Überzüchtung? Die Debatte um die moderne Pferdezucht.

Risiken der heutigen Pferdezucht
Züchten wir kranke Pferde?

Zuletzt aktualisiert am 26.05.2025
Thoroughbred Stallion Horse standing majestically in rural scene.
Foto: Moment RF

Kranke Pferde: Der Züchter war’s?

Er hat aus stabilen, gesunden, langlebigen Pferden solche gemacht, die (viel zu) elastisch, mobil, ganggewaltig sind. Was die Pferdekörper aber auf Dauer überstrapaziert, sogar ihre Statik und Biomechanik verändert und nicht mehr so belastbar macht. Die Folgen: Platin-Kundenkarte beim Tierarzt, aufwändiges Haltungs- und Fütterungsmanagement – oder früheste Frührente. Dieser Eindruck drängt sich zumindest auf, wenn man sich im analogen wie digitalen Reiterstübchen oder bei Kritikern der heutigen Warmblutzucht umhört. Ist das so einfach? Und wenn ja, was läuft schief, liegt’s nur an der Zucht, und vor allem: wie ließe sich gegensteuern?

Damit klarer wird, wo wir mit unseren heutigen Pferden stehen, hilft ein Blick zurück. Zwar begleiten uns Pferde schon seit Tausenden von Jahren. Der Beginn der modernen, gezielten Zucht ist aber noch nicht so lange her und lässt sich ziemlich genau bestimmen: Vor etwa 200 Jahren, rekonstruierten Wissenschaftler um Prof. Ludovic Orlando (Universität Kopenhagen, 2019), nahm die genetische Vielfalt unserer Hauspferde deutlich ab; der Beginn unserer heutigen Zucht, die sich auf die stärksten, schnellsten, besten Pferde konzentrierte.

Für das ideale Pferd nahmen die damaligen Züchter lange Wege auf sich – und gingen neue, weiß Dr. Astrid von Velsen-Zerweck, Landoberstallmeisterin und Leiterin des Haupt- und Landgestüts Marbach/Baden-Württemberg. Ende des 19. Jahrhunderts, erzählt die Gestütschefin, gab es zum Beispiel unter König Wilhelm I. von Württemberg Bemühungen, ein neues Pferd für alle Nutzergruppen – Reiterei, Landwirtschaft, Militär und Transportwesen – zu züchten. Dafür importierten die Landoberstallmeister jener Zeit aus Ostpreußen, Holstein und Oldenburg, von den britischen Inseln, aus der Normandie und von der arabischen Halbinsel und stellten Züchtungsversuche an. Nach sorgfältiger Leistungsprüfung entwickelte man für die Gegebenheiten in Württemberg eine neue Rasse aus Anglo-Normannen, Ostpreußen und einem Schuss arabischen Bluts. Fertig war er, der Württemberger.

Die Privatisierung hat Folgen für die Zucht moderner Pferde

Die Anpassung der Zucht an sich verändernde Zuchtziele ziehe sich durch deren Geschichte, sagt Dr. Astrid von Velsen-Zerweck. Allerdings waren die Rahmenbedingungen andere als heute. Gute Zuchttiere sehen? War nur auf (über-)regionalen Zuchtschauen oder vor Ort in den Gestüten möglich. Hengste für die Stute kriegen? Da gab’s nur die, die auf dem nächstgelegenen Landgestüt und dessen Deckstationen zur Bedeckung zur Verfügung standen. Denn bis in die 1970er-Jahre waren die Zuchthengste vornehmlich in staatlicher Hand.

