Mürzel mutiert zum Probeschläfer. Am Kopf der Haflingerstute kleben Elektroden, am Halsriemen prangt ein Sender. Draußen vor der Box stehen ein Mann und eine Frau im weißen Kittel, die nur eins hoffen: dass die kleine Stute endlich wegdämmert.
Mürzel ist eins von zwölf Pferden zwischen fünf und zehn Jahren, an denen Dr. Anna-Caroline Wöhr von der Tierärztlichen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München und ihr Doktorand Kai-Uwe Güntner ihr mobiles Schlaflabor installieren. Sie können als erste Forscher überhaupt den Pferdeschlaf mittels kabelloser Datenübertragung vermessen.
Drei bis fünf Nächte lang wacht bei jedem Pferd ein neues Gerät namens Somnoscreen über den Schlaf. Auf 28 Kanälen misst es per Elektroenzephalogramm (EEG) die Hirnströme, per Elektrookulogramm (EOG) die Augenbewegungen sowie per Elektromyogramm (EMG) die Muskelaktivität.
Auf den folgenden Seiten lesen Sie, was dabei herausgekommen ist und wie Pferde schlafen.





Pferde können träumen
Die typischen Stadien vom Ein- bis zum Tiefschlaf sind identisch. Spannender noch: Auch Pferde haben eine REM-Phase. Die ist bekannt für schnelle Augenbewegungen (rapid eye movement), die der Schlafende anders als in anderen Schlafstadien (Non-REM-Phasen) zeigt. Nur im REM-Schlaf treten Träume auf. Können Pferde also träumen? Dr. Wöhr glaubt: "Ja. Die Hirnströme sprechen dafür, sie gleichen denen des Menschen in der REM-Phase."





Die Schlafzyklen
Anders als beim Menschen wurden diese immer wieder durch Wachphasen unterbrochen. Die Pferde sanken also nicht wie Menschen treppenförmig von Schlafzyklus zu Schlafzyklus in einen immer tieferen Schlaf, sondern durchlebten während eines Zyklus die gesamten Stadien immer wieder aufs Neue. "Kein Wunder", meint Dr. Wöhr, "Pferde müssen schließlich im Gegensatz zum Menschen immer fluchtbereit sein."
Deswegen sind auch ihre Schlafzyklen kürzer als die des Menschen. Nur einige Minuten dauert ihr Tiefschlaf – der Menschen schläft eine halbe bis eine Stunde tief und fest. Insgesamt verbringen Pferde nur etwa vier Nachtstunden schlafend, während der Mensch sieben bis acht Stunden durchschläft. Dafür schlafen Pferde auch am Tag, was den meisten Menschen nicht vergönnt ist.





Pferde schlafen auch im Stehen gut
"Dass sie dabei aber jeweils am tiefsten schlafen, ist ein Irrtum", sagt Dr. Wöhr. Den Tiefschlaf ohne REM-Phase maß sie sowohl bei stehenden als auch bei liegenden Pferden, in der ausgestreckten Seitenlage herrschten REM-Phasen vor.
Dahinter steckt für viele Pferdebesitzer und vor allem für deren Pferde eine gute Nachricht: Auch ältere oder gebrechliche Tiere, die sich nicht mehr hinlegen wollen oder können, müssen durchaus nicht auf tiefen Schlaf verzichten.





Der Atem im Schlaf
Diese Atemtechnik untersucht Dr. Ulrike Auer von der Veterinärmedizinischen Universität in Wien.
"Pferde in Seitenlage atmen in einem Zug ein", sagt sie. "Beim Ausatmen verschließen sie den Kehlkopf, stoppen die Atmung bis zu fünf Sekunden und lassen danach erst die Luft komplett entweichen." Grund für diese Atem-Blocks: "Damit halten Pferde den Druck in der Lunge aufrecht und verhindern, dass ihr Gewicht beim Ausatmen die Lunge zusammendrückt."





