, Mitglied im Arbeitskreis Pferde der Tierärztlichen Vereinigung für Tierschutz (TVT), sagt: "Pauschal kann man davon ausgehen, dass ein Pferd Lebensfreude hat, wenn es seine arteigenen Verhaltensweisen ausleben und befriedigen kann." Verhaltensexpertin Dr. Margit Zeitler-Feicht sieht das genauso: "Kann ein Pferd seinem Fress-, Ruhe-, Komfort-, Bewegungs- und Sozialverhalten nachkommen, können wir von Wohlbefinden und damit von Lebensqualität für das Tier ausgehen."
Einige Einschränkungen sind fürs Pferd massiv
Wenn das Pferd diesen essenziellen Verhaltensweisen nicht mehr oder nur noch eingeschränkt nachkommen kann, büßt es also an Lebensqualität ein. Was wiederum Pferdebesitzer automatisch zu Friederike Hänschs Frage führt: "Wie viel kann, wie viel muss vom Gesamtpaket übrig bleiben, sodass unterm Strich noch ausreichend Positives fürs Pferd steht?"
Eine pauschale Antwort auf diese Frage, da sind sich Friederike Hänsch und Dr. Margit Zeitler-Feicht einig, gibt es nicht. Aber es gibt Punkte, die für ein besonders großes Minus sorgen. "Das Herdenverhalten ist beispielsweise sehr groß", erklärt Friederike Hänsch. Fressen, ruhen und interagieren Pferde mit ihren Herdenmitgliedern, ist das ein positives Zeichen. "Findet das nicht mehr statt und das Pferd zieht sich aus der Herde zurück, ist das schon ein sehr deutliches Signal, dass etwas nicht stimmt", findet Friederike Hänsch.

Loszulassen fällt schwer. Was dabei hilft: die Sicht des Pferds einzunehmen.
Auch das Ruheverhalten macht einen großen Teil der Lebensqualität aus, sagt Dr. Zeitler-Feicht. "Ist das Pferd nicht in der Lage, sich abzulegen, kann es auf Dauer eine REM-Schlafstörung entwickeln." Das Pferd fällt im Stehen von einer Wach- oder Tiefschlaf- in die REM-Schlafphase. Weil dabei der Muskeltonus nachlässt, taumeln oder stürzen die Pferde. Ursache kann schwere Arthrose sein, häufiger sind es Haltungsmängel.
Manchmal sind auch mehrere Verhaltensweisen zugleich betroffen. Ein konkretes Beispiel: Kann ein Pferd aufgrund von orthopädischen oder metabolischen Erkrankungen nicht mehr wie üblich mit seiner Herde auf die Weide, ist es im Fress-, Sozial- und Bewegungsverhalten eingeschränkt.
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