Das Pferd gelassener machen: bewusst an die Herausforderung
Auch wenn Pferde seit mehreren Tausend Jahren domestiziert und unsere treuen Begleiter sind: "Wir müssen uns immer bewusst machen, dass wir sie nicht in ihrer natürlichen Umgebung halten”, betont Verhaltensexpertin Dr. Vivian Gabor. Aber: "Unsere Pflicht als verantwortungsvolle Pferdebesitzer ist es, sie an unsere Umwelt zu gewöhnen, damit sie ihr gelassen begegnen können. Das ist aktiver Tierschutz!”
Heißt: raus aus dem gewohnten Stallumfeld, hinein ins Ungewisse – aber, logo, mit Köpfchen. Das Pferd scheut vor den Kühen oder Schafen auf der benachbarten Weide? Der knatternde Traktor ist unheimlich? Die Autos an der Straße fahren viel zu schnell vorbei? Hinter den Hecken des Schrebergartens verstecken sich Monster? Allen Herausforderungen können wir uns mit dem richtigen System nähern – bis sie für unsere Pferde keine (vermeintliche) Gefahr mehr darstellen. Gleichzeitig sorgen wir so dafür, dass unsere Pferde nervenstark werden und in ähnlichen Situationen merken: Hey, so etwas haben wir schon mal bewältigt!

Traktoren gehören in nahezu jedem Stall zum (gewöhnungsbedürftigen) Alltag. Umso wichtiger also, dass das Pferd beim Vorbeifahren gelassen bleibt.
Auch das Wetter können wir für unsere Zwecke nutzen: "Also ruhig mal in der Dämmerung rausgehen, wenn es windet, regnet oder schneit”, findet Vivian Gabor. Die vielen Umweltreize, die hier aufs Pferd einstürmen (Fühlen, Hören, Sehen, Riechen), kurbeln den Stoffwechsel an. "Wind und Dämmerung haben zudem einen psychologischen Faktor: Sie sind wie eine Art Vertrauenstraining und machen mutiger.”
Nervenstärke will gelernt sein: Ich sehe was, was du nicht siehst
Gibt’s einen Reiter, dessen Pferd noch nie Gespenster gesehen hat? Bezweifeln wir mal. Kein Wunder, der Sehsinn unserer Vierbeiner ist ja auch perfekt auf den Fluchtinstinkt abgestimmt: Unsere Pferde haben eine nahezu 360-Grad-Rundumsicht; auch im Dämmerlicht und bei Nacht können sie – der hohen Anzahl an Stäbchen in der Netzhaut sei Dank – problemlos und viel besser sehen als wir. Dafür wird alles ab ungefähr zehn Metern Entfernung unscharf. Und was man nicht genau erkennen kann, vor dem flieht man lieber, bevor es einen frisst. Sicher ist sicher!
Da wird die Tüte im Gebüsch beim Spaziergang oder Ausritt schon mal zu einer nervenaufreibenden Herausforderung fürs Pferd. "Am besten mache ich keinen Hype um Sachen”, meint Dr. Vivian Gabor. Schön und gut, nur was ist, wenn mein Pferd einen Hype daraus macht?

Eine Tüte im Gebüsch bewegt sich und raschelt noch dazu. Der "Gefahr" stellen wir uns!
Gelassen bleiben, sagt Vivian Gabor: "Einfach mal schauen, was in so einer Situation möglich ist. Ganz ohne Druck aufzubauen, irgendeinen Gruselgegenstand von Nahem anschauen zu müssen, sondern wirklich ausprobieren, was geht und was das Pferd anbietet.”
Oft ist das erstaunlich viel; selbst bei Pferden, die eher in die Kategorie Drama-Queen fallen. Vivian Gabors Stute Lisi gehört zu solchen Pferden. Für unser Fotoshooting musste die Trainerin mit Lisi mehrmals an einer großen Altpapiertonne vorbei, die am Hofeingang stand. Lisi machte jedes Mal einen Kragen, riss die Augen auf und blähte die Nüstern – nur um dann wenige Augenblicke später die gefährliche Mülltonne mit den Nüstern anzustupsen. Geht doch! Nervenstärke will eben gelernt sein.

