Das reitende Sprechzimmer
Sprechstunde speziell für Reiter

Rückenschmerzen, überstrapazierte Beinmuskeln, Sturzfolgen: Dafür gibt es an der Hamburger Uniklinik extra eine Sprechstunde – für Reiter von Reitern.

Reitersprechstunde
Foto: Maike Klein

In den Moment, in dem ihr klar wurde, dass sie ein Problem hat, kann sich Dr. Meike Sellmer noch genau erinnern. Es war im vergangenen Winter und gerade wollte die 44-Jährige ihrer Stute Lavinia nach dem Reiten die Decke aufziehen – da fuhr ihr beim Heben des rechten Arms ein stechender Schmerz in die Schulter. Jetzt, fast ein Jahr später, sitzt Meike Sellmer im Sprechzimmer von Dr. Julia Schmidt. Die 43-Jährige ist Fachärztin für Orthopädie, Unfallchirurgie und Sportmedizin sowie Stellvertretende ärztliche Leiterin des Athleticums.

Das Kompetenzzentrum für Sport- und Bewegungsmedizin gehört zum Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Hier, mitten in der Hansestadt, hat man sich auf die Betreuung von Sportlern spezialisiert. Die Fußballprofis des Hamburger SV gehen im Athleticum ebenso ein und aus wie Hobbytriathleten oder Menschen, die nach der Reha mit Sport beginnen. Seit 2015 bietet das Athleticum etwas ganz Besonderes an: eine „Spezialsprechstunde für Pferdesportler“ (www. uke.de/athleticum/reitersprechstunde).

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Maike Klein
Meike Sellmer schildert der Ärztin ihr Problem mit der Schulter.

Die Ärztin ritt selbst bis Klasse S in der Dressur

Dr. Julia Schmidt, die selbst bis Klasse S im Dressursport aktiv war, lässt sich als erstes ein Video zeigen. Meike Sellmer, deren Schulterschmerzen unerträglich geworden sind, ist beim Springen auf ihrer Stute zu sehen. „Die Ellbogenführung ist etwas breit“, erkennt die Ärztin. „Die Muskeln für die Zusammenführung der Schulterblätter würde ich mir gern genauer anschauen.“ Es sei ihr wichtig, ihre Patienten vor der Untersuchung möglichst in allen drei Gangarten auf dem Pferd zu sehen, sagt Schmidt: „Ich achte auf die Kopfhaltung, die Beine, die Hilfengebung. Manchmal entdecke ich eine Schiefhaltung oder ein Abknicken.“

Und sie schaue sich das Pferd an: Wie bewegt es sich, wie sieht es im Genick aus, wie ist die Harmonie? Die Idee, eine Sprechstunde für Pferdesportler anzubieten, kam der reitenden Ärztin schon vor einigen Jahren. „Ich habe mir mein Studium mitfinanziert, indem ich Reitunterricht gab. Viele Reiter hatten Beschwerden und ich dachte: Das kann doch nicht sein!“ Als Schmidt die Gelegenheit bekam, eine Anlaufstelle für Reiter im UKE-Athleticum aufzubauen, zögerte sie nicht lange.

„Angefangen haben wir mit einer Sprechstunde pro Monat. Das lief so gut, dass ich irgendwann in Vollzeit angestellt wurde“, erzählt Julia Schmidt. Inzwischen ist sie Verbandsärztin des Landesverbands der Reit- und Fahrvereine Hamburg, betreut Reiter vom Nachwuchskader bis zur Nationalmannschaft und steht im regen Austausch mit dem Deutschen Olympiade-Komitee für Reiterei (DOKR). Weil die Nachfrage auch bei Freizeitreitern groß ist, besteht das „Medical Team Pferdesport“ am UKE- Athleticum inzwischen aus zwei Ärztinnen, drei Physiotherapeuten und einem Athletiktrainer. Dass Reiter Reiter behandeln, hat laut Schmidt nur Vorteile: „Die sportmotorischen Anforderungen des Reitens sind sehr speziell. Für Kollegen, die nicht reiten, kann es schwierig sein zu verstehen, welche Fähigkeiten ein Reiter haben muss und welche Probleme er bekommen kann.“

Reitersprechstunde
Maike Klein
Die macht sich wie eine Detektivin auf die Suche – und findet schließlich den Schmerzpunkt.

Die Schmerzen sind manchmal unerträglich

Meike Sellmers Schulterproblem kommt zwar nicht vom Reiten, könnte es aber bald einschränken. Auf die Frage, wie groß ihre Schmerzen auf einer Skala von eins bis zehn seien, sagt sie: „Manchmal bei zehn.“ Auf dem Pferd spüre sie die Schulter noch wenig, „doch bei man- chen Bewegungen könnte ich an die Decke gehen.“ Eine Behandlung beim Physiotherapeuten mit Massagen hat ihr nicht geholfen, jetzt hofft sie auf die Reitersprechstunde. Sellmer steht nun mitten im Sprechzimmer, die Bluse hat sie ausgezogen. Wie ein Detektiv macht sich Ortho- pädin Schmidt auf die Suche nach der Schmerzursache.