CAVALLO Moderne Pferdezucht
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Mittlerweile ist die Zucht spezieller geworden, gliedert sich in dressur- oder springbetonte Linien. Die Deckhengsthaltung liegt in den Händen von privaten Henststationen und nur noch wenigen staatlich geführten Landgestüten. Auch das früher sehr strenge und umfassende Leistungsprüfungswesen hat sich gewandelt: Mussten die Hengste früher Prüfungen in Dressur, Springen und im Gelände bestehen, werden sie heute in den Hengstleistungsprüfungen schon früh spezialisiert und nach Disziplinen geprüft. Der Testzeitraum hat sich verkürzt, "weil viele Hengsthalter ihre wertvollen Tiere nur ungern aus der Hand geben", berichtet Dr. von Velsen-Zerweck aus der Praxis. Dabei ist es notwendig für eine gute Zucht, dass die Väter zukünftiger Pferdegenerationen bereits zu Beginn des Zuchteinsatzes sorgfältig geprüft werden.

Gezüchtet wird früh – und oft auf gut Glück

Das gilt auch für die ersten Nachkommenjahrgänge der jungen Vererber. "Kommissionen und Zuchtleiter haben früher anhand der Bewertung der ersten Jahrgänge junger Hengste über deren weiteren Zuchteinsatz entschieden", so Dr. Astrid von Velsen-Zerweck. Eine solche züchterische "Qualitätskontrolle" wird heute weitgehend dem Markt überlassen. Mit der Folge, dass in einigen Fällen erst spät erkannt wird, welche gefragten Vererber neben erwünschten auch negative Eigenschaften weitergeben.

Stattdessen decken gekörte Hengste oft genug vor ihrer Leistungsprüfung, gerade mal dreijährig, per Spermaversand oft Stuten im dreistelligen Bereich. Ob sie belastbar sind, charakterfest, gesund bleiben? Ein Schuss ins Blaue, der auch daneben gehen kann. "Früher gab es sogenannte Stempelhengste, die mit einem hohen Prozentsatz Qualität vererbten. Seit über 30 Jahren ist aber kein bedeutender Hengst mehr im Einsatz. Heute geht der Trend zum jungen Star am Dressurhimmel, der kurz aufglüht und schnell wieder in der Versenkung verschwindet", kritisiert Züchterin und Buchautorin Barbara Schulte ("Vom Fluchttier zum Designerpferd").

Solche neuen Stars erscheinen jährlich ab Herbst, wenn die Zuchtverbände Junghengste kören. Da traben dann Dreijährige über den Boden des Vorführrings, als gebe es kein Morgen. Etliche von ihnen gehen meistbietend auf den sich oft nahtlos anschließenden Auktionen des jeweiligen Zuchtverbands an neue Besitzer. Auf diesen Körungen und Auktionen findet man derzeit vor allem möglichst bewegungsstarke, langbeinige und schmale Pferde. Was sich positiv anhört, wird mittlerweile von verschiedenen Stellen kritisiert, weil gesundheitliche Probleme der Pferde die Folge sein können. "Wir müssen darauf achten, dass die Stabilität der Pferde nicht dem Wunsch nach übermäßiger Elastizität und Mechanik geopfert wird", sagt Dr. von Velsen-Zerweck.

In diesem Zusammenhang wird aktuell etwa über das Krankheitsbild ECVM diskutiert, bei dem angeborene Veränderungen im Bereich der letzten beiden Halswirbel und ersten beiden Rippenpaaren vorliegen.

Autorin Barbara Schulte kritisiert zudem, dass seit dem Jahrtausendwechsel gezielt ein "Bergaufmodell" mit längeren Röhrbeinen kreiert wurde: Optisch sieht die Rückenlinie abfallend aus, was Versammlungsfähigkeit suggeriert. Auf die Statik, Balance des Pferds hat das ebenfalls Einfluss. Auch die Fesseln sind bei heutigen Pferden oft länger, sagt Prof. Dr. Christine Aurich, Leiterin der Abteilung Besamung und Embryotransfer der Vet-Med Uni Wien: "Gepaart mit einer enormen Bewegungsaktivität werden dann Gelenke, Bandapparat und Sehnen massiv belastet. Das heißt, solche Pferde werden schneller verschleißen und ihre sportliche Einsetzbarkeit wird eingeschränkt."