Monster in der Mülltonne: Solche Alltagsgegenstände können durchaus herausfordernd und nervenaufreibend für unsere Pferde sein.
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Die Expertin für gelassene Pferde im Interview
CAVALLO: Unsere Pferde werden gelassener, wenn sie die Umwelt mit allen Sinnen aufnehmen. Wie kann denn Riechen & Co. cooler machen?Dr. Vivian Gabor: Dahinter steckt das Konzept der sensorischen Integration. Das kommt aus dem Humanbereich und sagt, in Kurzform: Das Gehirn nimmt Sinnesreize auf, verarbeitet sie und macht sie so nutzbar. Das wiederum ist Voraussetzung dafür, dass man seinen Körper besser erfasst oder generell lernen kann. Unsere Pferde sind pure Integrationswesen, sie nehmen so viel über ihren Körper wahr; das vergessen wir nur oft. Wenn diese Sinneskanäle nicht genutzt werden, verkümmern sie, sie deprivieren – und das hat psychische Auswirkungen. Wenn ich gezielt die Sinne bei meinem Pferd anspreche, fördere ich es in seinem ganz natürlichen Wesen. Und ich stärke mein Pferd in seiner Selbstwirksamkeit.
Sinneseindrücke können Pferde manchmal stressen. Typisches Beispiel: Schafe. Riechen anders als Pferde, sehen anders aus und hören sich anders an. Das kann mein Pferd ängstigen. Wenn ich ihm zeige: Pass auf, diese Reize kannst du bewältigen – dann erfährt es, dass es sich in Stresssituationen helfen kann. Es wird selbstwirksam. Fördere ich dieses Verhalten, also sich dem Unbekannten zu stellen, bekomme ich von meinem Pferd mehr Motivation, Explorationsverhalten und Neugier geschenkt. Und es stärkt unsere Beziehung: Ich zeige ihm, wie es Stresssituationen bewältigen kann. Damit schaffe ich Vertrauen und werde zu einer positiven Leitfigur für mein Pferd.
Ich würde eher sagen, man sollte sein Pferd aus Liebe Herausforderungen aussetzen. Wenn es aus Liebe geschieht, dann ist es richtig. Denn damit helfe ich ihm letztlich, sich in seiner Umwelt zurechtzufinden. Ich stärke es, ich lasse uns beide wachsen. Und Stress ist nötig, um zu wachsen. Wenn man versucht, sein Pferd vor Stress zu bewahren, wird es ihn nicht besser bewältigen, sondern schlechter.
Der stressfreie Bereich ist die Komfortzone. Stell sie dir wie einen Kreis vor. Wenn man nichts tut, das Pferd von Reizen fernhält, dann schrumpft diese Komfortzone. Kam man früher mit dem Pferd bis zum Wald, kommt man vielleicht irgendwann nicht mehr vom Hof. Dazu kommt: Nur in der Komfortzone kann man nicht lernen. Das geht nur, wenn man sich aus dem Komfortbereich herausbewegt. Und dafür braucht man einen gewissen Stress. Der ist per se nicht schlimm, in der Natur sind Pferde ständig Stress ausgesetzt. Allerdings nur für Sekunden, in denen sie entscheiden, ob sie kämpfen, fliehen oder alles okay ist. Wenn Stress über Minuten, Stunden oder gar Tage anhält, dann wird er schädlich. Aber wenn ich gezielt Stress-Reize setze, haben sie die Wirkung wie körperliches Training: Man regt den Körper an, sich an diese Reize anzupassen. Das Grundlevel hebt sich. Das ist bei Stress nicht anders.
Ich würde zuerst einige Basics daheim üben. Heißt: Ich muss das Pferd von mir wegschicken und seine Schulter verschieben können. Und ich sollte wissen, wie es bei Stress reagiert: Friert es ein? Bei solchen Pferden hilft es oft, sie aktiver zu halten, etwa ihren Körper zu verschieben. Oder ist es sehr hibbelig? Solche Pferde sollte ich ruhiger bekommen, also genau in dem Augenblick loben, in dem sie ruhig werden. Hilfreich ist auch zu wissen, was fürs Pferd eine Belohnung ist. Meine Stute Lisi steht ungern; für sie ist es eine Belohnung, wenn sie sich bewegen darf. Für andere ist das Stehenbleiben eher ein Lob. Ich gehe auch immer sehr kleinschrittig vor, sodass das Pferd eine Chance hat, die Aufgabe zu bewältigen. Und ich habe eine Exit-Strategie: Wenn ich merke, dass die Spannung im Pferd so groß wird, dass ich sie nicht lösen kann, breche ich auch Situationen ab, bevor es gefährlich wird. Aber vieles kann man mit guter Vorbereitung sehr gut bewältigen.

Dr. Vivian Gabor ist Biologin und promovierte Pferdewissenschaftlerin. Ihr Spezialgebiet ist das Lernverhalten von Pferden. www.ivk-center.de