Sie begutachtet Becken, Wirbelsäule und Schultergürtel ihrer Patientin, lässt sie auf einem Bein stehen, sich auf die Zehenspitzen stellen, in die Hocke gehen. „Ich sehe, dass die rechte Schulter ein bisschen höher und nach vorn steht, das Schulterblatt steht heraus wie ein Flügel.“ Schmidt drückt mit dem Daumen von vorn auf Sellmers Schulter. „Tut das weh?“ Fehlanzeige. Auch Arme heben, nach oben strecken, auf dem Rücken verschränken klappt ohne Probleme. Sich mit gekreuzten Händen in den Nacken greifen? Meike Sellmer verzieht das Gesicht. Es folgen weitere Tests – und Julia Schmidt hat nun einen Verdacht: „Einklemmungssyndrom der Schulter mit Schleimbeutel- und Sehnenentzündung.“

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„Bei manchen Bewegungen könnte ich an die Decke gehen“, sagt die Patientin

Auch bei Sitzproblemen hilft die Reiter-Ärztin

Vier von fünf Reitern, die bei der Orthopädin Rat suchen, sind Freizeitreiter. „Unsere Sprechstunde ist für alle da“, betont die Ärztin. „Hobbysportler und Profis, gesetzlich oder privat Versicherte – jeder kann kommen.“ Oft behandelt Schmidt Rückenschmerzen oder Probleme mit den Muskeln der Beininnenseite. „Und dann sind da noch die Reiter, die im Sattel Probleme haben“, erzählt sie. „Die sagen: Ich sitze irgendwie schief auf dem Pferd.“ Oft liege dann ein muskuläres Ungleichgewicht vor, das zu Blockaden und Verspannungen führt. Patientin Meike Sellmer soll sich auf die Untersuchungsliege setzen, die Ärztin möchte die schmerzende Schulter per Ultraschall untersuchen. „Man sieht hier tatsächlich, dass der Ultraschall nicht weiter in die Tiefe dringen kann“, so die Orthopädin mit Blick auf den Monitor.

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Während der Ultraschall-Untersuchung zeigt die Ärztin am Skelett, wo sie gerade ist.

Kalkablagerungen sind im Weg – ein Zeichen für einen chronischen Entzündungsprozess. Für die Ärztin bestätigt sich der Verdacht: Meike Sellmer hat ein akut entzündliches Impingement-Syndrom. Die Supraspinatussehne, die beim Impingement-Syndrom eingeklemmt ist, ist anfällig für Verschleißerscheinungen. „Sicher war der Prozess schon im Gange, bevor die Beschwerden das erste Mal auftraten.“ Bei Meike Sellmer ist die Ursache für die Entzündung nicht etwa das Alter, sondern ein muskuläres Defizit: Die Muskeln, die ihren Schultergürtel stabilisieren, arbeiten nicht optimal zusammen. „Was sie braucht“, so Schmidt, „ist eine funktionelle Physiotherapie, in der sie lernt, ihr Schulterblatt besser zu fixieren und wieder mehr Platz im Schultergelenk zu schaffen.“

Gar nicht so selten hilft das Team der Pferdesportler-Sprechstunde auch dem Pferd. „Wenn der Reiter Blockaden hat, stört er das Pferd in seinem Bewegungsablauf und kann nicht locker mitschwingen“, erklärt Schmidt. „Wird er stabiler im Rumpf und seine Hand dadurch unabhängiger vom Körper, profitiert auch das Pferd.“ Meike Sellmer zuckt zusammen, weil Dr. Julia Schmidt gerade eine Akupunkturnadel in ihren Rücken setzt. Für die Ärztin ist die Schmerzreaktion eine Bestätigung: „Wenn ich den muskulären Triggerpunkt gut treffe, ist das für den Patienten ein elektrisierendes Gefühl, anschließend kommt es zur Entspannung.“ Triggerpunkte sind schmerzhaft tastbare Verknotungen in der Muskulatur. Meike Sellmers Schmerzen haben zu verspannter Muskulatur geführt, die wiederum das Einklemmungssyndrom fördert.

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„Acht von zehn Reiterproblemen lassen sich mit Sport- und Physiotherapie in der Griff bekommen.“

Akupunktur sei jedoch nur eine Ergänzung der Therapie. „Der Großteil der Arbeit kommt erst noch – wenn sich die Sport- und Physiotherapeuten ans Werk machen.“ Einmal pro Woche soll Meike Sellmer wiederkommen, um ihre Schulterblattmuskulatur mit gezielten Übungen zu kräftigen. „Die Trainer arbeiten mit ihr am eigentlichen Problem – dem muskulären Ungleichgewicht“, so Schmidt.

Bei den meisten Reiter-Leiden hilft Physio

Acht von zehn Reiter-Problemen, sagt Schmidt, ließen sich mit Sport- und Physiotherapie in den Griff bekommen. Auch das von Meike Sellmer, da ist die Ärztin überzeugt: „Sie ist super-sportlich und kriegt das sicher hin. Mit dem Training löst sich die Schonhaltung nach und nach auf und in sechs bis neun Monaten ist das Problem behoben.“ Zufrieden zieht die Orthopädin die Akupunkturnadeln aus der schmerzenden Schulter.