Steuert die Zucht auf eine Schadgenetik zu?

Tierärztin Dr. Katharina Ros, die sich eingehend mit ECVM beschäftigt, vergleicht moderne Pferde in einem nahezu hunderttausendfach geklickten Youtube-Video im Hinblick auf Ganggewaltigkeit und Fundament mit einem "Lamborghini auf einem Polo-Fahrwerk". Sie spricht gar von "Schadgenetiken", die sich in modernen Pferden aufsummieren und die Zucht gefährden. Ob Gendefekte heute tatsächlich häufiger auftreten als in der früheren Zucht, da wäre Prof. Aurich vorsichtig. "Viele Pferde-Krankheiten sind vermutlich schon sehr lange da, wir konnten sie aber nicht diagnostizieren, weil wir die entsprechende Technik nicht hatten", erklärt die Zuchtexpertin.

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Sie kritisiert die aktuelle Zuchtmode aus zwei Gründen: "Wie viele hochklassige Sportpferde brauchen wir denn? Wir wollen die Pferde doch auch reiten können." Dazu kommt, dass man automatisch den Genpool verenge, wenn man auf bestimmte Merkmale züchte wie etwa hoch angesetzte Hälse oder Sprunggelenke. "Eine klare Selektion führt in vielen Fällen unwiederbringlich auch zu Problemen oder Nachteilen."

Ist’s also doch der Züchter, der ohne Rücksicht auf die gesundheitlichen Folgen ein möglichst spektakuläres Pferd im Fokus hat? Dass der ein oder andere Züchter mehr die Vermarktung als die gesunde Selektion im Fokus habe, könne durchaus passieren, beobachtet Dr. Astrid von Velsen-Zerweck, ergänzt aber: "Es wäre sehr kurz gedacht und sehr unfair, alles auf die Züchter zu schieben. Wir alle haben für viele Jahre diese Zuchtfortschritte honoriert." Denn "der Markt", so die Gestütsleiterin weiter, möchte eben derzeit langbeinige, elastische, bewegliche, leichtrittige Pferde. Der Markt, das heißt: einerseits die Reiter, denen solche Pferde gefallen und die sich damit vordere Plätze in Turnierprüfungen erhoffen – und andererseits die Richter, die Vorstellungen solcher vierbeinigen Tänzer in Dressurprüfungen eben oft mit höheren Bewertungen goutieren.

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Die Pferde sind gut – Die Reiter nicht immer

Kommen Reiter mit so einem Pferd nicht klar, sei das Problem nicht immer unterm, sondern teils im Sattel, wird Dr. von Velsen-Zerweck deutlich: "Wir haben sicher einige Probleme zu lösen in der Zucht, aber wir haben auch wunderbare Reitpferde, die es ihrem Reiter recht machen wollen. Doch viele Reiter sind oft nicht bereit, sich so in ihrer eigenen Ausbildung anzustrengen, dass sie diesen tollen Tieren gerecht werden. Der Wille, sich selbst im täglichen, disziplinierten Reiten auszubilden, hat sehr abgenommen." Dann werde vorschnell unter anderem auf "die Züchter" gezeigt.

Natürlich kann nicht jeder Reiter mit einem vierbeinigen Lamborghini klarkommen. Andererseits, um bei der Sprache zu bleiben, darf auch der Motor nicht dermaßen hochgetunt sein, dass das Gefährt nach wenigen Kilometern auf der Strecke bleibt. Sprich: die Pferdegesundheit auf Kosten des Spektakels leidet.