Die Bedeutung der REM-Phase
"Es ist lediglich das Geräusch, welches entsteht, wenn der Luftstrom beim kompletten Ausatmen den Kehlkopf passiert."
Die REM-Phase im Seitenschlaf erklärt Dr. Wöhr so: "In ihr ist die Muskelentspannung zwar am größten, die Hirnströme ähneln jedoch der des Schlafstadiums I." Das Pferd befindet sich also nicht im Tiefschlaf, sondern in einem sehr leichten Schlummer, aus dem es ebenso leicht erwachen kann. "Schließlich muss es durch drohende Gefahr sofort aufgeweckt werden, aufspringen und flüchten", erklärt Dr. Wöhr den Sinn.
Während der REM-Phase zucken Mensch und Tier mit den Gliedmaßen. "Doch genauso wie die schnellen Augenbewegungen nicht heißen, dass der Schläfer seinen Traum betrachtet, bedeuten Zuckungen nicht, dass er sich wegen seines Traums bewegt", sagt Psychologe und Schlafforscher David Myers vom Hope College, Holland, im US-Bundesstaat Michigan. "Vielmehr reagiert der Körper auf die überschießende Aktivität im zentralen Nervensystem."
Der Körper ist eine Art Blitzableiter, denn während im Hirn ein Feuerwerk tobt, sind die Muskeln in dieser laut Myers "paradoxen Schlafphase" wie gelähmt. Das liegt am Hirnstamm, der während der REM-Phase die Signale der motorischen Hirnrinde blockiert. Bisweilen aber schwächelt er: "Dann schlagen Lebewesen im Traum wild um sich", sagt Dr. Myers. Oder sie zeigen sexuelle Erregung, was Dr. Wöhr bei ihren Pferden allerdings nicht beobachtete.
Weil das Gehirn in dieser Phase so aktiv ist, nehmen Forscher an, dass es sich und den Körper in dieser Zeit regeneriert. Über die Funktion des Schlafs für das Pferd will Dr. Wöhr jedoch nicht spekulieren. "Die Funktion des Schlafs der Säugetiere im Allgemeinen ist noch unklar", meint sie.
"Die meisten Theorien besagen, das die Non-REM-Phasen der Energieerhaltung und Erholung des Nervensystems dienen, weil in ihnen das Gehirn ruht", so Dr. Wöhr. Während der REM-Phase hingegen sollen sich emotionale Prozesse regulieren, weil Menschen in ihren Träumen Erlebnisse verarbeiten. "Ob auch Pferden Träume zur Verarbeitung dienen, können wir leider noch nicht feststellen."
Nicht ausschließen will sie aber, dass sich bei Tieren im Schlaf festigt, was sie gerade gelernt haben. Das ist bei Menschen der Fall, erklärt Schlafforscher Myers. "Untersuchungen zeigten, dass Schüler, die acht Stunden schlafen, nachdem sie etwas lernten, bessere Noten schrieben."
Myers vermutet, dass Träume die neuronale Vernetzung (Neurogenese, siehe CAVALLO 7/2007) besonders stimulieren, der Mensch also
während der REM-Phase quasi im Schlaf lernt.
Dazu bleibt ausreichend Zeit: Etwa 600 Stunden pro Jahr befindet sich ein Mensch in der REM-Phase, wobei er laut Dr. Myers im Jahr 1500 Träume und im Leben zirka 100 000 Träume träumt. Ein Pferd käme etwa auf die Hälfte pro Jahr.
Den Seinen gibt’s der Herr im Schlaf. "Warum nicht auch den Pferden?" fragt Dr. Wöhr.





Das Schlafprofil der Pferde

Das Hypnogramm zeigt das Schlafprofil einer siebenjährigen Stute aus der Messung von Dr. Wöhr zwischen 21.30 und 6 Uhr. Das Pferd hatte vier Schlafperioden, die jeweils 31 Minuten bis zu 1 Stunde 43 Minuten dauerten, unterbrochen durch häufige Wachphasen. Je länger die roten Striche, desto tiefer schläft das Pferd. Die kleinen blauen Balken zeigen die REM-Phasen. Das Hypnogramm zeigt ebenfalls, dass das Pferd im Liegen wie im Stehen (Schlafzyklus 1) tief schlief.





Schlafstadien bei Mensch und Pferd
Erläuterungen zur Tabelle
EEG – Elektroenzephalogramm
EOG – Elektrookulogramm
EMG – Elektromyogramm





Drei Pferdetypen: Bauchschläfer, Seitenschläfer, Döser
Bauchschläfer

Das Pferd liegt mit eingeschlagenen Beinen auf Bauch und Brust, der Kopf ist erhoben oder stützt sich am Boden ab. Die Mimik gleicht der beim Dösen, die Augen sind aber geschlossen.
Seitenschläfer

Das Pferd liegt mit ausgestreckten Beinen auf der Seite, Hals und Kopf liegen am Boden. Entgegen der bislang herrschenden Auffassung befindet sich das Pferd dabei nicht nur im Tiefschlaf, sondern auch öfter in REM-Phasen. In diesen ist der Körper zwar entspannt, doch die Weckschwelle so niedrig, dass es bei Gefahr sofort aufspringen und flüchten kann.
Döser

Das Pferd senkt im Stehen Kopf und Hals, die Ohren fallen zur Seite, die Augen sind halb geschlossen, die Unterlippe hängt locker. Ein Hinterbein steht locker auf der Zehe, das Standbein wechselt alle paar Minuten. Die Spannsägenkonstruktion der Hinterbeine ermöglicht dieses kräfteschonende Stehen. Dabei hakt das Pferd die Kniescheibe hinter einem Knochenvorsprung des Oberschenkelknochens fest. Gleichzeitig sorgt der starke Fersen-Sehnen-Strang auf der Rückseite des Beins für Stabilität. Zwischen diesen beiden Halterungen sind Ober- und Unterschenkel nun wie eine Spannsäge arretiert. Dr. Wöhrs Messungen ergaben, dass Pferde im Stehen nicht nur dösen, sondern immer wieder für ein bis zwei Minuten in Tiefschlaf sinken. Daraus können sie allerdings bei Gefahr sofort lossprinten.