Zum Glück verstärke Stute Lavinia das Schulterproblem ihrer Besitzerin nicht noch, so Schmidt: „Mit einem Pferd, bei dem der Reiter viel halten muss, würden sich die Schmerzen verschlimmern.“ Den Sattel solle Sellmer einmal überprüfen: Ist er gleich gepolstert, sind die Bügel gleich lang? Falls nicht, kann auch das zu Fehlhaltungen beim Reiter und in der Folge zu Schmerzen führen. Meike Sellmer ist froh, dass sie ihre Stute trotz Beschwerden weiter reiten kann. Sie verlässt das Athleticum mit dem guten Gefühl, selbst etwas gegen ihre Schmerzen tun zu können. „Wenn man mit einem Problem auf dem Pferd nicht weiterkommt“, sagt Ärztin Julia Schmidt, „kann sich ein Besuch bei uns lohnen. Die Reiter sollen wissen: Hier kann ich hingehen und werde in meinem Sport verstanden.“

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Orthopädin Julia Schmidt zeigt der Patientin in einem Flyer zur Reitersprechstunde des Uniklinikums, welche Übungen ihr gegen ihre Schulterschmerzen helfen können.

Rücken, Beine, Becken: Die häufigsten Beschwerden in der Reitersprechstunde

Rückenschmerzen: Obwohl Reiten zur Vorbeugung von Rückenproblemen empfohlen wird, haben Studien zufolge fast drei Viertel aller Reiter manchmal Rückenschmerzen. Rückenschmerzen sind in der Bevölkerung ohnehin verbreitet, kommen jedoch bei Reitern öfter vor als bei Nicht-Reitern. Vor allem im ausgesessenen Trab ist die Belastung für die Wirbelsäule enorm. Ein Zusammenhang zwischen den Rückenschmerzen und der Reitsportintensität oder -disziplin ließ sich dennoch nicht feststellen.

Adduktoren-Probleme: Ohne die Adduktoren,
also die inneren Beinmuskeln, wäre Reiten schwierig. Weil diese Muskeln im Alltag sonst wenig im Einsatz sind, 
sind sie bei den meisten Menschen nicht besonders kräftig. Wer viel reitet, muss mit Überlastungserscheinungen und Verspannungen rechnen, die sogar den Beckenboden beeinflussen können. Von Adduktorenbeschwerden sind besonders häufig Profis betroffen.

Sturzfolgen: Statistisch gesehen passiert bei jedem Tausendsten Ritt ein Unfall. Je nachdem, welche Studie man betrachtet, sind bis zu 34 Prozent der Reitverletzungen Schädelverletzungen, bis zu 17 Prozent Schäden an der Wirbelsäule. Bei Jockeys sind 64 Prozent aller Verletzungen Knochenbrüche. Viele Reiter haben noch Monate nach Stürzen und traumatischen Verletzungen beim Reiten Schmerzen und Probleme. Ursachen können beispielsweise Blockaden an Rücken oder Becken sein.

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Maike Klein
Magnetfeldtherapie soll den Schmerz in der Schulter von Patientin Meike Sellmer lindern.

Übungen im Sattel

Unter dem Namen „Athletisch im Sattel“ haben die Ärzte und Trainer des Athleticums Übungen speziell
für Reiter zusammengestellt. Wir erklären exemplarisch drei, die Sie auf dem Pferd machen können – beim Warm- oder Trockenreiten im Schritt. Die Zügel muss der Reiter dafür nicht aus der Hand nehmen.

Kräftigung Rumpf- und Rückenmuskulatur: Richten Sie sich im Rücken auf und machen Sie sich groß. Dadurch vergrößert sich die Krümmung der unteren Wirbelsäule und das Becken kippt nach vorn. Fünf Sekunden halten, dann einen runden Buckel machen, wobei das Becken wieder nach hinten kippen sollte. Wieder fünf Sekunden halten und beide Positionen noch viermal wiederholen.

Kräftigung Schulter- und Nackenmuskulatur: Sie sitzen aufrecht auf dem Pferd und ziehen beide Schulterblätter gleichmäßig nach hinten zusammen. Die Schultern bleiben locker hängen. Endposition zehn Sekunden lang halten, dann wieder entspannen. Fünf Wiederholungen. Tipp: Als Hilfsmittel können Sie Ihre Gerte waagerecht hinter den Rücken führen und rechts und links mit den Armbeugen fixieren.

Dehnung Schulter- und Nackenmuskulatur: Sitzen Sie aufrecht und neigen Sie den Kopf locker nach rechts. Gleichzeitig die linke Schulter langsam und gleichmäßig zehn Sekunden lang von vorn nach hinten kreisen. Machen Sie das auf beiden Seiten fünfmal.

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Maike Klein
Ärztin Schmidt zeigt CAVALLO-Autorin Sina Horsthemke die Geräte für die Reiter-Fitness.
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4 / 2023

Erscheinungsdatum 15.03.2023