Und was ist mit uns Freizeitreitern, die "nur" einen verlässlichen, vierbeinigen Partner für unser Hobby suchen? Da könnten wir mit der Nachfrage durchaus etwas bewegen, meint Dr. Astrid von Velsen-Zerweck. "Lässt der Kunde das Bewegungswunder stehen und nimmt das etwas kurzbeinigere, weniger spektakuläre Pferd, dann werden die Züchter früher oder später darauf reagieren." Auch Prof. Aurich ist sich sicher: "Diese Ganggewaltigkeit ist derzeit ein Trend. Hoffen wir, dass der bald wieder vorbei geht."

ECVM könnte erblich sein

Knapp zwei Jahre ist es her, dass die Erkrankung Equine Complex Vertebral Malformation (ECVM) erstmals Wellen schlug. Dahinter verbergen sich angeborene Formveränderungen der letzten beiden Halswirbel (C6 und C7) sowie der ersten und zweiten Rippen: Ein Teil der knöchernen Strukturen ist missgebildet, fehlt teils oder vollständig. Als Symptome gelten oft Gleichgewichtsprobleme; manche Tiere stürzen aus dem Nichts heraus, sagte Tierärztin Dr. Katharina Ros, die sich intensiv mit ECVM befasste. Ob sich ECVM vererbt, war umstritten.

Nun kamen Forscher (darunter auch Dr. Ros) hier einen Schritt weiter: Sie untersuchten die historischen Skelette von fünf, für die Warm- und Vollblutzucht bedeutenden Hengsten. Bei drei dieser Hengste – Dark Ronald, Der Loewe und Birkhahn, allesamt englische Vollblüter – fanden die Studienautoren (Zimmermann, Ros, Pfarrer und Distl) Fehlbildungen an den Halswirbeln C6 und/oder C7.

Die Autoren machten anschließend 20 Nachkommen dieser Hengste ausfindig; zehn von ihnen hatten ebenfalls Anomalien an der Halswirbelsäule, die übrigen zehn waren radiologisch unauffällig. Fazit der Studienautoren: Die Fehlbildungen könnten unterschiedlich ausfallen; generell könnte die Studie jedoch Hinweise auf eine Vererbung von ECVM liefern.

Von der Körung bis zum Fohlennachmwuchs

Bevor ein Warmbluthengst in Deutschland Papa werden darf, braucht er erstmal eine Reihe an Dokumenten. Zuerst stellt der Zuchtverband die Zuchtbescheinigung aus; sie weist die Abstammung des Hengstes nach. Damit kann der Züchter seinen Hengst ins Zuchtbuch eintragen; das ist möglich, sobald der Hengst drei Jahre alt ist.

Soll mit einem Hengst gezüchtet werden, muss er verpflichtend gekört werden. Heißt: Er bekommt von seinem Zuchtverband die Bestätigung, dass er Nachwuchs zeugen darf. Dafür muss der Hengst mindestens zwei Jahre alt sein, an einer Hengstvorauswahl teilnehmen (die dann entscheidet, ob er zur Körung zugelassen wird) und darf keine gesundheitlichen Mängel haben. Letzteres wird im Rahmen einer Köruntersuchung festgestellt. Je nach Verband kommen weitere Voraussetzungen hinzu.

Nach der Körung folgt eine Hengstleistungsprüfung. Koordiniert werden die für Reitpferde aus deutschen Zuchten über die Deutsche Reiterliche Vereinigung (FN). Die Hengste können in drei unterschiedlichen Prüfungen getestet werden: der Veranlagungsprüfung (14 Tage, drei- und vierjährige gekörte wie nicht-gekörte Hengste, mit Fokus auf Grundgangarten, Freispringen und Rittigkeit), der Hengstleistungsprüfung (50 Tage, drei- bis siebenjährige, gekörte und nicht-gekörte Hengste, Anforderungen alters- bzw. disziplinspezifisch) und den Sportprüfungen (dreitägig, vier- und fünfjährige gekörte Hengste in Dressur, Springen und Vielseitigkeit). Die Prüfungen für Ponys, Kleinpferde und sonstige Rassen übernehmen die jeweiligen Zuchtverbände.