Sturz vom Pferd: Gehirnerschütterung

Gehirnerschütterung
Sturz mit Spätfolgen

Veröffentlicht am 20.04.2024
Junge Reiterin fällt vom Pferd während eines Springturniers
Foto: Marta_Kent/ Gettyimages

Ein Sturz vom Pferd kann schnell passieren

Ein plötzliches Scheuen oder ein Freudenbuckler im Gelände – schon ist der Sturz passiert. Nicht immer geht er glimpflich aus: zu hoch ist die Fallhöhe, zu heftig die Beschleunigung. Reiten gehört zu den gefährlichsten Sportarten der Welt. Laut einer US-amerikanischen Studie ist die Wahrscheinlichkeit, nach einem Reitunfall ins Krankenhaus zu müssen, dreieinhalbmal höher als nach einem Motorradcrash. Von den 24.791 für die Erhebung erfassten Reitunfällen ging fast ein Viertel mit Kopf- oder Halsverletzungen einher. Eine, die hier oft völlig unterschätzt wird, ist die Gehirnerschütterung.

"In der EU kommt es zu rund 2,5 Millionen Schädel-Hirn-Traumen pro Jahr, dazu zählt auch die Gehirnerschütterung", berichtet Dr. Julia Schmidt, Fachärztin für Orthopädie und Unfallchirurgie. "In Deutschland passieren jährlich allein etwa 44 000 Schädel-Hirn-Traumen beim Sport." Schmidt reitet seit ihrer Kindheit, heute leitet die Ärztin die Reitersprechstunde am Athleticum des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE). Fast jede dritte Verletzung im Reitsport sei ein Schädel-Hirn-Trauma: "50 bis 60 Prozent davon entstehen durch einen Sturz vom Pferd, 20 Prozent durch einen Sturz mit dem Pferd. Und die restlichen 10 bis 20 Prozent erfolgen durch Trittverletzungen oder andere Anpralltraumen mit dem Pferd."

Reiterin mit Helm
Rädlein

Eine Gehirnerschütterung sollte man ernst nehmen

Gehirnerschütterung – das klingt doch harmlos, oder? Nicht, wenn man hört, was dabei im Kopf passiert. Dr. Wolfgang Kringler, Neuropsychologe und Leiter des Concussion-Centers Südwest in Bietigheim-Bissingen bei Stuttgart, erklärt es so: "Man muss sich das Gehirn im Schädel wie Wackelpudding in einer Schüssel vorstellen. Fällt diese herunter und knallt seitlich auf den Boden, prallt der Wackelpudding zuerst gegen die untere harte Innenwand. Danach schwappt die ganze Masse wieder zurück, klatscht gegen die obere Wand und nimmt danach wieder den ursprünglichen Raum ein."

Beim Sturz reißen Nervenzellen ab

Übertragen auf den Schädel heißt das: "Das ganze Gehirngewebe wird einmal nach unten geschleudert und reißt dabei die Nervenzellen von hinten mit", so Kringler. "Nach dem Aufprall klatscht es nach hinten zurück und zerrt an den Nervenzellen von vorn. Auf den ersten Blick entstehen dabei keine großen Schäden. Aber die Dehnung der Blutgefäße und Nervenzellfortsätze kann enorm sein." Dr. Schmidt bestätigt: "Die schnelle Bewegung des Kopfes ist bei einer Gehirnerschütterung das Problem."

Symptome bei einer Gehirnerschütterung

Eins, das zu einer Palette von Symptomen führen kann, die nicht immer eindeutig sind. "Viele denken, bei jeder Gehirnerschütterung werde man bewusstlos", sagt Dr. Kringler, oder eine Gehirnerschütterung gehe mit Erbrechen einher. "Doch man kann auch ohne Bewusstlosigkeit und Übelkeit eine haben."

Andere Symptome sind Kopfschmerzen, Schwindel, Nackenschmerzen, Müdigkeit, Sehstörungen wie "verschwommenes Sehen", Erinnerungslücken, Balanceprobleme, Benommenheit, Verwirrtheit, Orientierungsschwierigkeiten. Auch Licht- und Lärmempfindlichkeit sowie verlangsamtes Denken können Folgen einer Gehirnerschütterung sein; mitunter sind sogar Geruchs- und Geschmackssinn gestört. "Manche, die auf den Kopf gefallen sind, fühlen sich wie in Watte oder im Nebel", berichtet Neuropsychologe Kringler, "mit dem diffusen Gefühl verbunden, etwas wäre nicht in Ordnung mit ihnen." Auch solche Wahrnehmungen deuteten auf eine Gehirnerschütterung hin. "Ich erkläre die Verletzung immer mit einem Computer, der kurz abstürzt", ergänzt Julia Schmidt.

Ein Sturz vom Pferd hält die meisten Reiter nicht davon ab, direkt wieder aufzusitzen. So bekamen sie es schließlich jahrelang eingetrichtert: Wer fliegt, muss schnell wieder in den Sattel, damit die Angst keine Chance hat. Nach einem Sturz auf den Kopf darf diese Regel nicht gelten. Denn das kann dramatisch enden, weiß Kringler: "Hat das Hirn bereits einen ersten Aufprall erlitten, ist es danach sehr empfindlich. Passiert in diesem Zeitraum noch einmal etwas, ein sogenannter second impact, wie wir Neuropsychologen sagen, kann das zu einer lebensgefährlichen Hirnschwellung führen."

Was tun im Akutfall?

Man selbst oder ein Stallkollege stürzt vom Pferd – so verhalten Sie sich richtig:

Liegenbleiben: Bevor klar ist, was verletzt ist, nicht bewegen und die Lage checken. Wo tut’s weh? Bei starken Nacken-, Kopf- oder Rückenschmerzen sowie Taubheitsgefühlen nicht aufstehen, sondern auf den Notarzt warten.

Erste Hilfe: Bei Bewusstlosigkeit mit Atmung Person in stabile Seitenlage legen und Notarzt rufen. Bei Herz- und Atemstillstand sofort mit der Reanimation beginnen. 112 wählen sollte man zudem bei starken Nacken-, Kopf- oder Rückenschmerzen, Taubheitsgefühlen, Sprech- oder Sehstörungen, offenen Brüchen oder stark blutenden Wunden. Können Gestürzte gehen, haben aber eventuell einen Knochenbruch, sollten sie am selben Tag ins Krankenhaus. Bei Erinnerungslücken, Kopfweh, Schwindel, Übelkeit: ab zum Arzt.

Ruhe und Wärme: Klagt ein Reiter nach dem Sturz über Kopfweh oder Schwindel, sollte diese Person nicht wieder auf das Pferd steigen, an einen ruhigen Ort gebracht und warm gehalten werden. Ist eine Gehirnerschütterung wahrscheinlich, sollte die Person für 24 Stunden nicht allein sein, falls sich die Symptome verschlimmern.

Unsere Experten:

Marc Nölke im Porträt
Lisa Rädlein
Dr. Julia Schmidt
Klein
Hess

Weiterlesen im PDF: